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Warum Ärzte und Pfleger sagen: »Hätten wir nur noch mehr solch Tüchtige wie den Italiano!« – Rike sagt: »Meinetwegen könnte der Flederwisch schon kommen!« – Eine Diphteritisgeschichte, und wie Miezi mitten in der Nacht nach Weihingen will. – Von alten Zigarrenkisten, ausgedienten Blechbüchsen und vom Photographieren. – Wie Mutter ruft: »Um Gotteswillen!« und Vater brummt: »Du Lausbub!« – Das Kind, das Kind! – Von Hühnern, Kandiszucker und einem Reisbrei. – Warum Minele sagt: »Ui, ist das aber mühsam zum Bügeln!« und Angela sich nicht küssen lassen will.
In der Neumeyerischen Familie hatte es inzwischen auch eine Änderung gegeben. Die Herren Doktoren und Professoren in Tübingen hatten Hans nun als »geheilt« aber vorderhand noch nicht wieder felddienstfähig erklärt, und er wurde entlassen. Nun war er bis zur völligen Wiederherstellung in seiner alten Stube im Elternhause bei den Schmetterlingskästen und in seiner niedlichen, kleinen Werkstätte, und nur der Kamerad fehlte, denn Rico war wegen der Studien in Tübingen zurückgeblieben. Immer noch war er der regelmäßigen Kontrolle unterworfen, was stets für ihn ein peinliches Gefühl war, und ihn immer wieder von neuem daran erinnerte, daß er in Deutschland nur geduldet und eigentlich ein Feind sei. Die Menschen, mit denen er verkehrte, ließen ihn das aber nicht entgelten, und nach wie vor stellte er sich stundenweise in den Spitälern zur Verfügung, in denen es ihm möglich gemacht wurde, nebenher die Kollege zu hören. Er hatte ja einen Rückhalt durch die Beziehungen zu den auch hier hochangesehenen Verwandten. Und dazu kam, daß die Herren Professoren, bei denen er lernte, bereits anfingen, auf den jungen Mann aufmerksam zu werden, der so eifrig und mit solchem Verständnis lernte. Und auch in der Klinik war Rico äußerst beliebt, bei den Ärzten sowohl als auch bei den regelrechten Pflegern.
»Hätten wir nur noch mehr solche Tüchtige wie den Italiano!« sagten diese untereinander, denn an pflegenden Männern fehlte es ja außerordentlich, und Rico hatte so eine feine, schon recht sachverständige Art, mit den Kranken umzugehen. Er war im letzten Jahr noch gewachsen und hatte starke, kräftige Arme zum Heben und Legen der Kranken, weshalb er von Hans oft beneidet wurde. Dieser war kleiner und schmächtiger als der Vetter, und jetzt natürlich nach der schweren Leidenszeit auch noch geschwächt. Das machte ihn oft ganz unglücklich, denn er strebte mit aller Macht wieder hinaus, und trotz der kräftigen Suppen und seiner besten Leibspeisen, die Rike ihm kochte, wollte er immer noch nicht so recht zunehmen, denn er war ja eigentlich beinahe noch im Wachsalter.
Aber seine ungestüme Art, die jetzt wieder vollauf erwachte, und die sich in den unglaublichsten Wünschen kundtat, erfreuten das Herz des alten Hausarztes und aller im Hause. Ausgenommen die Mutter, die wohl dankbar, doch besorgten Herzens, jeden Fortschritt ihres Buben beobachtete, weil dadurch näher und immer näher der von Hans so ersehnte Abschied rückte.
Rico kam fast regelmäßig jedesmal über den Sonntag nach L. Er konnte sich das erlauben, denn die Fahrt war billig, und er ersparte dabei sein dortiges Mittagessen. Bei den Verwandten war er ja wie ein Kind vom Hause. Dort konnte er auch immer wieder sein von Sorgen beschwertes Herz ausschütten, sein Heimweh nach der Mutter und seine Angst um den Vater und um die kleine Schwester klagen. Es war inzwischen Spätherbst geworden, und der Krieg nahm noch immer kein Ende. Unsicherheit herrschte überall. Dazu regte sich bei den scharfen Winden, die jetzt wehten, und bei dem Ersterben der Natur und den fallenden Blättern in Rico der Südländer, das Sehnen nach der Heimat. Oft überfiel ihn ein wildes Verlangen, nach so langer Zeit auch einmal wieder dort sein zu dürfen. Er sah im Geiste die Palmen am Strande, die immergrünen Eichen, die Blumenbeete und Marmorbilder. Er sah die Menschen dort, wohl in Schmutz und Armut dahinlebend, aber dennoch glücklich in ihrer Anspruchslosigkeit, meist im Freien lebend, und er hörte ihre halb melancholischen, halb heiteren Weisen in der Nacht. Da erwachten aber vor seinem inneren Auge auch wieder die fensterlosen, dunklen Hütten, die oft vor Schmutz starrenden übelriechenden Räume, in denen Kranke lagen und Kinder aufwuchsen. Er meinte, es oft kaum erwarten zu können, bis er fertig wäre und dahin zurückkehren könnte, wo er hoffte, einmal walten und helfen zu dürfen. Und wie bebte an ihm jeder Nerv im steten Brüten und Denken an Vater und an Angela. Alle Pläne, die er mit dem Onkel entwarf, wurden allemal wieder über den Haufen geworfen. Er konnte nicht hin, und es war wie in dem alten Liede:
»Sie konnten zusammen nicht kommen,
Das Wasser war viel zu tief.«
Einmal war an Miezi ein Brief von der netten Ruth
Stadelmann aus Luzern gekommen, in dem stand:
»… Wir nehmen so warmen Anteil an dem Schicksal Eurer Familie, und daß Deine Tante Gigina gestorben. Wie schwer für Euren internierten Onkel, diese Nachricht zu bekommen, ohne die Möglichkeit, nach Kind und Geschäft zu sehen. Beruhigt aber hat mich für Euch, daß wir durch Bekannte in Neapel erfuhren, daß das herzige Geschöpf sehr gut im elterlichen Hause unter der Obhut einer treuen Wärterin untergebracht sei …«
Wie wertvoll waren diese paar Sätze für alle gewesen, nur nicht für Rico, der sagte: »Die Peppina wird ja wohl ihr äußerstes tun, daß das Kind an nichts Mangel leidet, und an Leckereien und guten Speisen wird sie's nicht fehlen lassen. Aber mit der Erziehung wird es, ich fürchte, übel aussehen, denn wie die Erziehung Peppinas ist, das wissen wir.«
Er und Miezi zusammen malten sich immer wieder aus, wie es sein würde, wenn sie das Kind hier hätten, obgleich Miezi sich sagen mußte, daß sie bei ihrer jetzigen Beschäftigung in der Apotheke wohl wenig Zeit übrig haben würde für solch ein kleines, lebhaftes Ding. Aber auch die Eltern, und sogar die zwei draußen in der Küche wünschten des öfteren das von Vater und Mutter verlassene Kind zu sich. Man konnte sich ja so gar nicht denken, wie und wo sich das Leben der kleinen Base abwickelte, und selbst Rike sagte:
»Wegen mir könnte der Flederwisch schon kommen. Erstens gibt's keine Windeln mehr zu waschen, und dann würde ich's dem Herrn Heinrich (er war von früher her ihr Liebling) arg gönnen, wenn er um sein Kind ruhig sein könnte. Ich tät schon auch sorgen, und wo die Mutter nimmer da ist, so könnt man's auch weniger affig anziehen. Und solch ein Geschrei verführen wie einstens wird's wohl auch nimmer.«
Alles Ausmalen aber, wie's sein könnte, wurde wieder zu Wasser in der Wirklichkeit. Denn es war eben so, daß Länder und Flüsse und Berge, und vor allem, daß Mauern und Kriegsgrenzen dazwischen lagen.
Inzwischen hatte Miezi immer mehr nette Fortschritte im Lateinischen gemacht und bei dem Vater im Laboratorium geholfen. Hatte sie eine freie Stunde, besonders gegen Abend, so half sie nach wie vor im Laden und erlangte dabei eine immer größere Übung im Verkauf und im Verkehr mit den Menschen. Aber auch den Wert der Zeiteinteilung lernte sie wieder mehr und mehr kennen, und die »Nur-noch-Neigung« hatte wenig Gelegenheit, an den Tag zu treten. Aber unsere Fehler, die wir von klein auf haben, und die wir jahrelang glauben besiegt zu haben, treten oft plötzlich wieder auf. Mit Beschämung werden wir inne, daß wir die Auswüchse wohl beseitigt haben, daß sie aber, ohne daß wir's wollen, einen plötzlich wieder überraschen können. Und Miezi mußte diese Erfahrung machen, und zwar in einer Weise, die ihr gar bittere Stunden verursachte.
Georg, der zehnjährige Bub des Bauern Hölzle im benachbarten Weihingen, hatte spät am Abend noch ein Rezept gebracht mit der Frage: »Kann i aufs Säftle glei warte?« Auf Miezis Gegenfrage, für wen es sei und was dem Kranken fehle, sagte der Bub kurz: »Fir onsern Gottlobele, ond er häb Halsweh.« Miezi überflog rasch das Rezept, es schien ihr ein einfaches Tränklein gegen Schluckweh zu sein. Sie war etwas in Eile, weil in einer Stunde ein Konzert beginnen sollte, in dem gerade ihre Lieblingslieder gesungen wurden, und nachher gab es noch ein kleines, geselliges Beisammensein. Für gewöhnlich hatte sie die Weisung, die wichtigen Rezepte dem Vater zu übergeben. Je nachdem mischte er sie selber oder überließ die Zubereitung Miezi. Auf das Rezept, das sie in Händen hielt, hätte der Bub schließlich auch warten können, aber einige Zeit würde es schon gekostet haben und inzwischen hätte das Konzert angefangen. Nach kurzem Besinnen sagte sie zu dem wartenden Buben:
»Geh du nur fort, morgen früh geb ich dann unserer Weihinger Milchfrau das Säftlein mit, und ihr habt's bis zur Vesperzeit!« Zur Vorsicht aber fragte sie doch noch: »Liegt der Gottlobele im Bett und ist er krittelig?«
»Noi, er schwätzt gar nex! Heut nachmittag hat er no Schneeballe gmacht, ond em Bett liegt er jetzt, weil's Obed isch!« war des Buben sachliche Antwort, mit der sich Miezi beruhigte; das Rezept aber – es waren heute abend keine anderen vorhanden – übergab sie dem Vater nicht mehr, sondern tat es für morgen früh in eine Schublade, da würde es dann ihr erstes sein, es zu besorgen.
Heut – Beste Zeit!
Warum flog gerade heute Miezi dieser Familienspruch immer wieder durch den Kopf? Nicht während der Musik, die hatte sie mit tiefster Seele genossen. Schwere Musik verstand Miezi nicht, aber so etwas, wie Schubert und Mendelssohn und die alten, lieben Volkslieder, das drang ihr bis ins Innerste. Und nachher war noch eine kleine, fröhliche Tafelrunde von bekannten Familien beisammen. Die Alten saßen bei einem Glas Wein im Nebenzimmer, die Jugend bildete auch einen Kreis, auch meist Freundinnen von Miezi. Leider fehlten während der Kriegszeit die jungen Herren, aber um so gefeierter war Hans, der zum ersten Mal wieder unter Menschen kam, um zu erproben, wie weit seine Nerven standhielten. Mit innerer Freude beobachteten ihn die Eltern, wie lustig und doch gar nicht mehr aufgeregt er sich und die andern unterhielt. Es war Gott sei Lob und Dank doch wieder ihr alter, fröhlicher Hans, dem außer einiger Schonung für sein Bein nichts mehr fehlte.
Warum aber war Miezi auf einmal so ernst geworden, und es war auf dem Heimweg doch der schönste Mondenschein, der auf die glitzernde Schneedecke fiel? Vater hatte erzählt, daß der Oberamtsarzt, den er heute gesprochen, ihm gesagt habe, daß die Grippe wieder herumgehe und daß es in dem nahen Weihingen auch etliche Diphteritiserkrankungen gäbe. Herrgott, wenn der Hölzles Gottlobele ein solcher Fall wäre? Wenn es etwas Dringendes wäre, und sie hatte die Sache nur so obenhin behandelt? … Der Gedanke ließ Miezi nicht mehr los, und mitten in der Nacht stand sie auf und ging in die Apotheke, um das Rezept noch einmal durchzulesen. Und jetzt, wo sie's genauer tat, las sie heraus, daß wahrhaftig auch ein Bestandteil darin enthalten war, der manchmal gegen Diphteritis gebraucht wurde. Nach einer unruhig verbrachten Nacht war sie erst gegen Morgen eingeschlafen, und sie wachte jäh auf durch Vaters ziemlich energisches Klopfen.
»Bist du auf, Miezi? Noch nicht? Kleide dich möglichst rasch an und komm dann herunter!« Und als Miezi erschreckt in die Apotheke kam, die sonst um diese Zeit noch nicht geöffnet war, sah sie zu ihrem Entsetzen die Kathrin, die Milchfrau, bereits auf der Wartebank sitzen, und der Vater empfing sie mit der erregten Frage: »Weißt du etwas von einem Rezept, das gestern abend noch gekommen sein soll?«
»Ja, ja, der Georg hat's jo bracht, ond Fräulein Miezi hab's in Empfang gnomme. Aber wie der domm Bua heimkommen ischt, no hot er 's Tränkle net mitbrocht, ond jetzt machet no und gebet mer's, dr Gottlobele hätt die ganz Nacht schier kei Luft mehr ghätt. Se heulet älle zamme, ond dr Doktor schempft, was des fir a Manier sei, mit dere Arznei!« Die Frau hatte sich ganz in Eifer hineingeredet. Miezi aber blieb nichts anderes übrig, als die Schublade zu öffnen und dem Vater das Rezept zu übergeben.
»Ach verzeih, ich habe ja nicht gewußt, daß es schlimm ist!« sagte sie leichenblaß. Der Vater aber sagte nichts als: »Einen Tag Verlust!« und wies dabei auf das allerdings in undeutlicher Doktorsschrift geschriebene Wort »Pressant!« ganz unten an dem Rezept. Und dann machte er sich schleunigst ans Zubereiten des Mittels.
In Tränen aufgelöst fand er Miezi nachher dabei, wie sie zum zehnten Male eine Wage blank rieb, ohne irgend etwas anderes zu denken, als: »Wenn ich doch geschwind nach Weihingen laufen könnte, um zu wissen, wie es steht. Gott wird doch nicht so etwas geschehen lassen, und ich wäre daran schuld.« Der Vater, der sich sonst bei irgend einer kleinen Lässigkeit sehr aufregen konnte, war diesmal ganz ruhig, und das war unheimlich. Aber noch schrecklicher war, als er nach ein paar Minuten sagte:
»Wenn du so wenig zuverlässig bist und so etwas Wichtiges hinausschiebst, so kann ich dich einfach in Zukunft nicht brauchen!« Dabei zog er sich in sein Laboratorium zurück und überließ Miezi ihrem Jammer. Und ihrer Angst! Denn im Laufe des Tages kamen noch etliche Eilboten von Weihingen, die dies und jenes holten – Mineralwasser, »dr Gottlobele häb so arg Durscht!« – »Ebbes zom Eipinsle ond en Pinsel derzu.« Und zuletzt kam ein ganz dringendes Rezept: »Dr Doktor well jetzt eispritze, es steh lätz!«
Das waren zwei schreckliche Tage für Miezi, wohl die schrecklichsten, die sie je erlebte. Erst vor acht Tagen war Frau Hölzle mit dem herzigen Buben in der Apotheke gewesen, um Seife zu holen, wobei Miezi dem vierjährigen, strammen Kerl ein »Bomboh« gegeben und sich an seinem Kauderwelsch ergötzt hatte, und immer wieder klangen ihr der Mutter Worte in den Ohren: »Gelt, des isch a Gscheiter. Des isch no onser Allerliebster und Beschter!«
Welche Erlösung war's, als am dritten Tag die Milchfrau kam und sagte: »Jetzt hat er sich rausgrissa, der Bua, er nagt scho wider an 're Feig. Aber a paar andere em Dorf send jetzt krank, do han e wieder en Zettel vom Doktor, wo drauf steht, was mr älles braucht!« Was gingen die andern Neuerkrankten Miezi an! Freilich dauerten sie einen, und es verstand sich von selber, daß mit der größten Pünktlichkeit die Liste des Arztes studiert und seine Wünsche ausgeführt wurden. Die Hauptsache für sie war ja:
»Der Bub ist gerettet! Der Bub ist gerettet!« Und oft war's ihr nachher noch, als habe sie nie in ihrem Leben so inbrünstig gebetet wie in diesen Tagen.
Hans hatte den allerwärmsten Anteil an Miezis Angst und Jammer genommen, standen sich ja die beiden von jeher sehr nahe. Ebenso warm aber kümmerte sich Miezi jetzt mit ihm darum, wie es nun wohl mit seiner Zukunft werden solle? Daß er Soldat bleiben würde, und daß keine Macht der Welt ihn zurückhalten könne, wo die draußen noch kämpften, das war ja felsensicher. Solange Hans solches Denken noch vom Doktor versagt war, zog er sich, wie noch ein paar Jahre vorher in der Knabenzeit, in seinen »Bastelwinkel« zurück und verfertigte dort allerlei kleine Gegenstände, aus denen man nicht klug wurde, was sie eigentlich darstellen sollten. Alte Zigarrenkisten, ausgediente Blechbüchsen, viel Karton und Draht mußte die Mutter in die Bubenstube schleifen, und kopfschüttelnd stand sie oft dabei, mochte aber nicht fragen und ließ ihn eben machen. Dann aber entstanden nach und nach kleine Kähne, elektrische Spielereien und schließlich eine Art Luftschiff, das wirklich nett ausgefallen war. Auch seinen alten Photographenapparat holte Hans wieder hervor, und alles im Hause wurde aufgenommen. Der Vater in der Apotheke, – eine Kindervisite, die Inge hielt, Miezi in der Mitte, Kuchen austeilend, – und die Mutter Strümpfe strickend. Selbst Rike mußte daran, wie sie Teig rührte, und Minele, wie sie im Garten Wäsche aufhängte. Der Putzi aber wurde mit Blitzlicht aufgenommen, wie er dem Christian Kisten auspacken half.
Hans bekam nach und nach eine ganze Fertigkeit im Photographieren, und es war nett, die mehr oder minder gelungenen Bildchen zu haben, nur kostete das ganze Drum und Dran in der gegenwärtigen teuern Zeit recht viel, aber der sonst so sparsame Vater schwieg, man mußte dem armen Hans, der soviel durchgemacht, doch seine Freude lassen. Denn näher und immer näher rückte ja die Zeit, wo der Ernst wieder an den jungen Sohn herantrat, und wo die Eltern sich entscheiden mußten, was nun?
Als an einem der nächsten Sonntage Rico wieder kam und man nach dem Kaffee, wie jedesmal, traulich beisammen saß und meist über die gerade schwebenden Zeitfragen verhandelte, da faßte der Vater einen Anlauf und sagte schonend:
»Was meinst du, Hans, wenn wir jetzt, wo wir so nett beisammen sind, uns auch einmal darüber beraten würden – nur ganz oberflächlich, denn es ist ja noch nicht so weit – wie du dir deine nächste Zukunft denkst. Wir hoffen ja, daß du noch eine Zeitlang bleiben kannst, und ein Entschluß ist deshalb ja noch gar nicht nötig, aber …«
So weit war Vater gekommen, und Mutter und er waren aufs äußerste überrascht, als Hans kurz und bestimmt erwiderte:
»Ich fühle mich wieder wohl und habe mich deshalb gestern schon auf dem Kriegsamt gemeldet. Um mein weiteres Fortkommen zerbrecht euch nicht den Kopf, Vater, Mutter! Daß ich nicht mehr zur Infanterie tauge mit stundenlangem Marschieren, das ist sicher, und deshalb habe ich auch den festen Entschluß gefaßt, Flieger zu werden.« Ein leises: »Um Gottes willen!« von der Mutter Seite her ertönte, aber Hans ergriff ihre Hand und sagte:
»Nicht gleich erschrecken, Mutterle, ich hab mir's wohl und nach allen Seiten überlegt und mich auch erkundigt. Das paßt mir, und das liegt mir, und darum – seid mir nicht böse – bin ich auch gleich auf dem betreffenden Amte gewesen und habe mich vormerken lassen!« »Lausbub!« entfuhr dem Vater. »Ohne uns zu fragen.« Doch beschwichtigend sagte Hans: »Gar so schnell wird's ja nicht gehen, denn es sind viele, die denselben Wunsch haben wie ich. Ich habe meine kleinen Machwerke vorgezeigt, und sie haben Beifall gefunden – wohl als Spielereien –, aber die Herren sagten, es stecke etwas dahinter. Und, Mutterle, denk dir, wie herrlich das wäre, wenn ich einmal über unsere Stadt dahinfliegen könnte, und euch eine Karte hinunterwerfen! – Nicht weinen, Mutterle!« Und er ergriff zärtlich dabei ihre Hand.
»… Freilich, viel müßte ich vorher noch lernen, und, Vater, kosten würde ich euch auch noch ein gut Stück Geld, bis es soweit ist. Aber, wenn ich in Friedenszeiten Leutnant geworden wäre, so hättest du mir auch Geld geben müssen, und ich verspreche euch, möglichst sparsam und brav zu bleiben!«
Hans fühlte, wie bei dieser langen Rede ihm auch das Wasser in der Kehle steckte, und er brach deshalb jäh ab. Und es war wieder sein lustiger Ton von einst, wie er sagte:
»Ricomännle, und wenn wieder Frieden ist, setz' ich mich zum Zeppelin in sein Luftschiff und fahr, heidi, zu euch hinunter nach Neapel, und steig auf eurer Plattform aus. Und wenn der Zeppelin von seinem Ausflug nach Afrika zurückkehrt, steig ich wieder ein!« Unwillkürlich mußten alle bei diesem herrlichen Luftschloß lachen. Rico aber sagte in seiner stillen Weise:
»Und holst mir mein Schwesterlein und bringst es uns mit! Ach, wenn es doch heute schon geschehen könnte.«
Von der fröhlichen wieder auf die ernste Tatsache zurückkehrend, wurde nun hin und her noch Hansens Entschluß besprochen und beleuchtet und schließlich gut geheißen, wenn auch mit schwerem Herzen. Gefahren, das wußte man ja, Gefahren ging der neugeschenkte Sohn auf allen Wegen, die er einschlagen würde, entgegen. Und als die Eltern zur Ruhe gegangen waren, aber mit Sorgen noch die Sache erwogen, da war's die Mutter, die schließlich sagte:
»Ob auf dem Boden oder in der Luft, schließlich sind wir ja überall in Gottes Hand. Und wir können nichts anderes tun, als ihm unsere Kinder – ihre Wege mögen gehen, wohin sie wollen – ans treue Vaterherz legen.«
Noch einer schlief in dieser Nacht, wie so oft jetzt, lange Zeit nicht ein, und das war Rico.
»Bring mir mein Schwesterlein dann durch die Lüfte mit!« – diese Worte schwirrten in Nicos Gedanken und schließlich in seinen Träumen, denn Tag und Nacht bewegte ihn des Kindes Schicksal. Von Vater war ein Brief gekommen, der ihn insofern beruhigte, daß es ihm ja nicht schlecht auf der Insel ging, und daß er auch im ganzen wohl war. Aber das Kind, das Kind. Er und Miezi kannten ja zur Genüge die neapolitanischen Verhältnisse, und wenn sie beide Peppina als Dienstmädchen ja auch hoch schätzten, so wußten sie doch genau, wie wenig weit ihre Erziehungsfähigkeiten einem so lebhaften Kinde wie Angela gegenüber reichen konnten.
»Wenn ich sie doch nur bei Euch wüßte!« so schloß Vaters Brief, und dieser sehnliche Wunsch erfüllte auch des Bruders Herz.
Hans stand unten im Hof bei seinen Hühnern, denen er ihr Futter brachte und deren Besorgung ihm in der letzten Wartezeit wie einst Freude machte. Es war Samstag abend, und deshalb war Rico da, der auf der grüngestrichenen, alten Bank am Hause dabeisaß und sich an dem Gegacker der hungrigen Gesellschaft ergötzte. Die Tür ins Laboratorium hinein war offen, der Vater arbeitete dort, während Miezi in der Apotheke noch etliche Kunden abfertigte, ehe für heute Schluß gemacht wurde. Putzi, der nun achtjährige, half mit Eifer Christian noch etliche der großen Kolben reinigen, die nachher wieder aus einem Fasse, das daneben lag, neu gefüllt werden sollten. Solche Geschäfte mochte Putzi, und er half gerne dabei, wenn am Samstag abend noch alles schön in Ordnung gebracht wurde. Hans war eben aus dem Hühnerstall heraus gekrochen und hatte seine Mütze voll frischgelegter Eier.
»Die trag ich zu Rike hinauf, daß sie uns heute abend Pfannkuchen davon macht!« und er schickte sich dazu an, als Miezi rief, es solle doch geschwind einer von ihnen kommen und ein wenig helfen, es seien noch ziemlich Leute da, und sie werde nicht recht fertig. Dienstfertig eilten die zwei Vettern hinein, wo Rico sofort sachverständig eingriff, während es Hans Spaß machte, mit den Anwesenden, die warteten, ein wenig zu scherzen. Unter Ricos Hilfe leerte sich die Apotheke, und Miezi hatte Zeit, aus der berühmten Schublade ein Stück Kandiszucker herauszunehmen und es Rico in den Mund zu stecken, während sie Hans, der auch etwas wollte, auf die Hand schlug.
»Faulpelz du, wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen!«
Da klingelte die Ladenglocke, und herein kam eine fremde Frauensperson, warm gekleidet. Sie trug ein Köfferchen, eine Tasche und einen Schalpack, und führte an der Hand ein kleines, etwa sechsjähriges Mädchen. Auch das Kind hatte ein Körbchen in der Hand, im Arm aber trug es eine ziemlich große Puppe, die es fest an sich drückte. Offenbar waren die zwei nicht von hier, und Miezi, die alles Fremdartige interessierte, trat näher hinzu und war sehr erstaunt, als die Frau, in echtem Schwyzerdütsch, dessen sie sich so gut von ihrer Reise her erinnerte, frischweg sagte:
»Sind Sie 's Fräulein Neumeyer? Do bring ich das Chind! Mir händ e großi Reis hinter üs, und es wird guet si, wenn die Chli bald is Bett chunnt! Ich mueß am zwölfi wieder hei zue und darf viellicht, eb i gang, no um e nes Tellerli Suppe bitte. s wird guet si, wil d' Nächt doch scho es bitzeli chalt sind.«
Was war das, was wollten diese Leute? Miezi sah sich jetzt erst genauer das Kind an. Unter seinem pelzbesetzten Mäntele sah ein grellgelbes Kleidchen hervor, und trotz der späten Jahreszeit hatte es doch noch bloße Beine und trug feine, ausgeschnittene Schuhe. Als die Frau aber sorgsam dem Kinde seine Mütze abnahm, es war eine von bunter Seide, wie sie damals in Neapel viele Kinder trugen, und als darunter ein Lockengewirr von schwarzen Haaren hervorkam, und ein paar tiefdunkle Augen Miezi etwas scheu streiften, da hörte der Vater im Laboratorium nebenan plötzlich einen Schrei. Er eilte herbei, in der Meinung, es sei Miezi etwas geschehen. Wie erstaunte er aber, als er Miezi am Boden knieend sah, eine kleine Gestalt fest an sich drückend, während Rico gleich darauf dasselbe fremde Kind in die Höhe hob, es auch leidenschaftlich in die Arme nahm und küßte und jauchzend dabei ausstieß:
» Sorella mia … Angelina mia!«
Das war eine Überraschung. Und auf lautes Rufen kam die Mutter herabgeeilt, und Inge, die in der Küche half, und auch die beiden Mädchen liefen nach, denn der Lärm unten war groß geworden, und Putzi stürzte ihnen entgegen und schrie:
»Rike, Rike, schnell, ein Zigeunerkind ist da, und der Rico und die Miezi können es gar nicht genug verküssen!« Da standen nun alle Neumeyerischen, und was dazu gehörte, herum, und es gab ein Verwundern und ein Fragen durcheinander, so daß der Vater Ruhe gebot:
»Laßt uns doch endlich einmal hören, wer die Frau und das Kind eigentlich sind,« sagte er, denn der vorsichtige Mann mochte gar nicht, wenn einem so etwas Unbekanntes urplötzlich über den Hals kam, und energisch stellte er deshalb die Frage an die fremde Frau: »Wer sind Sie, und woher kommen Sie?« Worauf diese kurzweg antwortete:
»Ich bi doch 's Vreneli us Luzärn. Und wil üsers Fräulein nit rächt wohl isch und wil das Meiti doch trotz dem gueten Esse, wo mir händ, nit trüet hät, so hät üsi Frau gseit: ›Vreneli, so leid es mir tut, es bleibt uns nichts anderes übrig, als daß Sie mit dem Kind reisen, dahin, wo es hingehört; denn mit ganz fremden Leuten geht es einem schon gar nicht!‹ Und so sind mer g'reist und so sind mer jetzt ebe do und ich frog: Händ ihr denn üse Brief nit übercho?« Fragend sah sich die Frau um und eins ums andere sagte:
»Ein Brief? … Einen Brief? … Und von wem? …«
»Hä, vo üserm Fräulein Ruth und drin steckt no ne Brief von Herr Neumeyer, der g'fange isch und dem die Chlini do ghört.«
Nein, einen Brief hatte niemand erhalten, aber jetzt kam Leben in die ganze Gesellschaft, und jedes empfand Freude, daß das verlassene Kind des armen Bruders nun da war, und daß man es verpflegen und liebhaben könnte. Nur Rike, die bei der ganzen Erörterung stumm geblieben war, brummte Minele an: »Natürlich, was von dort her ist, kommt doch von jeher nicht zur richtigen Zeit an, – jetzt gerade, wo Samstag abend ist, und ich habe meine Treppe noch nicht geputzt.« Aber dann war sie die erste, die hinaufeilte, um das Nachtessen zu beschleunigen und für die Kleine schnell einen jener gebrannten Kinderbreie zu bereiten, die eine Lieblingsspeise der Kinder vom Hause waren.
Im Triumph wurde dann auch die kleine Angela die Treppe hinaufgeführt, vorerst ins Wohnzimmer, wo ihr zuerst all ihre Hüllen abgenommen wurden, und wo nun die zierliche, dunkelhaarige kleine Person stand und sich umschaute, und die Anwesenden mit nicht sehr wohlwollenden Blicken musterte. Der Rico gefiel ihr von Anfang an am besten. Zu ihm hielt sie sich auch in dem großen Kreis und hielt seine Hand fest. Die andern, besonders das Mädchen, das Inge hieß und ihr gleich ihre Puppe abnehmen wollte, gefielen ihr gar nicht. Auch der Junge, der, die Hände in den Hosentaschen, dastand und sie immer anstarrte, flößte ihr kein Vertrauen ein. Eine große Enttäuschung war für alle, außer für Rico, daß die Kleine fast kein Deutsch sprach. Das hatte sie in den Monaten, wo sie mit der Peppina allein war, und in der Gesellschaft der Enkel der alten Rosalia ziemlich vergessen. Hunger hatte aber das Kind, und es erfüllte Rike mit Freude, als sie nachher sah, daß die kleine Fremde neben ihrem Brei noch zwei der größten Pfannkuchen gegessen hatte.
»Es war gut, Hans, daß wir frische Eier dazu hatten,« sagte Rike. »Sie brauchen nicht gleich zu wissen, daß das bei uns in der Kriegszeit jetzt etwas Seltenes ist, und sie sollen's nur gleich da drunten ihren Italienern wieder erzählen, daß wir noch nicht am Verhungern sind und daß die uns noch lang nicht mit ihrer Verräterei umgebracht haben!«
Rike dachte nicht daran, daß weder das Ureneli, das doch zu dem Fräulein Stadelmann gehörte, noch Angela in der nächsten Zeit den Italienern etwas erzählen konnten.
Mutters und Rikens erste Sorge war nun, eines der Kinderbetten vom Speicher herabzuholen und es schleunigst zu überziehen und eine Wärmflasche hinein zu stellen. Daß die kleine Base, wenn je sie nach L. kommen würde, bei Miezi in ihrem Zimmer schlafen würde, das war schon lange ausgemacht. Das Vreneli, das inzwischen in der Küche mit den beiden Dienstmädchen vom Hause Bekanntschaft geschlossen hatte, half nun noch beim Auspacken der vielerlei Sachen, die der junge Gast mitgebracht, – Hemden und Höschen mit viel Stickereien, bei welchen aber Minele sagte: »Ui, ist das aber mühsam zu bügeln.« Auch hing, zu der beiden Mädchen Entsetzen, manch Fetzlein Zerrissenes und Ungeflicktes herab. Rike aber schüttelte den Kopf über die große Anzahl der sehr hübschen, aber in ihren Augen doch wieder sehr »fratzigen« Kleidchen. Miezi, die ab und zu ging, ließ Angelas Bettchen sofort neben das ihrige stellen, obgleich sich diese bis jetzt ihr gegenüber noch sehr wenig zuvorkommend gezeigt hatte. Sie mochte wohl das Küssen und das wiederholte Umarmen von »dieser Miezi« nicht und wischte sich auch jedesmal danach mit ihrer braunen Hand das Gesicht ab.
Nach all den eiligst getroffenen Veranstaltungen war es inzwischen spät geworden, und Angela sollte auf dem Sofa im Wohnzimmer etwas vorschlafen, was das müde Kind auch sofort gerne tat, besonders weil Rico neben ihr saß und immer wieder die kleine Hand des Schwesterchens streichelte. Sein Herz war ja so übervoll. Die Mutter, die Mutter, der die Kleine neben ihm so sehr glich, der Vater, das Heim, und sein Volk – sein liebes, geliebtes Volk, wie unerreichbar ferne war ihm jetzt das alles! – Nun war aber doch ein Stückchen von alledem zu ihm gekommen, und was für ein herziges! Und immer wieder flüsterte er leise vor sich hin:
» Sorella mia – mein Schwesterlein!« Und er strich ihr mit zärtlicher Hand eine der in ihr Gesichtchen gefallenen schwarzen Locken zurück.
Die Eltern hatten Vreneli, ehe sie auf die Bahn mußte, noch hereingerufen und sich von ihr alles erzählen lassen, was sie wußte. Viel war's nicht, denn was in Luzern geschehen, das interessierte den Herrn Stadtrat und seine Frau jetzt gerade nicht sehr. Das Vreneli war auch etwas aufgeregt, ganz allein hatte es noch nie eine Reise gemacht, aber es war von ihrer Herrin von Luzern aus schon vorgesorgt worden, daß es ein Zug war, wobei sie nicht umsteigen mußte, und daß sie ihre Fahrkarte in der Tasche hatte … Fürsorglich nestelte das Vreneli noch ihre Tasche auf, worin sich die Fahrkarte befinden mußte, und sie hatte sie, zu ihrer Beruhigung, auch gleich entdeckt. Aber was war das, was in dem schmalen Seitentäschchen sich befand, und was sie mit einem gelinden Schrecken hervorzog und in der Hand hielt?
»Der Brief! Potz tusig!« Der Brief, der nicht angekommen war! So war dieses Rätsel gelöst, und wenig interessierte es mehr die Familie, Vrenelis eifrige Entschuldigungen und Gründe mitanzuhören, wie sie ihn »ganz gwüß gester z'obe in Iwurf to häb und gar nit begriefe chönn, wie er i sini Täsche chäm und wie sie ebe jetz nur um Entschuldigung bitte chönn!« Das wurde ihr gern gewährt, denn die Eltern hatten jetzt doch den Brief mit seinem Inhalt.
Das Vreneli aber wurde von Minele noch an die Bahn geleitet und in den richtigen Wagen gesetzt. Unterwegs hat sie dem Mädchen das Herz schwer gemacht, indem sie allerhand von der kleinen Reisegefährtin zu erzählen wußte, daß sie eben gar kein folgsames Kind sei, und daß sie – man denke – sogar einmal die Zunge gegen die brave Fräulein Ruth herausgestreckt habe!
Sofort nach des Vrenelis Weggang hatte Rico hastig die wiedergefundenen Briefe erfaßt und vorgelesen. Vor allem den vom Vater, und er lautete:
»Ihr Lieben alle in der Heimat, darunter vor allem mein Rico!
Wir haben heute eine sicherere Gelegenheit als sonst, einen Brief an Euch zu befördern, denn einem der internierten Halbitaliener wurde es erlaubt, zu den Seinen zurückzukehren – er hatte gute Fürsprecher. Er ist von Varese, das an der Schweizer Grenze liegt, und verspricht, die Post selber in nächster Zeit hinüberzubringen. Er will einen zweiten Brief, den ich an die beiden Damen Stadelmann geschrieben, auch sicher befördern, und so konnte ich endlich einmal handeln. Aus beiliegendem Brief meines Vertrauensmannes, Signor Rigutini, erseht Ihr, daß meine pekuniäre Lage ungünstig ist. Mein so blühendes Geschäft ist in italienische Hände übergegangen, und wenn der Krieg zu Ende ist, so werde ich vor dem Verlust meines mit soviel Mühe in vielen Jahren erworbenen Vermögens stehen. Durch Rigutini konnte ich nun Peppina, die treue, in deren erzieherischer Hand ich aber mein Kind nicht lassen möchte, benachrichtigen, daß sie, in einer Woche etwa, Angela an die Schweizer Grenze bringen solle. Die Damen Stadelmann bat ich, mir den großen Dienst zu erweisen und das Kind dort abzuholen. Von dort aus weiß ich ja gewiß, daß mein Liebling sicher zu Euch befördert werden wird. Und dann kann mein Herz endlich etwas ruhiger sein. Daß Ihr mein Liebstes, was ich noch habe, treu aufnehmen und über es wachen werdet, weiß ich, und ich hoffe nur das eine, daß Euch ihr lebhaftes Temperament, lebhafter als Ihr's bei deutschen Kindern gewohnt seid, nicht zuviel Mühe machen werde. Rico, dem ich die kleine Schwester ganz besonders ans Herz lege, wird Euch darin helfen. Bedrückend ist mir, daß ich Euch gegenwärtig kein regelmäßiges Kostgeld werde schicken können. Gott gebe aber, daß ich's später einholen kann. Wenn Ihr diesen Brief leset, so ist wohl mein Kind schon bei Euch, und ich schließe es im Geist in meine Arme und küsse seinen süßen Mund.
Gott mit Euch allen! Ich komme in dieser großen Einsamkeit, in der ich lebe, ihm näher als im Weltgetriebe, und das ist vielleicht sein weiser Rat, warum er einen in solche Lagen führt. Doch über solches läßt sich nicht schreiben, aber vielleicht einmal sprechen.