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Erster Teil:
»Fräulein Nur-noch«


Erstes Kapitel

»Fräulein Nur-nochs« Kinderzeit

 

»Miezi!«

»Ja.«

»Miezi, so komm doch!«

»Ja, gleich.«

»Aber Miezi, es ist die höchste Zeit, deine Aufgaben zu machen!«

»O Fräulein, nur noch ein bißchen!«

Die zwölfjährige Miezi, zu ihrem Ärger seit kurzem in der Familie »Fräulein Nur-noch« genannt, saß unten im Garten über ein Geschichtenbuch gebeugt und wollte in Hast und Eile das letzte Kapitel noch auslesen. Sie wußte, daß sie hinauf sollte, das Lesen war jetzt kein Genuß mehr, die schönsten Stellen mußte sie überhüpfen, während sie heute abend Zeit gehabt hätte, alles behaglich zu lesen. Fox, der kleine weiße Hund mit den braunen Flecken im Gesicht, die ihm einen solch drollig-ernsten Ausdruck verliehen, fühlte, daß etwas nicht in Ordnung war, und er zupfte Miezi an ihrer weißen Schürze.

»Laß mich doch!« sagte sie ärgerlich, und durch die unmutige Bewegung, die sie machte, blieb ein Stück von dem bestickten Besatz zwischen Foxens spitzen Zähnen hängen.

»Wau, wau!« machte der ganz erschrocken und besah sich schnuppernd die Sache. Dann aber schien ihm der nette, längliche Fetzen zu behagen – er war eben doch nur ein Hund, dazu ein sehr junger – und das Stück Zeug lustig nach rechts und links schwenkend, raste er wie toll rings um den Rasen, so daß Miezi trotz der Spannung, in der sie sich befand, ein paar Mal aufschauen und lachen mußte.

»Hörst du denn wieder gar nichts?« sagte in diesem Augenblick eine Stimme, und das Kinderfräulein, das oben im Lernzimmer vergeblich gewartet hatte und nun recht ärgerlich herabgekommen war, wollte Miezi das Buch wegnehmen. Diese aber wehrte sich energisch und hielt, immer dabei weiterlesend, denn nun war wirklich nur noch eine Seite zu überfliegen, das Buch hoch über ihrem Kopfe, um es eine Minute nachher siegreich zu schwenken und zusammenzuklappen.

»Gut ist's ausgegangen, hurra! Heidi ist doch wieder in ihre Berge zurückgekommen,« sagte Miezi seelenvergnügt, aber Fräulein Julies Gesicht war nicht so heiter.

»Wie du mit deiner Übersetzung und dem Gedicht, das du heute noch lernen sollst, fertig werden willst, ist mir unklar. Hans arbeitet seit einer Stunde und hat nun den Abend frei. Er will um den Kaninchenplatz einen Zaun machen und das kleine Haus schön weiß und rot anmalen. Es sind in den Töpfen, die die Maler gestern dagelassen haben, noch etliche Farbenreste.«

»O, ich will auch, ich will auch!« rief Miezi erregt. »Den Zaun um mein Gärtchen will ich grün anstreichen, und die Hütte von Fox blau und gelb.« Und sie hüpfte vor Vergnügen von einem Fuß auf den andern, während sie neben Fräulein Julie dem Hause zuging.

»Ja, wann, möchte ich fragen, gedenkt Fräulein Miezi all das zu tun?«

»O, gleich, mit Hans!« war die Antwort, aber sie klang ein bißchen zaghaft, denn die dummen Aufgaben fielen Miezi ein, auch waren Fräulein Juliens Blick und Kopfschütteln nicht ermutigend.

»Nun gut, also ein bißchen später, aber Hans darf nicht fertig sein, ehe ich hinunterkomme!«

Hans war Miezis Lieblingsbruder, er war nur ein Jahr älter als sie, also dreizehn, und mit ihm zusammen etwas auszuführen, war ihr größtes Vergnügen.

Oben im Kinderzimmer saßen Lore und Inge, die zwei unzertrennlichen Drei- und Vierjährigen, inmitten einer großen Puppenwirtschaft. Sie empfingen die Schwester mit Jubel.

»Sau, Miezel, was wir demacht haben,« rief Lore. Sie konnte noch nicht ganz richtig sprechen und wurde deshalb von Inge beständig verbessert.

»Man sagt nicht sau, man sagt schau!« warf diese ein.

»S–s–sau,« wiederholte Lore gutmütig. »Sau, Miezel, da sin alle unsere Tinder, und die sin dewaschen und detämmt!« Das war richtig, sämtliche Wachsgesichter sahen danach aus, und die Flachshaare standen nach allen Seiten hinaus.

»Jawohl, detämmt,« begegnete Lore einem wieder verbessernden Einwurf des Schwesterchens, »und jetzt tommt die Eisenbahn, sch … sch … un alle dehen in zottolodischen Garten.«

»Zoolodischen sagt man,« fiel Inge ein. Mit einigen Buchstaben war auch sie nicht so ganz sicher.

»Sei still du,« schalt Lore, nun doch etwas ungehalten über das beständige Unterbrechen. »Wir müssen jetzt alle danz still sein, weil die Musik anfängt, und dann freien alle so, und dann fliegt ein Ballufttallon« – wie Lore, allerdings sehr unrichtig, statt Luftballon sagte.

Die Kleinen hatten wirklich all das ganz herzig hergerichtet. Sämtliche Tiere der Arche Noah standen innerhalb einer Mauer von Dominosteinen, die entzückende Verzierungen hatte von den Nummern des Lottospiels. Die kleine Lore mit ihrer sinnigen Art hatte ganz wundernette Ideen, daß man sich oft nur wundern mußte. Mitten drin stand, ein Riese unter den Tieren, so wie sich's gebührte, Brüderchens Elefant. Die Puppen saßen auf kleinen, die zwei Mädchen auf größeren Stühlchen, und der erst einjährige Putzi auf der Kinderfrau Arm durfte einstweilen an einem Faden den roten »Ballufttallon« halten. Das Ganze sah wirklich vielversprechend aus, und als Inge nun trommelte und Lore in eine Trompete blies, da lief Miezi rasch – da mußte man doch auch mittun – ihr Drehörgelein zu holen. Während sie dann drehte, brüllte sie zur Wonne der Kleinen abwechselnd als Bär und als Löwe. Das Brüderlein kreischte und strampelte, Fox bellte, und das Ganze war wirklich wundervoll »zoolodisch!«

»Ach Fräulein Ju, bitte nur noch ein bißchen, es ist zu schön gerade,« bettelte Miezi wieder, als diese, von neuem mahnend, unter der Tür erschien.

Fox, der unendlich gutmütig war, wurde nun auch noch hinter den Elefanten als Giraffe, wie die Kinder entschieden, gesetzt. Neben ihn lehnte Miezi des kleinen Bruders Hampelmann, dem sie mittels einer Stecknadel die lange Schnur des roten Ballons in die Hand gab. Selbst Fräulein Julie mußte lachen über diese lustige kleine Welt. Aber nur einen Augenblick lang, dann sagte sie ernst: »Nun Miezi, kommst du! Jetzt haben wir halb sechs, und wie du mit deinem ewigen »nur noch« heute fertig werden willst, ist mir ein Rätsel!«

Miezi wollte eben noch einmal: »nur noch« sagen, aber die Worte: »halb sechs« hatten sie nun doch erschreckt, und sie sprang rasch auf. Plötzlich war ihr eingefallen, daß die Übersetzung ziemlich lang und schwierig war, und dann das Gedicht!

Für morgen Nachmittag hatte ja die Fürstin des Landes ihren Besuch in der Schule angesagt, die drei besten Schülerinnen, zu denen Miezi gehörte, sollten das Empfangsgedicht lernen – das hatte die Vorsteherin bestimmt – und wer von ihnen es dann am sichersten konnte, durfte es aufsagen und einen Strauß dabei übergeben.

Wie sehr, o wie sehr wünschte Miezi, daß es sie treffe, und sie zweifelte auch gar nicht daran, denn sie sprach weitaus am besten, und erst neulich hatte die Lehrerin sie deshalb den andern als Beispiel hingestellt.

Endlich im Lernzimmer am Lerntisch mit dem Fräulein sitzend, wollte sie rasch zuerst hinter die Verse gehen, aber Fräulein Julie erinnerte daran, daß die Aufgaben für morgen doch vorgingen. Mißmutig machte sich Miezi an das Übersetzen. Für gewöhnlich fiel ihr das nicht schwer, aber heute wollte es doch auch gar nicht gehen. Erstens war ihr Kopf noch voll von Heidis Schicksalen und auch vom Spiel der Kleinen, dann kam die Zeit, wo Fox gewöhnt war, mit den Kindern ins Freie zu gehen oder im Garten zu tollen, und er ließ ihr keinen Augenblick Ruhe. Der Hund liebte sie am meisten, und er wollte nun, daß sie mit ihm herumspränge. Dann aber, und das war das ärgste, wußte sie Hans bei der lustigen Arbeit. Immer wieder: »nur geschwind« mußte sie ans Fenster springen und sehen, wie weit die Anstreicherei gediehen war. Das rote Dach des Hasenpalastes war inzwischen fertig. Hans pinselte schon an den weißen Wänden und verstieg sich dann zu prächtigen, grünen Fensterkreuzen. Es war zum Verzweifeln, nicht dabei sein zu können. Miezi schrieb drauf los – flüchtiger als sonst. Sie schenkte es sich, im Wörterbuch nachzuschlagen, nur rasch, nur rasch, es mußte ja noch reichen, vor dem Nachtessen hinunterzukommen …

Es hätte zur Not auch gereicht. Aber in der Hast und beim Umdrehen stieß Miezi an das frischgefüllte Tintenfaß. Noch nie war ihr damit etwas passiert, denn es stand auf festen Füßen. Es schwibbte auch nur ein kleines bißchen von dem Inhalt heraus, aber das genügte, um ein kleines schwarzes Bächlein auf dem eben Geschriebenen zu hinterlassen, und nur durch Fräulein Julies rasches Zugreifen wurde es verhindert, sich fröhlich auch noch über den Tischrand auf Miezis Kleid zu stürzen.

Mit Hilfe des Tafelschwammes und sämtlicher, den Schulheften entnommenen Löschblätter wurde das schwarze Naß getrocknet. Aber trostlos sah Miezi auf die graue Fläche. So durfte sie die Arbeit nicht abliefern, die unbrauchbaren Seiten mußten künstlich aus dem Heft getrennt, und dann – es blieb nichts anderes übrig – noch einmal geschrieben werden.

Miezis Kopf glühte, und sie schrieb, ab und zu einen Blick auf die Kuckucksuhr werfend, die im Lernzimmer hing, in größtem Eifer. Nach sieben Uhr konnte sie mit der Arbeit fertig sein, um halb acht kam Vater zum Nachtessen, dann hatte sie doch noch eine Viertelstunde, und morgen, ja, da wollte sie sich sofort nach der Schule hinters Lernen machen, da sollte nichts sie abhalten.

Hans, der geschwind heraufgekommen war, hatte ihr versprochen, er würde ihr bei Foxens Hütte helfen, und er hatte bereits die nötigen Farben mit Kennerblick ausgesucht – gelb, grün und blau, ganz nach der neuesten Art – hei, das sollte fein werden!

Jetzt war Miezi wieder auf der letzten Seite angelangt, jetzt an der letzten Zeile, und jetzt, rasch, rasch, noch hinuntergesprungen und noch einen Blick wenigstens auf Hansens Kunstwerk geworfen. Fünf Minuten waren noch übrig, bis Vater kam. – Sie begegnete ihm aber auf der Treppe.

»Wohin noch, Wildfang? 's ist Essenszeit! Geschwind die Hände waschen, sie scheinen's nötig zu haben!«

»O Vater, gleich, – ich komme gewiß gleich, nur noch …« hastete Miezi, und, vier Stufen auf einmal nehmend, war sie unten und quer über den Rasen und die Beete hinüber bei Hans. Was hatte aber wohl der, daß er so erregt auf einen kleinen Jungen einsprach: »Du mußt sie dalassen, denn wir sind heut nicht fertig geworden und brauchen morgen die Farbentöpfe auch noch!«

»Das gehe leider nicht, hat mein Meister gesagt, länger als einen Tag könne er sie den jungen Herrschaften nicht lassen, und ich müsse alle heut Abend noch heimbringen, damit er die neuen Farben anmacht!« Mit diesen Worten faßte der Malerlehrling die Töpfe, fuhr mit je einem Finger durch die einzelnen Henkel und trottete, unbekümmert um Miezis Geschrei: »Aber ich hab ja meine Hütte noch nicht angestrichen,« davon.

Je gelungener Hansens Werk war, desto trauriger war Miezi, daß sie um diese Freude gekommen war, und rot vor Ärger und Aufregung, dazu richtig mit ungewaschenen Händen, kam sie zu Tisch.

»Natürlich erscheint Fräulein Nur-noch wieder zu spät, haben's ja kommen sehen!« schalt der Vater, und beide Eltern zeigten auch gar kein Verständnis für den Jammer ob der entschwundenen Malfreude, obgleich Miezis Lippen zuckten, und sie am liebsten geweint hätte. Doch Hans, der Mitleid mit der Schwester hatte, raunte ihr zu:

»Es wird schon einmal irgendwo noch Farben geben, und nach dem Nachtessen spielen wir noch Fangen ums Haus und Seiltanzen auf den Brettern unten, das ist auch lustig!«

Miezi war wirklich froh an dieser Aussicht, denn von all dem Gehetze hatte sie Kopfweh bekommen. Doch kaum war sie unten ein paarmal herumgerannt – Lilli Fischer von nebenan war auch dazu gekommen – als Fräulein Julie von oben herabrief:

»Aber Miezi, ich bitte dich um alles in der Welt, was soll denn aus deinem Gedicht werden? Wann willst du's eigentlich lernen? Morgen früh bist du ja in der Schule!«

»Ich kann's doch schon beinahe!« rief Miezi hinauf. Sie schickte sich aber trotzdem an, dem Ruf zu folgen, denn sie wußte wohl, wie es an manchen Stellen doch noch haperte. Als aber Lilli sich die Fußsohlen ankreidete und schön, genau wie Seiltänzer, auf einem Balken balancierte, da wollte Miezi es ihr doch schnell auch nachtun, und aus dem »nur noch« wurde wieder eine halbe Stunde.

Nun saß sie wirklich hinter ihrem Buche, aber in jämmerlicher Stimmung, denn die Mutter, die ihre Tochter längst beim Lernen wähnte, hatte sie überhört, und es stellte sich heraus, daß Miezi keine einzige Strophe fehlerlos konnte.

Mit zugehaltenen Ohren saß sie nun am Tisch und lernte und lernte. Wer hätte auch gedacht, daß diese dummen Verse so ganz besonders schwer wären. Sie hatte sie doch schon ganz gut gekonnt. Es wurde halb zehn und zehn Uhr. Hans war längst zu Bett gegangen. Fräulein Julie mühte sich redlich zu helfen. Die Mutter kam kopfschüttelnd von Zeit zu Zeit nachzusehen. Miezis Kopf war wie vernagelt, nichts wollte helfen. Sie war todmüde und unglücklich, und schließlich nahm ihr die Mutter das Buch aus der Hand und sagte: »So spät kann niemand mehr lernen! Vielleicht gelingt es dir morgen vor der Schule noch, wenn nicht, so sagt's eben eine andere her!«

Schon vor Tagesgrauen stand das gute Fräulein Julie vor Miezis Bett, sie zu wecken. Es brauchte aber eine Weile, bis dies gelang, denn Miezis Kopf schmerzte noch heute von gestern Abend her. Ein bißchen besser ging's aber dann doch, und nach dem Waschen und Frühstück fühlte sich Miezi viel frischer und freier, und die Verse liefen flott.

Nach der letzten Schulstunde, wo rasch Probe gehalten wurde, machte sie zwar wieder ein paar Fehler, aber da sie weitaus am besten aufsagte, wurde sie zur Sprecherin erwählt, und glückselig kam sie nach Hause. Fräulein Julie und die Mutter freuten sich auch.

»Ziehe vor allem deine neuen Strümpfe an, heute habe ich dir zu diesem Ausnahmefall mit Vaters Erlaubnis ein Paar seidene gekauft, gelt, das freut dich?« Ja, das freute Miezi furchtbar, denn ihre Freundin Lilli hatte auch welche. Aber so hastig, wie die ganze Anzieherei jetzt geschehen mußte, so hastig fuhr sie auch in das feine Gewebe auf einmal hinein, statt, wie sich's gehörte, den Strumpf sorgsam überzustreifen, und plötzlich tat's einen Ritsch, und gerade über dem Knöchel gab's einen langen Riß, und recht erschrocken hielt Miezi inne. Nun war guter Rat teuer, denn die Suppe stand schon auf dem Tisch. Das schnell fortgeschickte Mädchen kam ganz aufgeregt im letzten Moment zurück, sie sei in verschiedenen Läden gewesen, und sie hätte nirgends mehr zu dem feinen Anzug passende Florstrümpfe bekommen. Es freute Miezi nicht, daß sie trotz der Ausgabe nun eben doch recht unelegante Alltagsstrümpfe anziehen mußte.

Aber bald war sie wieder in fröhlicher Stimmung, neckte sich mit Hans und versprach den Kleinen allerhand Schönes, wenn sie nach Hause käme und die Gedichtsorgen glücklich hinter sich hätte. Auf die Fürstin aber freue sie sich »furchtbar«, sie habe solch ein »gräßlich« liebes Gesicht, und Olga von Birkach, die es wissen müsse, denn ihr Vater sei irgend etwas bei Hofe, die sage, es sei möglich, daß die Sprecherin des Gedichts einen Kuß bekomme, ja, das sei schon dagewesen und wäre doch wunderschön, nur dumm, daß man nicht wieder küssen dürfe – bloß die Hand – und das müsse man so machen …

Das heute etwas früher gerichtete Essen war inzwischen vorüber, und Miezi probierte und zeigte noch den Handkuß und Knix, halb lachend, halb ernsthaft, bis die Mutter mahnte: »Nun ist es aber höchste Zeit, Kind, zum Fertigmachen!« Miezis wellige, blonde Haare wurden schön glänzend gebürstet. Sie fielen ihr fast bis zum Gürtel, die Strümpfe und hübsche Lackschuhe hatte sie schon an, und das neue weiße Kleid wurde über den Kopf gezogen. Ei, das war rosa unterfüttert, das hatte Miezi ja noch gar nicht gewußt, bei der Anprobe war das noch nicht gewesen. Ein paar Stiche mußten geändert werden – das ist immer so bei neuen Kleidern –, und als alles saß, mußte sie sich doch schnell auch den andern zeigen.

»Tu's, wenn du nach Hause kommst!« sagte Mutter und sah auf die Uhr, es war bald dreiviertel zwei.

»O Mütterchen, nur noch geschwind zu den Kleinen, nur noch geschwind in die Küche, nur noch …«

»Kein ›nur noch‹, es reicht zu nichts mehr!« rief die Mutter, und Fräulein Julie ging Miezi, die schon draußen war, nach, sie wieder zu holen. Aber ein paar Minuten lang hatte sie sich doch von den Kindern und der Köchin bewundern lassen, und Inge und Lore liefen ihr nach ins Schlafzimmer, hinter ihnen drein Fox, der auch was Besonderes witterte und nun an dem schönen, weißen Kleide hinaufsprang, so daß es fast wie gestern mit der Schürze gegangen wäre.

»Das Tier soll hinunter in seine Hütte!« befahl der Vater. Fox tat das ungern, denn er war noch jung, lief gern fort und sollte erst gezogen werden.

»Macht die Hof- und Gartentüre fest zu, daß er nicht durchgehen kann,« befahl der Vater, und Hans führte den Widerstrebenden weg.

Nun waren's nur noch fünf Minuten.

Mit hochrotem Gesicht flog die nun endlich fertig Gewordene die Treppe hinab. Aufatmend schaute die Mutter zum Fenster hinaus ihr nach. Wo steckte denn aber das Mädel nun wieder? …

Miezi war in rasender Hast über den Hof gelaufen, um dem ihretwegen verbannten Foxel noch ein ermunterndes Wort zuzurufen, was gut gemeint, aber verfehlt war, denn der Hund heulte laut auf ob der Kürze dieser Güte. – Dann erblickte die ängstlich nach ihr ausspähende Mutter sie plötzlich, wie sie, statt rechts zur Schule, nach links rannte.

»Aber Miezi, es ist wirklich unfaßlich, wie leichtsinnig du bist!«

»Nur noch geschwind Lilli abholen, ich hab's doch versprochen …« Die Mutter seufzte und wollte eben Fräulein Julie nachschicken, als sie die beiden Mädchen in größter Eile der Schule zurasen sah, Miezi noch zwei Längen vor Lilli voraus, denn jetzt wurde ihr selber angst. Es war etwas nach zwei Uhr, als die beiden, völlig außer Atem, in ihre Klasse eintraten.

»Wir haben schon geglaubt, Fräulein Nur-noch sei ein Unglück zugestoßen,« sagte die Vorsteherin, zum ersten Male Miezis Necknamen gebrauchend, aber nicht in scherzhaftem, sondern in ärgerlichem Tone, denn jeden Augenblick konnte die Fürstin nun kommen.

Und richtig, man hörte auch schon Wagenrollen, und rasch wurde Miezi noch an ihren Platz geschoben, man drückte ihr den Strauß in die Hand, die Vorsteherin eilte hinaus, gleich darauf trat sie mit einer schlanken, einfach gekleideten Dame unter die Türe. Einige andere, fast elegantere Damen folgten, und Miezi, die die Fürstin nur von Bildern kannte, wußte nicht recht, vor welcher sie eigentlich knixen sollte, und als die erste vor ihr stehen blieb und ihr die Hand gab, drückte sie diese flüchtig und sah nach der nächstfolgenden Dame.

»Mach doch deinen Knix – küß doch die Hand,« raunten ihr ein paar Mädchen von hinten zu. Aber jetzt war's zu spät, denn die einfache, erste Dame hatte sich auf den schönen, roten Plüschsessel gesetzt – also, o Jammer, war's wirklich die Fürstin gewesen! Miezi schnappte nach Luft, und nun galt's vorzutreten und herzusagen. Einen Augenblick hatte sie noch Zeit, denn die hohe Frau sprach mit einigen Lehrern, die ihr vorgestellt wurden. Miezi suchte sich gewaltsam zu fassen. Aber was war das? Plötzlich wußte sie weder Anfang noch Fortgang des Gedichts. Ängstlich fragend ruhte der Blick der Vorsteherin auf ihr. Als sie aber Miezis grenzenlose Verlegenheit sah, da mußte rasch gehandelt werden, ehe man riskierte, daß alles mißlang.

»Annchen Huber soll statt Miezi Neumeyer sprechen,« raunte sie einer Lehrerin zu. Im Nu hatte diese Miezi zurückgeschoben, Annchen den Strauß in die Hand gegeben, und als die Fürstin sich nun der Klasse zuwandte, stand ein etwas schüchternes, aber regelrecht knixendes junges Mädchen vor ihr, das Ansprache und Gedicht fehlerlos hersagte und ihr zum Schluß die Hand küßte.

»Ich danke dir, liebes Kind, du hast deine Sache gut gemacht,« sagte die Fürstin, und richtig, sie gab dem Mädchen einen Kuß auf die Stirn und fragte sie allerhand Nettes und Freundliches. Oh, wie Miezi das Herz wehtat! Zum Schluß aber bekam Annchen ein kleines Kästchen, in dem auf weißem Samt eine Vorstecknadel lag, die in himmelblauen Steinen die Anfangsbuchstaben des Namens der Fürstin trug.

Diese war nun in eine andere Klasse gegangen, und Annchens Geschenk wanderte von Hand zu Hand. Währenddem war die Lehrerin zu Miezi getreten, die tief unglücklich und mit den Tränen kämpfend in einer Ecke stand. Wenn irgend einer in der Klasse, so hatte sie Annchen Huber, die bei allen sehr beliebt und die älteste Tochter einer armen Beamtenwitwe war, die ihr zugedachte Ehre gegönnt, aber bitter war's doch, furchtbar bitter. Wie war's nur auch plötzlich so anders gekommen? Sie war ja sonst noch niemals in ihrem Leben, wenn es galt, stecken geblieben, und schöner, viel schöner und ausdrucksvoller hätte sie die Sache vorgetragen.

»Wärest du doch früher dagewesen, Miezi, wie die Vorsteherin es gestern ausdrücklich gewünscht hat,« sagte die Lehrerin, »dann hätten wir noch vorher mit dir die Sache durchnehmen können. Wie konntest du auch so spät und so abgehetzt in die Schule kommen, wo du doch zuerst hättest da sein sollen.«

Dasselbe sagte nachher auch die Vorsteherin, und Annchen weinte mit, als sie Miezi weinen sah, und sie sagte, eigentlich müßte diese die Nadel haben, ob sie sie nicht nehmen wollte, was Miezi selbstverständlich nicht tat.

Zu Hause waren alle in größter Erwartung, bis Miezi heimkam, erstens wegen des Erzählens, und dann hatte sie durchblicken lassen, daß sie jedem an diesem Glückstag was schenken werde: Hans die seltenen Briefmarken, die er sich schon lange wünschte, Lore und Inge ein Schutzengelbildchen aus ihrem Album. Auch hatte sie jedem versprochen, eine Zuckerbrezel mitzubringen. Die zwei kleinen Mädchen drückten sich lange vor der Zeit, wo man Miezi zurückerwarten konnte, die stumpfen Näschen platt an der Fensterscheibe.

Vier Uhr war's, und Hans kam aus der Schule.

»Ist Miezi da? Habe vorhin den leeren Wagen der Fürstin nach den Ställen fahren sehen.«

Wieder eine Viertelstunde, Mutter sah oft nach der Uhr und sagte zu Fräulein Julie: »Mir ahnt nichts Gutes.« Da sprangen Inge und Lore von ihren Sitzen am Fenster herunter, und mit lautem Freudengeschrei: »Miezi kommt, – Miezi tommt!« liefen sie hinaus, der Treppe zu.

»Schnell die Bildchen! … Wo hast du die Bildchen?«

Aber was da heraufschlich, sah nicht freudig und freudespendend aus, und mit einem unwirschen: »Laßt mich in Ruhe!« ging Miezi in ihr Zimmer und schloß die Türe hinter sich zu.

Die Kleinen gingen klagend zur Mutter: »Miezi ist da, aber gar nicht lieb – so hat sie uns gepufft!« Inge zeigte dieses Puffen an Lore, worauf diese anfing zu weinen, als Hans, der geschwind in den Hof hinabgegangen war, hereinstürzte und sagte: »Fox ist fort! Irgend jemand hat die hintere Türe gegen die Straße aufgelassen, und nun ist er durchgegangen!«

Die Mutter, die inzwischen bei Miezi Einlaß gefordert und gar bald den von ihr geahnten traurigen Verlauf der Sache erfahren hatte, eilte auf Hansens Ruf: »Fox ist fort!« gleich wieder in die Kinderstube zurück, denn der sehr hübsche, muntere Hund war allen gleich lieb, besonders aber dem Vater, der vor kurzem teures Geld für ihn bezahlt hatte.

»Er hat noch gesagt, daß man aufpassen soll,« eiferte Hans. »Der Fox ist vom Land und die Stadt noch nicht gewöhnt, der verläuft sich und findet nie mehr zurück, das werdet ihr sehen. Dann wird er gestohlen oder vergiftet, oder von schlechten Leuten geschlachtet und aufgegessen, vielleicht vorher auch noch furchtbar gehauen und mißhandelt.«

»Hans hör auf!« mahnte die Mutter, denn die kleine, zarte Lore begann bei diesen schrecklichen Schilderungen ganz entsetzte Augen zu machen, und sie weinte laut hinaus: »Fox soll niemand hauen, er soll tommen – dleich, der liebe, dute Foxel!«

»G–gleich sagt man, und k–kommen,« verbesserte selbst in diesem Augenblick größter Spannung die immer etwas besserwissende Inge. Aber auch sie schluchzte schließlich, und Hans ergriff seine Mütze, um sich eilends auf die Suche zu begeben.

»Wenn man nur wüßte, wann und wie er fort ist, und nach welcher Richtung!«

Da sagte eine durch Schluchzen unterbrochene Stimme: »Es wird gewesen sein, als ich in die Schule ging und ›nur noch‹ nach ihm sah, vielleicht habe ich in der Eile das Hoftor offen gelassen!«

Es war Miezi, die herbeigeschlichen war. Als sie das laute Sprechen und Jammern gehört, vergaß sie ihren anderen Kummer für einen Augenblick und schickte sich an, mit Hans sofort auf die Suche zu gehen. Aber sie hatte ja noch ihr Festgewand an – es war zum Verzweifeln, bis Fräulein Julie die feinen Bänder und Schleifen gelöst – wie Miezi überhaupt jetzt dieses Kleid haßte! …

»Ich komme gleich! Foxel ist mir gewiß zur Schule nachgesprungen und wartet dort irgendwo,« rief sie dem vorauseilenden Hans nach. Das rosa Unterkleid, die Lackschuhe, die dummen Strümpfe, alles mußte erst abgelegt und das Alltagsgewand angezogen werden.

Das Wetter hatte umgeschlagen, draußen rieselte nun ein starker Regen herunter, und erst neulich hatte der Tierarzt gesagt, man müsse Fox vor Nässe hüten, da er vor noch nicht langer Zeit die Sucht gehabt, was ein neuer Grund zur Besorgnis war.

Und wieder hastete Miezi den selben Weg entlang wie vor einigen Stunden, aber nicht im Sonnenschein, Festanzug und voll froher Erwartung. Es goß und windete, auf der Straße hatten sich Pfützen gebildet, und angstvoll spähte Miezi straßauf, straßab nach einem kleinen, weißen Punkt, und in allen Tonarten lockte und rief sie: »Fox … Foxi … Foxel …!« An der Schule hoffte sie, sicher Hans zu treffen. Er sei dagewesen, sagten ein paar Buben, und wieder andere glaubten, sich eines Hundes zu erinnern, der hier herumgelaufen sei.

»Ich habe ihn noch gesehen, als die Fürstin abfuhr,« sagte eine Höckerin, die auf dem Platze saß. »Ich hab's schon deinem Bruder, der vorhin fragte, gesagt, daß das Tier wohl durch die vielen Menschen verjagt wurde und dort hinüber sprang!« Die Höckerin deutete mit der Hand nach einer langen Straße, die weitab zum Bahnhof führte. Wieder hoffte Miezi, Hans in dieser Richtung zu finden und Fox bei ihm. Die Straße war eine der belebtesten, Wagen, Omnibusse, Straßenbahnen fuhren in beängstigender Folge, und mit Schrecken dachte Miezi an Vaters Ausspruch neulich: »Hütet mir den Fox gut, er ist noch zu jung und tappig, kennt die Gefahr nicht und könnte leicht überfahren werden!«

Miezi lief und lief, Mütze und Haare trieften ihr, denn wegen des Windes hatte sie den Schirm schließen müssen. Sie kam viel weiter, als sie je allein hätte gehen dürfen, und als auch der Bahnhof hinter ihr lag, und sie in eine ganz unbekannte Gegend kam, da überfiel sie ein großes Unbehagen. Wo doch nur Hans steckte? Es fing an zu dunkeln, und sie wußte nicht, was nun tun.

Ein Straßenbahnwagen hielt eben vor ihr, und die geängstigte Miezi glaubte im Schein der Laternen den Bruder drinnen zu sehen. Rasch schwang sie sich hinauf, aber es war ein anderer Knabe, und als der Schaffner sie fragte: »Wohin?« fiel ihr auch mit Schrecken ein, daß sie ja kein Geld hatte.

Schon wollte sie beschämt wieder aussteigen, denn alle die Leute schauten sie wie eine Betrügerin an, als der Schaffner sagte: »Bist du nicht die Kleine von Apotheker Neumeyers? Dann kannst du ja später bezahlen. Nicht wahr, nahe am Marktplatz bei dem schönen Brunnen?« Er notierte etwas auf den Fahrschein und sagte dann: »Ein junger Herr – ich glaube, es war dein Bruder – wollte vor einer Viertelstunde auch einsteigen, aber ich habe ihn abweisen müssen. Hunde dürfen nun einmal nicht in den Wagen genommen werden, und der, den er in seinen Mantel gewickelt trug, sah bös zugerichtet aus, denn er ist überfahren worden, und das helle Blut lief herunter. Daß solche Tiere auch nie den Wagen aus dem Wege gehen, sondern gerade mitten hineinspringen!«

Endlos schien die Fahrt für Miezi, die ihr Taschentuch an den Mund preßte, um nicht hinauszuschreien. Foxel, das liebe, herzige Tier, durch ihre Schuld elend gemacht, vielleicht gar zugrunde gerichtet!

Endlich die Villastraße! Die Treppe hinauf raste Miezi, vor der Glastüre aber stand sie zitternd still, ihr bangte vor dem Läuten. Da hörte sie drinnen ein: »Wau, wau!« wenn auch ein schwächeres als sonst, und Fräulein Julie öffnete und sagte: »Gott sei Dank, daß du da bist, wir alle, besonders Hans, haben uns schrecklich um dich geängstigt. Er hoffte, dir zu begegnen!«

Miezi aber stürzte in eine Ecke des Korridors, wo um Foxens Körbchen herum die ganze Familie versammelt war. Vater sprach mit einem Manne, den er Herr Tierarzt nannte, und überall war noch Blut, Verbandzeug und Arznei zu sehen. Aber Foxel lag sauber und weich gebettet in seinen Kissen, nur seine eine Pfote ragte, fest auf ein Brett gebunden, steif über den Rand des Körbchens hinaus. Er zuckte, denn er wollte doch Miezi, wie immer, entgegenspringen. Ein leises Wimmern tat kund, daß er's nicht konnte. Aber als die junge Herrin tränenüberströmt zu ihm niederkniete, da leckte er mit seinem heißen, roten Zünglein ihr die Hände so eifrig, als wollte er sagen: »Nicht du allein bist schuld, auch ich war, wie ich nicht hätte sein sollen, und beide haben wir heute einen harten Tag gehabt!«

Niemand, außer den zwei Kleinen, denen ganz spät nochmals die Brezel, die sie nicht bekommen hatten, einfiel, berührte mehr, was Miezi heute alles erlebt und erlitten hatte. Manchmal ist's besser, die Menschen sagen gar nichts und schweigen.

Foxel ist bald wieder genesen, aber das steife Beinchen, das er von seinem Unfall behalten hatte, blieb Miezis Schmerz und erinnerte sie an manches. Der Name »Fräulein Nur-noch« war nach diesen Begebenheiten in der Familie und in der Schule eine Zeitlang verschwunden. Ob aber für immer, das werden wir weiter sehen.

*

Unser erstes Kapitel ist vor dem großen Krieg geschrieben. Es spielt in dem kinderreichen Hause der Familie des Apothekers Stadtrat Neumeyer in einer kleineren Provinzstadt, und ich habe die damaligen Verhältnisse geschildert, wie sie waren. Wie's später wurde, und wie sich die kleine Miezi Neumeyer, die Heldin unserer nach vielen wahren Begebenheiten erzählten Geschichte, weiterentwickelte, kann dann in den darauffolgenden Abschnitten gelesen werden.


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