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Miezi findet, daß eine Apotheke führen kein Spaß ist. – Von wartenden Leuten, »Bärendreck« und Handverkauf. – Wie Rico die »Warum« im Leben ansieht. – Peppina schreibt von einem kleinen Köfferchen, und daß Tante Gigina ausrief: » Per carità!« – Ricos Leiden und Zwiespalt. – »Warum, ach warum keine Nachricht?« – Von »Marsalawein« und einer Zeitungsnachricht, und wie Hans sagt: »Allein bist du nie, mein Ricomännle!« – Ein gelbes Kanarienvögelein und ein einsamer Mann im Süden. – »Bitte, kommen Sie auf mein Zimmer!« – Warum Peppina Onkels Brief auf ihrem Herzen trägt und entrüstet über getragene Kleider ist.
Und des »Fräul'n Miezis« nächtliche Schinderei, wie Rike es nach wie vor nannte, trug nun doch sehr gute Früchte. Seit Mutter wieder da war, stand der Nachmittag ganz zu Vaters Verfügung. Näh- und Klavierunterricht waren freilich schon seit Monaten vernachlässigt worden, aber wer ging jetzt nicht den nächsten Pflichten nach und ließ das andere liegen? Jetzt konnte der Vater frei über sein Kind verfügen, das nicht jeden Augenblick abgerufen wurde. Bald durfte er auch Miezi etwas Wichtigeres überlassen, als Medizinfläschchen einzuwickeln und Pülverlein zu sortieren. Das machte jetzt der Christian, aber Miezi hatte bald unter Vaters Anleitung den Inhalt der vielen Schubladen kennen gelernt. Darin befanden sich, meist dem Alphabet nach geordnet, Fläschchen, deren großenteils lateinische Inschriften sie bald lesen und verstehen konnte. Drinnen im Laboratorium sah es fast wie in einer Küche aus, aber doch wieder ganz anders, denn Feuerung, Gefäße, Dampfverhältnisse usw. mußten erst zum Gebrauch studiert werden. Aber Miezi zeigte Geschick dazu, und der Vater konnte ihr vieles überlassen. Vieles natürlich auch nicht, und Vater gab manches nicht aus der Hand. Da war vor allem ein Schränkchen, in dem sich die »Gifte« befanden, die vorderhand auch vor Miezi verschlossen waren. Ein Vergreifen hätte leicht schlimme, sogar tödliche Folgen haben können. Zur Vorsicht trugen diese Kölbchen weiße Aufschriften auf schwarzem Grund, im Gegensatz zu allen andern Medikamenten, die weiße Etiketten mit schwarzer Schrift hatten. Der Giftschrank hätte übrigens keinen Verschluß gebraucht, wenigstens nicht vor Miezi, die einen heiligen Respekt davor hatte. Am meisten gab's in der Apotheke zu tun, wenn Leute kamen mit einem Rezept, das bei gefährlichen Fällen einer sofortigen Ausführung bedurfte. Das übernahm natürlich der Vater, während Miezi die oft in größter Angst Harrenden zu beruhigen und zu unterhalten hatte.
In wieviel Sorgen und Angst sah sie da hinein, von wieviel Elend, von dem sie seither keinen Begriff hatte, erfuhr sie da. Wenn, wie so oft, Kinder die Rezepte überbrachten, durfte sie ihnen zu ihrer Freude ein »Wartegutsle« geben. Hauptsächlich den vielbegehrten »Bärendreck«, wie in Schwaben der Süßholzsaft heißt, oder auch ein Pfefferminz- oder Husten- oder auch ein Eisbonbon. Währte es sehr lange, so gab es ein Stück Süßholz, dessen gründliches Kauen die Zeit vertrieb, ebenso wie das bei Onkel Heinrich in so guter Erinnerung stehende Johannisbrot. Aber auch Erwachsene holten sich in der Apotheke irgendein Linderungsmittel für Zahnweh, Leibweh und besonders auch für Kopfweh. Und bei all diesen Leiden wußte Miezi schon recht guten Rat, und vielen tat es schon allein gut, in das teilnahmsvolle, liebe, jugendliche Gesicht zu sehen und ihre Beschwerden klagen zu können. Mancher armen Frau, der Flecke zum Verbinden, Wäsche zum Wechseln bei ihren kranken Kindern oder ein Stärkungsmittel nach schwerer Krankheit fehlten, durfte Miezi durch Mutters Güte helfen. Mehr und mehr erstarkte der Gedanke in ihr, Vaters Beruf sei doch der schönste, und sie verstand nun so gut Onkel Heinrichs Ausspruch damals: »Der köstlichste Geruch ist doch der von einer Apotheke!« Gerne kamen, wenn sie dort beschäftigt war, auch Inge und Putzi herbei, besonders, wenn am Samstag die allwöchentliche große Reinigung der Schubladen vorgenommen wurde. Inge half gerne beim Abwischen und Putzen, das war von jeher ihre Freude. Und wenn sie, mit einer Schürze angetan, die Schubladen umkehrte und nachher dem Christian half, die Marmortische abzuwaschen oder die feine Wage blank zu putzen, da war sie in ihrem Element. Träufelte ihr nachher Miezi ein paar Tropfen wohlriechenden Wassers auf ihr Taschentuch, oder gab's beim Wiedereinräumen etliche Stückchen zerbrochener Schokolade, so wurde das sehr gerne angenommen, besonders aber auch von Putzi, der sich überhaupt gerne dazu gesellte. Mit Schokolade wäre einmal beinahe etwas recht Schlimmes passiert.
Es gibt auch Schokolade, die weich und glänzend aussieht, wie die wirkliche, aber einem anderen Zwecke dient. Sie soll Kindern, die sich weigern, ein anderes Mittel gegen unwillkommene innere Gäste einzunehmen, die Arznei versüßen. Die Kinder hatten eigentlich ein unwillkürliches Grauen vor solcher Art Schokolade. Aber es war eine neue Sendung angekommen, die nicht die Zeltchenform, sondern die der üblichen Schokoladetäfelchen hatte. Davon waren nun unterwegs viele zerbrochen, und Miezi gestattete den beiden Geschwistern, nach Herzenslust von den herumliegenden Stückchen zu essen, und sie taten es auch mit Wonne. Von den Folgen aber – davon laßt mich schweigen. Sie gingen weit über die sonst üblichen ärztlichen Wirkungsabsichten hinaus, und der Vater war recht froh, als die beiden Kleinen mit ein paar Tagen tüchtigen Leibwehs und Übelseins davon kamen. Miezi war's aber schrecklich, daß dies unter ihrer Leitung geschehen war. Und bei aller Freude an ihrer Arbeit stieg doch dann und wann die Furcht in ihr auf, es könne ihr einmal irgend ein Versehen oder etwas wirklich Ungeschicktes passieren.
Von Tübingen lauteten die Nachrichten besser und besser. Die Eltern waren schon ein paarmal dort gewesen und waren glücklich über die wenn auch langsamen Fortschritte, die Hans machte. Unter Ricos rührender Pflege und an der Hand von tüchtigen Ärzten war Hansens Besserung nur noch eine Frage der Zeit, wozu aber viel Geduld gehörte. Die Verletzung am Fuß war nahe am Heilen, erforderte aber noch längeres Liegen. Was die Nerven anbelangte, so war Rico der Richtige dazu, den Freund wieder auf andere Gedanken zu bringen. Nicht, daß er ihm irgendwie verboten hätte, von seinen Erlebnissen zu reden, im Gegenteil, er ließ ihn davon sprechen, wie es ihn dazu trieb. Er fragte nicht, aber er hörte zu, als er fühlte, daß dies Hans wohltat. Merkte er aber, daß das Reden irgendwie den Kranken erregte, so hatte der liebe, stille Mensch eine gar wundersame Art, das Zuviel zu beschwichtigen. Dann erzählte er ihm von allerlei lichten Tagesereignissen, überraschte ihn mit irgend etwas Gutem oder brachte ihm Blumen, die Hans ja von klein auf so liebte. Und er sprach mit ihm von den einstigen gemeinsamen Spaziergängen und Spielen, was besonders beruhigend wirkte. Kamen aber über seinen Pflegebefohlenen öfters wieder Ängste und hauptsächlich auch Zweifel und Warumfragen über all das Unbegreifliche, was jetzt in der Welt geschah, so hatte Rico, der ja weit über sein Alter hinaus von jeher grübelte und dachte, die beste Art, ihn wieder zu beruhigen:
»Warum läßt Gott all das Schreckliche um uns herum oder mit uns selber geschehen?« war Hansens immer wiederkehrende Frage, und Rico sagte: »Wir wissen es nicht, und je mehr wir's ergründen wollen, desto wirrer wird uns der Kopf. Aber ich glaube an einen Gott, der unser Vater ist. Wie ein Vater, der seine Kinder liebt und nur das Beste mit ihnen will, so halte ich mich fest an diesen Glauben und fühle, daß es der einzig richtige ist, weil er uns einen Halt gibt. Denk daran, wie Putzi einstens wütend war, als Vater ihm das glücklich erwischte Messer entriß, mit dem er gerade vor dem Gesichtchen meiner süßen Angela herumfuchtelte.
›Vater ist bös!‹ höre ich ihn noch sagen, und tagelang hat der kleine Kerl mit ihm getrotzt. Lange war mir's interessant, dies zu beobachten und mir auszudenken, was in solch eines Kindes Herzen vor sich geht, bis es den geliebten Vater böse findet. Mein Endresultat war: der große Herr, der Vater und Schöpfer Himmels und der Erden, kann uns dummen, kleinen Menschenkindern noch nicht seine Handlungsweise erklären. Wir halten ihn für ›böse‹, weil er uns unser Liebstes wegnimmt und uns Aufgaben gibt, die wir nicht lösen zu können vermeinen. Weißt du, Hans, so geht's mir jetzt mit dem Schicksal der Meinigen, von denen ich nichts weiß und über die ich mich ängstige. Da werde ich nur damit fertig, wenn ich mir nach allem inneren Absorgen sage, es ist der mächtige, liebende Vater, der zuläßt, was wir nicht verstehen können, weil wir noch Kinder sind! Ich bin als Junge einmal lang krank gelegen und habe viel darüber nachgedacht und mich gefürchtet, da hat eine liebe Pflegeschwester mir gesagt: ›Nimm einmal recht fest die Hand unseres himmlischen Vaters, dann hilft er tragen und schenkt dir wieder, wenn auch nicht vielleicht Gesundheit, so doch Ruhe,‹ was mein Hanselmännle ja auch schon erlebt und erprobt hat!«
Diese Hand des unsichtbaren Gottes aber auch im eigenen Schweren, was über ihn kam, gläubig zu erfassen, diese Aufgabe sollte Rico in allernächster Zeit gestellt werden.
Karl Neumeyer hatte wochenlang vergeblich versucht, irgend etwas über seinen Bruder und dessen Familie zu erfahren. Es war ihm gesagt worden, nur durch die Schweiz könne man Briefe erhalten, und er hatte diesen Weg verschiedene Mal ohne Erfolg versucht. Da trat eines Morgens Rike in das Frühstückszimmer, und sie brachte etwas Zerknittertes in der Hand.
»Da habe ich was bekommen durch die Post, was schwer zu lesen ist. Es sieht aus, als wär's aus Italien, und Minele meinte, es sei ein Brief von der Peppina. Ordentlich schreiben hat ja die nie können, aber der Herr Neumeyer sind wohl so gut, mir's zu entziffern.« Hastig griff dieser nach dem beschmutzten Umschlag, aus dem zerknitterten Papier drinnen hoffte er ja, nun endlich einmal eine Nachricht von den Seinen zu erhalten. Aber es war eine recht beunruhigende Nachricht, die er nach längerem Studieren aus dem mit vielen italienischen Wörtern vermengten Zettel herauslas:
»Cara Signora Riege und Minele!
Wie geht es Euch? Mich gut, aber meine Herrschaft nicht. Nun ist die häßliche Krieg auch bei uns. Paolo, Michele und Francesko mußten auch fort. Meine Mutter und ich waren verzweifelt. Die barche liegen da, niemand fährt und niemand singt, und das ist traurig. Ein Fisch kostet jetzt ein Vermögen. Ich denke oft an Eure guten Braten und Kuchen und möchte haben davon …«
»Hat sich was mit guten Kuchen und Fleisch!« brummte Rike dazwischen, und Herr Neumeyer fuhr fort:
»Viele Herren vom Geschäft mußten auch fort, und es ist geschlossen, – kein Rauch im Kamin und keine Sirene. Unser Signore saß am Schreibtisch und schrieb und schrieb. Wir schliefen, da klopfte es an das Tor, und es kamen Herren von die Municipio, und alles wachte auf, auch meine Signora und Angela, und ich nahm sie auf den Arm, weil sie schrie, und sie sagten: Presto, presto! Und wir mußte packen, Kleider und Wäsche, aber nicht den neuen Anzug, kariert, und die Lackstiefel – nur ganz wenig, sagten die Herren –, sie waren nicht lieb, und meine Signora schrie: › Per carità, er braucht's doch!‹ Aber es war nur ein kleines Köfferchen, das er selber trug, unser povero Signore, und wir schrien alle, auch Freunde, die kamen, und am meisten Angela: ›Ihr seid bös, und das ist babbo mio.‹ Die Signora aber bekam ihr Herz, und bis ich sie einrieb und medicina gab, war unser Signore fort. Was er vorher geschrieben hatte, das war ein Brief an seine Frau, wo er sagt, wir sollen gleich in die Schweiz reisen zu den Damen Stadelmann. Aber wir sind nicht hin, weil die Signora jeden Tag hat Krämpfe und weil reisen über das Grenze jetzt nicht erlaubt ist. Angela, unser Süßes, ruft beständig nach ihrem babbo und schimpft auf die bösen Leute, die ihn genommen.
Ich schreibe an Ihnen zwei, weil ich nicht in eine so gute Schule war, wie Signorina Miezi. Jetzt können Sie ja erzählen aus mein Brief, was Sie wollen. Es grüßt Sie alle, und auch den netten Jakobo in der Apotheke
Peppina.
Ob mein Brief ankommt zu Euch? Der Briefträger schüttelt mit das Kopf, aber vielleicht über das Schweiz.«
Erschüttert hörten die Neumeyerischen diesen Bericht, der trotz aller Mangelhaftigkeit doch gerade genug zum Erschrecken enthielt. Und Mutter entschloß sich, sofort mit dem Brief nach Tübingen zu reisen, um ihn Rico mitzuteilen. Der arme Junge war ja in steter Angst um die Seinigen, die nicht geringer wurde, als er Peppinas Brief gelesen hatte, aber man sah nun doch wenigstens klarer, was immer gut ist. Was man befürchtet hatte, wußte er nun gewiß: der Vater war interniert.
In einem Auskunftsbüro erfuhr Rico, daß es verschiedene Konzentrationslager gäbe, wo die Ausländer, die sich in Italien aufhielten, hingeführt und dort sichergestellt wurden. In welchem dieser Lager, die sich im Innern von Sizilien befanden, der Vater war, mußte erst ermittelt werden.
Und was war aber inzwischen mit der kranken Mutter geworden, der lieben, aber so gänzlich unpraktischen und unselbständigen Mammina? Hatte sie in ihrem Hause bleiben dürfen, oder war sie inzwischen in die Schweiz gereist? Ein Telegramm, das Tante Maria mit Rico aufsetzte, erhielt bald eine Rückantwort von den Damen Stadelmann:
»Wissen leider nichts von Ihrer Mutter, als Italienerin wird sie wohl bleiben dürfen, ist aber jederzeit bei uns willkommen.«
Diese Liebenswürdigkeit war der einzige, kleine Trost, der Rico blieb, und er hoffte von Tag zu Tag, von Luzern die Nachricht zu erhalten, daß seine Lieben dort angekommen wären. Aber es vergingen Wochen, ohne daß diese Hoffnung sich erfüllte. Direkte Briefe nach Neapel wurden nicht angenommen, und auch von dort her nicht nach Deutschland befördert. So konnte auch der Vater nicht schreiben, und es war qualvoll für alle, in dieser Ungewißheit zu bleiben.
Am meisten litt Rico darunter, und er durfte sich nicht einmal zuviel anmerken lassen, weil Hans doch immer noch geschont werden sollte. Seine Nerven hatten sich bei dem ruhigen Leben, das er in der Klinik führte, und unter Ricos treuer Pflege mehr und mehr beruhigt, und auch der Fuß heilte nach Wunsch. Aber nun er wieder denken konnte, fingen die Gedanken an die Zukunft an, ihn zu quälen, und wenn auch der Arzt entschieden den Kopf schüttelte, wenn Hans seine Wünsche laut werden ließ: »So weit sind wir noch lange nicht,« beschwichtigte er. Aber er freute sich, daß sich mit der wiederkehrenden Kraft Hansens ganze Natur sehnte, nicht lange mehr müßig sein zu müssen, sondern wieder handeln und dem Vaterlande helfen zu dürfen. Es lagen noch mehrere verwundete und kranke junge Offiziere in seinem Saal, die denselben Wunsch hatten, umsomehr, als die Nachrichten von draußen ja leider nicht gut klangen. Es waren nun fünfundzwanzig Feinde, die das Vaterland angegriffen hatten. Seit Hans mitunter aufstehen und bei gutem Wetter auch in den Garten gehen durfte, war Rico freier, und niemand fragte danach, wenn der junge, stille Mann den Lazarettdienst auf einige Stunden verließ, um da und dort eine Vorlesung zu besuchen. Die Behörden kannten ihn jetzt, und niemand beanstandete sein Hiersein, da er sich aufs gewissenhafteste an den dazu bestimmten Tagen meldete. Es war ja an sich nichts Schlimmes, aber Rico fühlte sich dabei im tiefsten Herzen doch immerhin wie ein Gefangener, ein nicht Hierhergehöriger und nur Geduldeter, und dabei litt er namenlos unter den Reden, die er hören mußte von den »treulosen Italienern«. Und dabei konnte er nicht einmal widersprechen, und sein armes, so heiß fühlendes Herz war in stetem Zwiespalt, den er auch dem Freunde gegenüber, er mochte noch so sehr an sich halten, manchmal äußerte. Ach, warum konnte er nicht losziehen oder losfahren über die Schweizerberge in sein Land und nach den Seinen sehen? Warum, ach warum kam keine Nachricht von dort? Wohl gab es ja noch viele, die in der gleichen Lage waren und keine Briefe erhielten. Jeder hatte eben sein eigenes Leid zu tragen und damit fertig zu werden, und warum? hieß es auch hier. Und dieses Warum sollte noch heftiger werden, so schwer, daß die nach Wahrheit und nach Trost suchende Seele Ricos fast darunter erlag.
Eines Mittags, als er hungrig von einem Kolleg zurückkam, freute er sich auf sein Mittagessen, das er in einer Kneipe einnahm, in der sich auch noch einige andere Studenten, die noch hier waren, einfanden. Trotzdem es nur Rüben und Kartoffelgemüse, ein klein wenig mit Margarine geschmelzt, gab, so schmeckte es den jungen Leuten doch gut. Man hatte sich schon daran gewöhnt, die Fleischzugaben und noch manches andere zu entbehren. Ein jeder von den jungen Leuten hatte sein Schicksal, warum er hier und nicht draußen war, und es war ein gewisser Trost, daß sie gegenseitig davon sprechen konnten. Es waren auch noch zwei weitere Italiener darunter, die sich in ähnlicher Lage wie Rico befanden. Aber nur die Muttersprache zu hören und reden zu können, war allen ein gewisser Trost.
Heute war in dem kleinen Kreis einige Aufregung, denn der eine von den jungen Italienern erzählte, daß er durch Vermittlung des Roten Kreuzes heute einen Pack Briefe erhalten habe, und zwar über die Schweiz. Er war aus Palermo, der Sohn eines dortigen Weinhändlers, und war zur Ausbildung auch nach Deutschland geschickt worden. Er las nun den andern mit größtem Eifer dasjenige aus seinen Briefen vor, was diese interessieren konnte. Er war glückselig, daß sich die Seinigen alle wohl befanden, und trotz des hohen Preises bestellte er eine Flasche Wein, um mit den Bekannten seine Freude zu teilen.
»Marsala ist's nicht gerade, der schmeckt anders!« sagte er lächelnd, und ließ dabei prüfend den schillernden Neckarwein über die Lippen fließen. »Aber ich muß heute meiner Freude Ausdruck verleihen und ihr müßt auch teil daran nehmen.« Und die Gläser klangen zusammen. Da kam die Kellnerin herein und flüsterte Rico zu, ein Herr stehe draußen, der ihn dringend zu sprechen wünsche. Und Rico war hoch erfreut, als er den Onkel erkannte.
»Du hier, das ist ja ganz wunderbar, daß du deine Apotheke verläßt. Komm doch nur herein, wir teilen eben die Freude mit einem jungen Landsmann, der heute endlich Post durchs Rote Kreuz bekommen hat. Ich werde gleich nachher auch dahin gehen, ob sie nicht auch etwas für mich haben.« Aber Rico erblaßte, als der Onkel sagte:
»Ich habe Post für dich, Rico, aber leider ist's heute keine gute, ich möchte dir's aber allein vorlesen, – wir können keinen Fremden dazu brauchen.« Und als gleich darauf Onkel Neumeyer mit seinem Neffen auf einer Bank in der nahen Platanenallee saß, da wurde Ricos Gesicht noch bleicher. Der Brief, den der Onkel entfaltete, war weder vom Vater noch von der Mammina, sondern es war einer, den die teilnehmenden Damen Stadelmann geschrieben hatten, die die Sorgen der Familie Neumeyer freundschaftlichst mittrugen. Und die kurze Karte lautete:
»Werter Herr Neumeyer!
Schmerzerfüllt teile ich Ihnen mit, was wir erst seit heute wissen. Aus der beiliegenden Zeitung erfuhren wir das Tiefbetrübende. Wir werden nun von neuem versuchen, von dem Freunde Ihres Bruders, Professor Battiani, näheres zu erfahren. Er ist, wie wir lesen, von seinen Reisen zurückgekehrt, und wir haben uns sofort an seine Adresse gewandt. Sowie wir etwas näheres über den traurigen Fall erfahren können …« (Folgten nun noch etliche Worte.)
Fieberhaft hatte Rico zugehört.
»Die Zeitung, ach Onkel, die Zeitung, gib! Was enthält sie?« Und nun gab's kein Vorbereiten mehr. Hier stand, tiefschwarz umrändert, die in italienischer Sprache gehaltene Todesanzeige der Frau Giulietta Gigina Neumeyer, verwitwete Montane, geborene Ceneva. Und in Deutsch übersetzt lautete sie:
»In Abwesenheit des Gatten teilen wir schmerzerfüllt die Nachricht mit, daß heute infolge eines Herzschlages die edle Signora Gigina (folgten die Namen) verschieden ist. Im Namen des sich in einem Konzentrationslager befindlichen Gatten und der Kinder Rico und Angela teilt dies mit: Die frühere Geschäftsleitung des Hauses H. Neumeyer.«
Endlich eine Nachricht, aber was für eine! Rico ließ das Blatt sinken und blickte wie entgeistert den Onkel an. Und dann ergriff er wieder das Blatt und las es zum zweiten Mal, und dann warf er sich dem Onkel mit einem jähen Aufschluchzen an die Brust.
»Onkel, die Mammina, die liebe, gute, schöne Mammina tot? … Das kann doch nicht wahr sein, sag, daß es nicht wahr ist! … Und niemand bei ihr … Der Vater nicht, und ich nicht! … Ich muß fort, nichts kann mich halten. Ich will wenigstens sie noch einmal sehen! …« Als aber der Onkel, gleichfalls tief erschüttert, ihm klar machte, daß das Blatt mindestens vierzehn Tage alt sei, und die Beerdigung längst vorüber, da wurde Rico plötzlich ganz still, und nur dann und wann stöhnte er auf:
»Ach Onkel, wie wird Vater das tragen? … Ach Onkel, und unsere süße Angela! … Wo ist sie? … Wer sorgt für sie? … Was soll überhaupt aus ihr werden, wenn sie keine Heimat mehr hat?« Denn erst jetzt wurde es Rico klar, das eine gewichtige, tiefeinschneidende Wort: »Die frühere Geschäftsleitung des Hauses Neumeyer!« Allem nach waren also auch Heim und Geschäft gleichfalls im Kriegselend untergegangen.
Onkel und Neffe mußten sich nun auch noch sehr zusammennehmen, daß Hans sich nicht wieder zu sehr aufregte in seiner Liebe für den Freund. Ganz gelang das natürlich nicht. Aber durch Vaters Anwesenheit und seine schlichte, immer wieder beruhigende Art gelang es, daß der Genesende ohne Schaden für seine Gesundheit diese Stunden teilnehmend miterlebte.
Der Vater mußte wieder abreisen. Aber Rico tat es unendlich wohl, als Hans am Abend dieses so schweren Tages ihm, als er immer wieder aufschluchzend sagte: »Nun bin ich allein, ganz allein, und weiß nimmer, wo ich hingehöre!« den Arm um die Schultern legte und leise zu ihm sagte: »Allein bist du nie, Ricomännle, denn wir sind ja doch auch noch da.« Und dann, mit stockender Stimme und noch leiser sagte er:
»Und dann hast du ja neulich zu mir gesagt, daß wir nie ganz verlassen seien, wenn wir die Hand unseres himmlischen Vaters hielten. Das hat mir zu denken gegeben, denn da draußen in all den Greueln habe ich nichts derartiges mehr glauben können. Aber jetzt ist's doch wieder anders. Draußen in den Gräben und dann in den vielen Nächten, wo ich nicht schlafen konnte und oft schier verzweifelte, da ist mir eingefallen, was ich einst in einem Büchlein gelesen: Wir müßten unser Leben lang in eine Schule gehen, um unser Reifezeugnis für drüben zu bekommen. Du weißt, gelernt habe ich nie sehr gerne, aber man mußte eben. Und vielleicht kriegt man gerade jetzt halt die schwersten Aufgaben. Als ich so elend war und gar nimmer denken konnte, da hieß es nur still sein. Aber jetzt, wo ich wieder Kraft habe, aber noch nicht zum Wiederhinausgehen, da denke ich, ich will wenigstens daheim nicht feige sein und meine Aufgaben lernen. Vielleicht kannst auch du so denken, mein Alterle, jetzt, wo's so hageldicht über dich kommt.« Noch lange hielten sich die beiden jungen Leute fest umschlungen, aber dann verlangte die Jugend ihr Recht. Sie schliefen noch ein paar Stunden, aber freilich, besonders für Rico, zu einem schweren Erwachen.
Im Süden von Sizilien, am Mittelländischen Meer gelegen, gegenüber von der afrikanischen Küste, lag ein kleiner Ort, Santa Ch. Am Strande erhebt sich eine alte Burg mit gewaltigen Rundtürmen, früher ein königlicher Palast, jetzt Kaserne. Die herrlichsten Farben zeigt die Landschaft, Palmen rauschen, Lorbeer, Myrthensträucher, Pinien und Zypressen schmücken die Ebene. Und über dem herrlichen Bild wölbt sich ein wolkenloser, tiefblauer Himmel, und die Luft ist so rein und klar, daß das Auge in die weiteste Ferne schweifen kann. Aber nirgends zeigt sich eine Spur von menschlichen Ansiedlungen, nur da und dort liegt eine zerfallene Hütte.
Am Ende einer Landzunge, die in das Meer hinausragt, steht ein Mann. Er schaut in die im leuchtendsten Golde in den Meeresfluten versinkende Sonne. Er hält die Hand schützend vor die Augen, und es war, als ob er erzwingen wollte, irgend etwas zu sehen, was wohl nicht vorhanden war. Denn als die Sonne untergegangen war, wendete er sich mit einer raschen Bewegung um und ging den steinigen Pfad einer Mauer entlang, steile Stufen dann erklimmend, hinauf zu dem düster aussehenden Gebäude. Ein paar Soldaten, die Wache standen, grüßten. Er erwiderte gedankenlos den Gruß. Beim Eintreten in eine Halle, die noch von altmaurischen Säulen getragen war und in der ein langgestreckter, gedeckter Tisch stand, ging er vorbei, wieder ein paar Stufen hinauf in seine Behausung. Er öffnete mit einem leichten Ruck die aus dichten, zusammengenagelten Brettern bestehenden Läden, denn die Luft in dem Raum war dumpf und bedrückend. Abendkühle strömte herein, und der Mann atmete tief auf. Der Raum war höchst notdürftig eingerichtet, ein Bett, immerhin mit Polstern und Decke versehen, ein zusammenklappbarer Ruhestuhl, ein paar Holzsessel und in der Mitte ein rohgearbeiteter Tisch, das war alles. Einige Kleider waren aufgehängt an Haken an der Wand, und eine kleine Kiste diente als Kommode. Auf dem Tisch waren Bücher aufgestapelt, die andere Seite diente als Waschgelegenheit. Ein ganz leises Zwitschern ließ den Mann aufsehen. In einem kleinen offenen Holzkistchen saß auf einem Stängelchen etwas Helles.
»Willst du gute Nacht sagen, mein Hansele, weil's niemand sonst tut!« sagte eine wehmütige Stimme. Und dann suchte der Sprecher eifrig nach etwas, aber wohl vergebens, denn enttäuscht schob er Bücher und Papiere wieder zurück. Dann trat er zu dem Waschgeschirr und kühlte seine Hände, wobei er sich, wie schon so oft, vergeblich nach einem Abwischtuch umsah. Ein rasch herbeigeholtes Taschentuch mußte dessen Stelle ersetzen, denn eben ertönte eine Glocke, welche die Bewohner dieses Gebäudes zur Abendmahlzeit rief.
Dieser Mann war Heinrich Neumeyer. Er trat zurück in die Halle, die sich inzwischen mit Insassen aller Art gefüllt hatte, und wurde von allen Seiten begrüßt. Es war eine große Anzahl von ebenfalls internierten Deutschen, die hier beisammen waren. An der Tafel präsidierte ein höherer italienischer Offizier höflich, aber mit Würde. Sehr fließend war die Unterhaltung nicht, denn auf den meisten Gesichtern der hier durchs Schicksal Zusammengewürfelten lag der tiefe Ernst der augenblicklichen Sachlage. Es war nicht wie in so vielen anderen Internierungslagern draußen in der weiten Kriegswelt, wo die Menschen jahrelang zu ihren inneren Leiden sehr oft auch noch äußere Qualen erdulden mußten. Das gab es hier nicht, denn der Kommandant war ein wohlwollender Mann, der den ihm momentan anvertrauten Gefangenen möglichste Freiheit gewährte. Das Essen war nicht schlecht, die Bewegungsmöglichkeit innerhalb der gegebenen Grenzen immerhin beträchtlich, und die Herren untereinander konnten sich nach Belieben unterhalten mit Karten- und anderen Spielen, oder auch in kleinem Maße mit Sport. Aber die Grenzen waren eben da, die Freiheit war genommen, und was viele, besonders auch Heinrich Neumeyer, am meisten bedrückte, der Verkehr mit der Außenwelt war abgeschnitten. Von den Internierten am meisten vermißt wurden die Zeitungen. Wohl durften Briefe geschrieben werden, und es wurden auch welche durchgelassen, aber sie waren schon durch die Zensur der obersten Behörden gegangen, ehe sie hierher kamen, und ebenso wurde gesiebt bei denen, die fortgeschickt wurden. So kam es, daß vieles verloren ging, was für die Empfänger von größter Wichtigkeit gewesen wäre, und daß auch Heinrich Neumeyer oft lange ohne Nachricht blieb. Besonders von seinen Lieben aus Deutschland, wohin der Weg des Geschriebenen über die Schweiz ging und oft wegen einem geringfügigen Satze oder einem unbedachten Wort zurückbehalten wurde.
Neumeyer war aber auch außerdem in großer, schwerer Sorge um sein Geschäft, das ja geschlossen worden war. Es waren freilich viele italienische Mitarbeiter daran beteiligt, wie z. B. sein oberster Direktor Rigutini, aber die Firma war deutsch und dadurch wahrscheinlich zurzeit von der Liste gestrichen. Und seine Frau, seine Gigina? Und dann die Kleine? Wohl durfte er hoffen, daß sie, als Italienerin, unbehelligt in ihrer Wohnung bleiben durfte, aber aus ihren letzten Zeilen hatte er entnommen, daß ihr Herz wieder gar nicht in Ordnung sei. Daraufhin zielten ja seine letzten Worte vor seiner Festnahme. Aber hinausschiebend, wie Gigina ja immer war, hatte sie scheint's die ersten Gelegenheiten zu reisen nicht benützt, denn ihr letzter, kurzer Brief sprach nicht davon.
Die Abendmahlzeit, bestehend aus Fisch, Maccaroni und Tomaten, war beendet, als der Kommandant ihn durch seinen jungen Adjutanten rufen ließ und zu ihm sagte:
»Signor Enrico Neumeyer, ich bitte Sie, nachher auf einige Minuten in mein Zimmer zu kommen, ich habe Nachrichten für Sie.« Eine solche Aufforderung an diesen und jenen war schon manchmal ergangen, aber ihm war doch der ernste und zurückhaltende Ton, in dem der sonst so zugängliche Mann gesprochen hatte, aufgefallen, und er folgte mit einigem Herzklopfen dem Gebieter an diesem Orte in sein Privatgemach. Gegen die sonstige Gewohnheit im Verkehr mit den Internierten bot ihm der Herr einen Stuhl an, und dann entnahm er einer Anzahl von Schriftstücken, die er vor sich liegen hatte, eine Zeitung und reichte sie ihm hin. Es war die gleiche, die Onkel Karl dem Rico nach Tübingen gebracht hatte.
»Da, lesen Sie, es fällt mir schwer, der Vermittler dieser Nachricht zu sein.« Und Heinrich Neumeyer las, und seine Hand zitterte. Und dies Blatt hatte dieselbe Wirkung wie die Zeitung, die den Weg ins Schwabenland gefunden hatte. Auch hier stand, schwarz umrändert, der Name seiner Frau, die er trotz ihrer Schwächen sehr geliebt hatte. Und gleich darauf kam auch hier der blitzschnelle Gedanke: »Was nun? Was nun?«
Mit bebenden Lippen stellte Neumeyer nun die Frage: »Herr Colonello, würden Sie mir wohl gestatten können, nach Neapel zu reisen, um das Nötige dort vornehmen zu können?« Er war aber nicht erstaunt, als die Antwort lautete: »Leider nein, Signor Neumeyer. Das geht über meine Befugnisse. Wir dürfen keinem der uns anvertrauten Herrn auch nur kurzen Urlaub geben. Wir leben leider in einer Zeit, wo die heiligsten Familiengefühle schweigen müssen.« Der alte, wohlwollende Herr schüttelte dabei dem sichtlich schwer betroffenen Manne die Hand, und mit einem von warmen Gefühlen erfüllten: » Addio, addio, es tut mir sehr leid, so handeln zu müssen!« war Neumeyer entlassen.
In dieser Nacht stand ein verzweifelter Mann noch lange Stunden unter dem Fenster seiner Kasematte und blickte zu dem Sternenhimmel empor, während sich daheim die Peppina auf ihr Lager neben dem der kleinen, verwaisten Angela legte. Fremde, gute Freunde von ihrer Herrschaft, hatten sofort das verlassene Kind zu sich nehmen wollen, aber sie verteidigte es wie eine Löwin.
» Nossignore, – nossignore! Meine Signora hat noch gerade, ehe sie starb, mir gesagt: ›Du bleibst bei Angelina … nicht fremden Leuten lassen … Miezi wird kommen!‹ Ja, das hat sie gesagt, und ich kann es bei der Madonna beschwören, und Nonna Rosalia hat es auch gehört.« Und Peppina wurde so aufgeregt, schrie und schluchzte, und Angela, die mit entsetzten Augen zuhörte, schrie mit und klammerte sich an Peppina, so daß die Freunde vorerst von einem Eingreifen Abstand nahmen und sich sagten: »Es wird ja doch wohl bald Nachricht vom Vater oder von den Verwandten kommen!«
Die nun sechsjährige Angela konnte nicht verstehen, daß ihre Mutter nicht mehr da war und verlangte stündlich nach ihr. Auch vermißte sie den Vater in den ersten Tagen. Von ihm kam diesmal umgehend Antwort. Es lag in einem großen Schreiben von ihm ein Brief für Signor Direttore Rigutini bei, worin er ihm Vollmacht gab über sein Geschäft und damit auch über das, was ihm allenfalls noch gehörte. Und dann schrieb er der liebsten Freundin seiner Frau, einer italienischen Dame, und legte ihr das Kind an das Herz.
Aber diese Dame war, um dem Krieg zu entfliehen, mit den Ihrigen ins Ausland gereist, und der Brief gelangte nie an sie. Hingegen hielt Peppina den Brief, den sie von dem Signore erhalten hatte, wie ein Heiligtum fest in den Händen, denn es stand unter anderm darin:
»… Du tust bis auf weiteres, was dir Signora Fiori anweist! Am besten dünkt mir, Ihr zwei wohnt in unserem Hause (wenn es noch uns gehört), und den Tag über nimmt sich dann gewiß die Signora oder eine andere Bekannte des Kindes an. Geld zum Leben wird Dir Signor Rigutini geben. Ich weiß, Du wirst die Kleine gut versorgen, und der Segen der Verstorbenen wird auf Dir ruhen. Sollte der Krieg länger dauern, oder sollte mir etwas passieren, so wird Angela bei den Verwandten in Deutschland ihre Heimat finden. Inzwischen heißt es zuwarten …
Enrico Neumeyer.«
Noch einmal sei es gesagt: Peppina verteidigte diese Zeilen wie eine Reliquie. Und schließlich trug sie den Brief beständig in einem kleinen, ledernen Mäpplein auf dem Herzen, daß ihm ja nichts geschähe. Im übrigen befolgte sie genau die Anweisungen ihres Herrn. Treu und gut, wie sie es nun jahrelang gewöhnt war, besorgte sie Tag für Tag das Hauswesen ihrer abwesenden Herrschaft. Es war vorderhand niemand vorhanden, der ihr dies streitig machte. Die Köchin Lucia war verschwunden, da ihr es unsicher erschien, länger in einem Hause zu dienen, wo gleichsam der Boden wankte.
» Santa Maria,« sagte sie mit erhobenen Händen, als sie eine Stelle bei einer anderen Herrschaft gefunden hatte. »Man dient doch auch wirklich nicht gern bei Feinden unseres armen Vaterlandes.« Der Diener Antonio war bei Beginn des Krieges eingezogen worden. Peppina hielt alles rein, putzte und staubte ab wie zu Lebzeiten ihrer Herrin. Nur deren Zimmer hatte sie dicht verhängt und abgeschlossen:
»Man weiß nie,« konnte sie in ihrem Aberglauben geheimnisvoll sagen, »ob die Verstorbenen nicht dann und wann ihre einstigen Wohnstätten wieder besuchen, und dann muß doch alles in Ordnung sein.«
Für ihren Liebling sorgte sie, wie nur eine Mutter sorgen kann, freilich sei's bemerkt, nach südländischen Begriffen. Hatte die Verstorbene, ihre Herrin Gigina, viel aufs Äußere gesehen, so war's Peppina auch nicht gleichgültig, ob sich die Kleine im ganzen den Manieren eines guten Hauses anpaßte. Hauptsächlich war ihr aber deren Umgang sehr wichtig. Angela war gewöhnt, viel mit andern Kindern zu verkehren, und sie wurde auch jetzt wohl dann und wann einmal eingeladen oder auch beschenkt. Die Kleine, die ein feines Empfinden hatte, fühlte aber bald, daß die Menschen anders gegen sie waren als sonst. Und als die Geschenke jetzt auch öfters aus Kleidungsstücken minderwertiger Art bestanden und von einem steten: » Poverina, poverina – Arme!« begleitet wurden, da wies das Kind sie zurück, was Peppina aber nicht billigte. Sie hatte wohl auch ihren Stolz für ihren Pflegling, »aber,« sagte sie achselzuckend, »wenn's nun eben jetzt einmal so ist, wie es ist, so nimmt man, was die Menschen geben! Aber – la nostra – Angelina darf's natürlich nicht tragen!« fügte sie mit verächtlicher Geste hinzu, und gab dann diese Sachen ihren Geschwistern, die von der Nonna – Großmutter – Rosalia, zusammen mit den zahlreichen anderen Kindern, erzogen wurden.
Ging Angela nicht gerne zu den Menschen, die anders waren als sonst, so ging sie um so lieber mit Peppina in deren Haus. In Peppinas Familie ging es so lustig zu. Die Nonna erzählte beim Waschen so schöne Geschichten vom bösen Geist Fuoco, der in dem Vesuv stecke, weil er sein Lebtag seine Tabakspfeife nie habe ausgehen lassen, worüber seine casa abgebrannt sei, und er sei nun dazu verdammt, ewig zu rauchen. Auch von der Nixe, der bella Beatrice, erzählte sie, die bei Mondschein am Wasser laure und die kleinen Kinder, die da noch spielten, mit langen, grünen Armen in die Tiefe ziehe usw. Trotz dieser Geschichten lief aber Angela mit den andern Kindern, wenn sie genug den Erzählungen gelauscht hatten, hinaus ans Meer, wo im Sande die niedlichen Muscheln lagen und wo sie dann und wann ein Stückchen Koralle fanden, das sie sich um den Hals banden. Es war ja nicht Mondenschein, wo man dann fest und gesichert in seinem Bette lag. Nicht eigentlich lieb war es Peppina, daß Angela hier mit all den Kindern herumtobte und spielte: » ma – aber – die arme Kleine hat daheim so furchtbar Langeweile, und wenn sie heimkommt, wird sie ja immer gebadet, und ich ziehe ihr ein frisches Kleidchen an.«
Peppina selber half stundenweise der Nonna waschen. Das war nötig, weil die Summe, die Signor Rigutini ihr wohl pünktlich auszahlte, sehr klein war. Er habe nicht mehr, sagte er in besorgtem Tone, worauf er bei seinem jedesmaligen Kommen die Frage stellte: »Ist denn immer noch keine Nachricht von Deutschland eingetroffen? Es ist doch schon recht lange her, daß ich geschrieben habe. Aber freilich, die richtige Adresse wußte ich nicht und konnte sie unter den Papieren von Signor Neumeyer nicht finden.«
Peppina hatte ja wohl an Rike etlichemal geschrieben, aber später hatte sie den Zettel, worauf alles stand, zerrissen – Donna Gigina war ja doch immer im Hintergrund, um zu adressieren. Ebenso war's mit der Adresse von den Schweizer Damen, mit denen damals Miezi gekommen war. Luzern, ja, diesen Namen wußte Peppina noch, aber wie die Damen hießen, nicht. Und der liebe, gute Signore war noch immer so weit fort, noch viel weiter als die große Stadt Palermo, in der die Nonna einmal gedient hatte, als sie jung war. Sie erzählte davon, daß nach Palermo meilenweit keine Städte und keine menschlichen Wohnungen mehr kämen bis hinunter, da wo ein anderes Meer Wellen schlage, und die Menschen noch viel, viel schwärzer seien als hier in Napoli. Und dort sei der Herr, eingeschlossen hinter Mauern, und wer könne wissen, ob er dort auch richtig zu essen bekomme und ob er deshalb vielleicht nicht zu schwach sei zum Schreiben. Und dabei fühlte Peppina nach ihrem Schatz hinter dem Brusttuch und war froh, daß sie wenigstens einen Brief von ihm hatte.
Herr Rigutini ordnete eines Tages an, daß Angela jetzt morgens in die Schule gehen müsse. Es drückte ihn, daß er so wenig für das Kind seines früheren Chefs tun konnte, aber er war ledig und kein sehr großer Kinderfreund. Mit tausend Widerreden fügte sich das nun schon an volle Freiheit gewöhnte Kind. Der Zwang war ihr gräßlich, Aufgabenmachen desgleichen, und Peppina, die ihr darin nicht helfen konnte, entschädigte ihr cuore mio und ihre carina, wie sie die Kleine nannte, indem sie mit ihr zum Konditor ging und ihr dolci – Süßes –, Gefrorenes und biscotti kaufte. Immerhin vermißte Angela im ganzen wenig, als sich einmal der erste, wilde Schmerz, daß die Mammina nicht mehr da war, gelegt hatte. Erzählte ihr die Peppina ja fast täglich, wenn sie abends noch lange an ihrem Bettchen saß, von der süßen Mammina, welch ein schöner Engel sie jetzt sei, genau so einer wie der am Altar in der Kapelle Santa Maddalena. Und sie lehrte das Kind die Hände falten und paternostro und das Ave Maria beten und sie machte ihr das Kreuz über das Gesichtchen und über die Brust. Und das war gut gemeint, und der liebe Gott erhörte es. Und seine Wege, die er mit dem scheinbar verwaisten Kinde vorhatte, waren gut, wenn auch gegenwärtig noch verworren.