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Die alte Engelapotheke. – Des Hauses Wahlspruch. – Ein fremder Besuch im alten Bürgerhaus, und warum Rike sagt: »'s ist halt ein Zigeunerle!« – Warum Tante Marias feinstes Gastbett verschmäht und Rikes Festmahl kalt wird. – Inges Schulranzen.
Die Apotheke Neumeyer war die erste in der Stadt, und in der dritten Generation schon saß die Familie dieses Namens in dem Haus, und ebenso hatte sie ihre Kundschaft auch schon von Generationen her. Es war ein bis ins Mittelalter zurückreichendes, dreistöckiges Gebäude mit spitzigem Giebel und stilvollen Verzierungen, und im ersten Stock, über der braunen Haustüre mit den stets glänzend geputzten Messingbeschlägen, schwebte ein Engel im blauen Gewand mit goldenen Flügeln, der in der einen Hand eine kleine Wage hielt, in der andern ein Etwas, das wohl einen Arzneikolben darstellen sollte. Unter diesem Gemälde, auf einem Spruchbande angebracht, standen die Worte:
»Heut
Beste Zeit!«
Viel war schon in der Stadt über diesen Spruch gesprochen worden. Die Neumeyerischen aber deuteten ihn auf die allereinfachste Weise, indem sie sagten: »Wer heut in unserer Apotheke Hilfe sucht, und nicht lange wartet, der tut wohl daran.« Der jetzige Besitzer, Karl Emanuel Neumeyer, tat sich mit Recht auf seinen bürgerlichen Stammbaum genau soviel zugute wie seine Vorfahren, waren es doch lauter ehrenwerte, geachtete Männer und Frauen gewesen. Auch seine Gattin, Maria, stammte aus gutem Hause, und die beiden durften sicher hoffen, daß durch ihre Kinder, deren sie fünf besaßen, worunter zwei Knaben – Hans und Emanuel, Putzi genannt – die weitere Erbfolge gesichert war. Miezi, nun 14jährig, war im Frühjahr wie auch Hans versetzt worden. Inge ging nun in die Schule, während das 5jährige Lorle trotz ihrem sanften, stillen Wesen herzig mit dem wilden kleinen Bruder zustande kam.
Das Innere des Hauses zeugte auch von einem seit langen Jahren bestehenden Wohlstand, aber nicht Luxus, und man durfte nur die eichene Treppe mit dem kunstvoll geschnitzten Geländer hinaufgehen und den mit prächtigen, alten Schränken versehenen Vorraum durchschreiten, so sah man, ohne daß man noch die Zimmer betrat, daß ein Kunstsinn der edelsten Art in diesem Hause geherrscht hatte. In den Zimmern selber fand sich nirgends Pracht oder Übertriebenes, aber überall war große Ordnung und gediegene Einfachheit, worauf die jetzige Herrin des Hauses ganz besonders sah. Aber schöne, glänzend gebohnte Böden, Möbel, nicht streng nach dem Stil gewählt, wenn auch aus verschiedenen Zeiten, so doch ein jedes Stück gut gearbeitet, waren vorhanden. Wenig Modernes, dies aber den Räumen angepaßt, das war sofort für einen jeden, der eintrat, der erste Eindruck, der sich gewöhnlich noch bei längerem Weilen vertiefte und dem Besucher ein gutes Gefühl des Behagens verlieh.
Es wirkte bei den meisten auch nicht störend, daß in dem kinderreichen Hause da und dort ein Spielwinkel, eine in der Sofaecke sitzende Puppe zu sehen war, oder auf dem Boden etwa ein halbausgeführtes Gebäude aus Bauhölzchen dastand. Nur ein rückwärts liegender Saal, die »schöne Stube« genannt, machte eine Ausnahme. Dort waren noch aus alter Zeit her prächtige Stücke an geschnörkelten, mit Damast überzogenen Möbeln. Ein langgestreckter Tisch stand in der Mitte, und an den Wänden hingen, fast wie in einem Schloß, angedunkelte Bilder von Neumeyerischen Vorfahren. Auf den meisten, ob die Männer ein Zöpflein trugen oder die Frauen einen Reifrock, war irgendwie das Symbol mit der Wage oder mit dem Engel angebracht. Zwei leere Plätze unten im Saal harrten noch der Bildnisse von Karl Emanuel und Frau Maria, die in ihrer Bescheidenheit und um ihres Kindersegens willen stets noch zögerten, sich malen zu lassen. In diesem etwas anfröstelnden, nicht sehr gemütlichen Raum wurden die Familienfeste, Taufen, Hochzeiten und auch die Weihnachtsbescherung abgehalten, wobei die sonst pietätvolle Frau Maria doch manchmal dachte, wenn sich doch nur etwas mehr Wohnräume oder Schlafzimmer von diesem für gewöhnlich so unnützen Raume abringen ließen! Im zweiten Stock oben waren die Schlafzimmer, und ganz oben die Kammern der Mägde oder anderen Bediensteten.
Heute, es dürften wohl etwa zwei bis drei Jahre später sein als in unserem ersten Kapitel, war große Putzerei und Räumerei im ganzen Hause. Gäste wurden erwartet, und das war nicht gerade etwas Seltenes in der Engelapotheke. Aber daß gleich eine ganze Familie kam, die man unterbringen mußte, das kam doch nicht so oft vor. Es war der einzige Bruder von Karl Emanuel, den es einst in jungen Jahren hinausgetrieben hatte, der dann in Neapel ein Großkaufmannsgeschäft betrieb und schon lange die Heimat nicht mehr besucht hatte, den man erwartete. Und zwar nicht allein, sondern mit seiner Frau, einem Knaben von fünfzehn Jahren und einem einjährigen, kleinen Mädchen mit einer italienischen Amme. Der Erwartete schrieb:
»… selbstverständlich wohnt ein Teil unserer Familie im Gasthof, und ich bitte Euch, mir dort etliche Zimmer zu bestellen.« Aber die Verwandten wollten das durchaus nicht.
»… Wenn Ihr uns endlich die Freude eines Wiedersehens macht und wir dabei Deine Frau und Kinder kennen lernen dürfen, so wohnt Ihr selbstverständlich bei uns,« wurde erwidert, und Heinrich Neumeyer, dem Neapolitaner, war's recht so, denn ach, wie lange schon hatte er sich auf diesen Besuch gefreut, und besonders auch darauf, im alten Vaterhause zu wohnen. Bruder und Schwägerin daselbst teilten diese Freude, nur war's Frau Maria ein klein bißchen bänglich zumute ob dieser ihr noch ganz fremden Schwägerin, die, in Süditalien aufgewachsen, vielleicht hier manches vermissen würde. Außerdem war sie leidend und mußte möglicherweise eine Kur gebrauchen. Da war's ja gut, daß sie eine Dienerin mitbrachte. Nur war es der Hausfrau ein wenig unbehaglich bei dem Gedanken, wie wohl ihre eigenen Mädchen, das heißt besonders ihre alte Köchin Rike, die schon seit ihrer Verheiratung im Haus war, sich dazu stellen würden. Zaghaft hatte sie ihr immer wieder erzählt von der Tüchtigkeit der Italienerinnen, und welche Hilfe sie an dieser gewiß netten Person haben werde, worauf Rikes ziemlich unwirsche Antwort: »Man wird ja sehen!« nicht gerade ermutigend wirkte. Auf die kleine einjährige Angela da freute sich die ganze Familie, sogar die Rike, und was das Minele beunruhigte, den Gedanken an die Windeln und was damit zusammenhing, schlug sie mit dem einen Wort nieder: »Wenn's das nur ist – das haben wir bei unsern Eigenen fünfmal durchgemacht.«
Und die Gäste kamen an. Es war gegen Abend, als der Zug, mit dem sie reisten, eintraf, und ein feiner Regen rieselte hernieder. Trotzdem waren sämtliche Glieder der Neumeyerischen Familie an der Bahn, bis auf Putzi, der schon zu Bett lag, und Lorle, welches immer wegen ihrer zarten Gesundheit etwas geschont werden mußte. Hans und Miezi hatten sich in den wenigen Jahren, die zwischen dem Anfang unserer Geschichte und dem heutigen Tage lagen, gewaltig entwickelt. Lang aufgeschossen war der fünfzehnjährige Hans, – ein blühendes, fast sittsames Backfischlein war aus dem damaligen Wildfang Miezi geworden. Und Inge, die seit ganz kurzem in die Schule ging, stand stolz mit am Bahnhof, befremdlicherweise den nagelneuen Ranzen umgeschnallt.
»Laß mich doch, laß mich doch!« wehrte sie der Schwester, die den in diesem Augenblick gar nicht hergehörenden Schulranzen ihr rasch abschnallen wollte. »Laß mich doch, sonst wissen sie ja gar nicht, daß ich schon in die Schule gehe.« Aber auch die Mutter fand dieses Beweisstück der Schulreife für den jetzigen Moment nicht ganz passend und wehrte deshalb Hans nicht, der ihr das Ränzlein einfach herunterriß und es rasch hinter die Wartesaaltüre stellte, denn der Zug nahte eben, und sein Knabengefühl mochte nicht, daß etwas so Dummes und Ungehöriges zuerst den neuen Verwandten in die Augen fiel. Da Inge aber diese Ansicht durchaus nicht teilte, so fing sie laut an zu heulen und zerrte im letzten Moment ihr so kostbares Eigentum wieder hervor und schnallte es schleunigst um. Der Zug hielt. Allen voran stieg ein noch ziemlich jugendlich aussehender Herr aus, der zunächst damit zu tun hatte, die unendlich vielen Handgepäckstücke, die aus dem Wagen gereicht wurden, in Empfang zu nehmen und dem bereitstehenden Gepäckträger und den vielen hilfreichen Händen zu übergeben. Dann aber half er einer jungen Frau heraus, die trotz der Schwüle, die an dem Juliabend herrschte, in Pelze gehüllt war, der – die beiden Mädchen sperrten Mund und Nase auf – ein zigeunerartiges, braunes, gleichfalls in viele bunte Tücher gehülltes Frauenzimmer folgte, das ein mörderisch schreiendes, kleines Wesen auf dem Arm hielt und ihm auf Italienisch wohl gute Worte gab, doch gerade jetzt nicht so zu schreien. Das erste war, daß die beiden Brüder, unbekümmert um alles andere, sich um den Hals fielen und sich die Hände schüttelten.
»Was bist du braun und schmal geworden, Heinrich,« sagte der Apotheker, und der Italiener meinte lachend, den Bruder mit einem schnellen Blick umfassend: »Na, das könnte man von dir nicht sagen, bist gehörig in die Breite gegangen, mein Alter!« Frau Maria aber begrüßte inzwischen herzlichst die Schwägerin, die aber, nach stürmischer Umarmung und Küssen, sehr dem Wartesaal zudrängte.
» Dio mio, wie zieht das hier außen!«
Die drei Kinder aber hatten sich sofort um das junge Italienermädchen gedrängt, und Miezi hätte ihr am liebsten das Kind mit dem dunklen Lockenkopf, von dem eine buntseidene Mütze gerutscht war, abgenommen. Aber es wehrte sich und schlang die Arme mit einem energischen: » No, no!« um seine Peppina.
Was weiblich von der Gesellschaft war, wurde nun in einen bereitstehenden Wagen geschoben, die Herren gingen zu Fuß. Hans aber, der sich umsonst nach dem von ihm mit besonderer Freude erwarteten Vetter umgesehen hatte, fragte: »Ja, wo ist denn der Rico?« Und er war sehr enttäuscht, als der Onkel sagte: »Er wird erst in ein paar Tagen nachkommen. Er soll sich die Professorsfamilie, zu der wir ihn bringen wollen, nur erst ansehen, ehe er sich entscheidet, ob es ihm dort gefällt.« Hans wunderte sich in der Stille darüber, denn bis jetzt hatte man ihn noch nie gefragt, ob das, was nötig war, ihm auch gefiele. Und er fragte nur noch mit enttäuschter Stimme: »Aber nachher wird Rico doch zu uns kommen?« worauf der Onkel, der neben ihm ging, den Arm um seinen Hals legte und begütigend sagte: »Aber natürlich, natürlich, solange die Ferien dauern, und ich hoffe, ihr werdet recht gute Freunde werden! Der Rico hatte in Neapel so wenig Kameraden.«
Viel Gäste aller Art hatte das Apothekerhaus zum goldenen Engel im Laufe der Jahre gesehen, aber eine solch bunt gemischte Gesellschaft wie die heutige, war wohl noch selten dort beisammen gewesen. Frau Maria hatte ihr schönstes und größtes Gastzimmer für das Ehepaar gerichtet, und daneben ein kleineres Zimmer für die Amme und das Kind.
»Die Mutter wird's natürlich neben sich haben wollen!« Aber diese Voraussetzung erwies sich sofort als unrichtig. Freilich erklärte die Fremde beim Eintreten das freundliche Gemach höflich für sehr schön und lobte die hübsche seidene Steppdecke und den behaglichen Diwan. »Den habe ich serr nötig!« Zum Glück sprach ja die Italiener-Schwägerin deutsch, was sie bei ihrem Mann und mit ihrem Sohn gelernt hatte. Aber nicht erbaut war Frau Maria, als der Gast, kaum seines Pelzes und seiner anderen Hüllen entledigt, sich nochmals die Betten ansah, sie befühlte und dann sehr bestimmt sagte: »O diese vielen Kissen und diese schwere Decke, das liebt und kann haben mein Mann. Aber sie sind so schwer, daß sie mich würden ersticken. Du erlaubst wohl,« und achtlos warf sie die betreffenden Gegenstände, die mit der Hausfrau feinstem, mit Stickerei versehenen Linnen überzogen waren, auf den Boden und auf einen daneben stehenden Stuhl. »Ich mache so etwas gerne gleich ab.«
»Aber nun müßt ihr doch vor allem meine süße Angela kennen lernen!« rief sie, sich umsehend. »Wo steckt sie nur wieder mit der Peppina?« Und sie huschte zum Zimmer hinaus, wo auf dem Flur großes Lachen und Kindergeschrei, und dann wieder Lachen war, und wo die Neumeyerischen Mädchen und auch Rike, etwas im Hintergrund, die fremden Gäste umstanden und bestaunten. Rike, die sich auf weinende Kinder verstand, denn geheult hatten die hier ja doch auch alle zeitweise, ging rasch in die Küche und holte eines ihrer eben erst fertig gebackenen Anisbrötchen und hielt es der Kleinen hin. Die aber schlug mit der Hand und Peppina wehrte mit sichtlichem Unmut: »Ach nein, nein, nichts essen, carina nichts so essen!« und sie wies, gleich der Kleinen, so energisch Rikens Beruhigungsmittel ab, daß Rike, schon jetzt beinahe beleidigt, das doch besonders schön gebackene Brötchen auf die Seite schob, um es nachher dem Putzi, der trotz all dem Lärm im Hause friedlich weiterschlief, auf die Bettdecke zu legen. Dann aber eilte sie in ihre Küche zurück, um den herrlich duftenden Braten zu beträufeln und sich dann ans Anrichten zu machen, denn das Essen war auf halb acht Uhr bestimmt, und die Mahlzeiten wurden im Neumeyerischen Hause aufs bestimmteste eingehalten. Dies, das heißt, daß in zehn Minuten gegessen werde, hatte die Frau Apotheker der Schwägerin gesagt, indem sie sie noch zum Waschtisch geführt und ihr auch den Wickeltisch im Kinderzimmerchen nebenan gezeigt hatte, wohin Peppina nun mit der Kleinen geführt worden war. Diese hatte sofort erfaßt, was sie nun zu tun hatte, legte das Kind, das nun wieder beruhigt war, lallte und strampelte, trocken, allerdings nicht auf dem hübschen Wickeltisch, sondern auf ihren Knien, wie sie's gewöhnt war, und dann nahm sie die Kleine an ihre Brust. Frau Maria war nun, ihrer Pflichten bei den Gästen im Augenblick entledigt, hinüber ins Wohnzimmer geeilt, um jetzt auch ihrerseits den Bruder ihres Mannes, auf den sie sich ganz besonders gefreut hatte, zu begrüßen, nicht ohne vorher rasch noch einen Blick in die Küche geworfen zu haben, wo alles in schönster Ordnung war und Rike bereits zu tranchieren anfing.
»Also, Rike, in zehn Minuten muß alles fertig sein,« sagte sie im Hinausgehen, »meine Schwägerin hat sich nur noch die Hände zu waschen, und dann gehen wir zu Tisch.«
Die Begrüßung im Wohnzimmer war die herzlichste, die man sich denken konnte. Ähnlichkeiten, trotz der Verschiedenheit der Brüder, wurden festgestellt, die Kinder wurden noch einmal präsentiert, wobei, zur größten Belustigung von Onkel Heinrich, Inge von neuem mit ihrem Ranzen erschien.
»Du bist ein Kerl, du wirst einmal eine fleißige Lernerin werden, – so waren wir einst nicht, Karl,« sagte er lächelnd zum Bruder und hob dabei die Kleine in die Höhe, um ihr einen festen Kuß zu geben. Dann wandte er sich zu Lore, die daneben stand und etwas verschüchtert dem Lob der Schwester zuhörte.
»Du Kleines brauchst noch nicht zu lernen, sei froh darüber, kannst's noch lange nachholen,« und indem er ihr blondes schlichtes Härlein auch streichelte, sagte er zu dem Bruder: »Die müßt ihr besser füttern, daß sie auch so rote Bäckchen bekommt wie die Schwester.« Auch zu dem dreijährigen Putzi wurde der Onkel noch schnell ans Bett gerufen. Frau Maria konnte es ja nicht erwarten, den Gästen alle ihre Schätze zu zeigen. Dann aber sah sie besorgt auf die Uhr im Eßzimmer. Schon fünf Minuten über die Zeit! Wenn nur das Tranchierte nicht kalt würde! Aber es wurden zehn und fünfzehn Minuten darüber, und der Gatte fragte halblaut:
»Ist denn das Essen noch nicht fertig?« Der Bruder, der das hörte, sagte etwas zögernd: »Ich werde nachsehen, wo meine Frau steckt.« Und er ging zu ihr. Aber erst nach weiteren zehn Minuten kam er zurück.
»Ihr müßt verzeihen,« sagte er, »sie ist noch nicht ganz fertig mit ihrer Toilette.« Frau Maria ging hinaus und schickte das Minele zur Hilfe hinauf. Fräulein Julie von einst war schon vor längerer Zeit entlassen worden, da Miezi ja jetzt selbständig werden sollte und längst gelernt hatte, ihre Aufgaben allein zu machen.
Der Braten hatte wirklich an seiner Güte sehr eingebüßt, als er endlich aufgetragen werden konnte, und Rikes Laune war dementsprechend. Die Neumeyerischen aber staunten über die Dame in schönster Toilette, die schließlich hereingekommen war. Und der Apotheker, der gewohnt war, seine Meinung gerade herauszusagen, bemerkte staunend: »Für wen machst du dich denn so schön, Schwägerin? – das kannst du ein andermal bleiben lassen. Wir sind ja nur unter uns und gefallen uns auch in unseren Hauskleidern, nicht wahr?«
Am nächsten Morgen kam wiederum keine rechte Ordnung mit den Gästen zustande. Daß die zarte »Frau Signora«, wie Rike beharrlich nach einem aufgeschnappten Wort ihres Herrn Heinrich, den sie ja auch von jung auf kannte, sagte, und das sie nun unentwegt festhielt, nicht früh aufstand, war allen begreiflich. Sie war ja auch hier, um sich nach einer überstandenen Krankheit zu erholen, und Frau Maria wollte wirklich ihr möglichstes dazu tun. Sie hatte sich auch einen solch guten Plan ausgedacht, wie der gewohnte Tageslauf trotz der vermehrten Arbeit eingehalten werden könnte. Wenn nur der wohlerwogene Plan hätte ausgeführt werden können! Sie selber war eine Frühaufsteherin und arbeitete gern im Hause mit. Seit Hans und die Mädchen ihre eigenen Zimmer hatten, half sie diese richten. Miezi tat auch, was sie konnte, ehe sie in die Schule ging, und da jetzt Ferien waren, dachte sich die Mutter, daß, solange die Peppina ihre Herrin oben bediente, die kleine Angela vielleicht solange bei Miezi sein könnte, welche Aussicht diese freudig begrüßte. Aber nichts wollte recht klappen. Die Signora richtete ihr Aufstehen nach den Nächten, die sie hatte. Waren sie schlecht, oder hatte sie Kopfweh gehabt wie gar manchmal, so blieb sie unberechenbar oft bis gegen Mittag im Bett liegen. Hatte sie aber geschlafen und am Tag vielleicht irgend etwas Hübsches vor, so »haßte sie das Bett«, wie sie sagte, und lief manchmal schon in aller Morgenfrühe in einer leichten Toilette im Haus herum. Dann verlangte sie zuerst, es mochte sein, wann es wollte, nach heißem Wasser zum Waschen oder gar nach einem Bad. Oder in aller Frühe, wo es ihr öfter schwach wurde, verlangte sie nach ihrer Schokolade oder abwechselnd auch nach Kaffee. Dann mußte auch Peppina früh zur Hand sein und »geisterte in der Küche herum und brachte dort alles durcheinander«, wie Rike ingrimmig sagte. Oder wieder, wenn die »Frau Signora« in ihrem Bette blieb, so mußte ihr Peppina die noch halb schläfrige Kleine bringen, mit der sie dann Späße und Unsinn machte und die sie auch um ihr regelmäßiges Frühstück brachte, um nachher das oft übler Laune gewordene Kind dann der Peppina zu überlassen. Wie schwer hatte es da die alte Neumeyerische Standuhr, deren Zeigerknacken und deutlichem Schlagen bis dahin alle Mitglieder des Hauses so anstandslos Folge geleistet hatten. Jetzt mochte sie mahnen und aufs energischste schlagen, immer gab es ein Hindernis für die Hausordnung, und auch der Friede und die Gemütlichkeit schienen bisweilen gestört zu sein.
Miezi, die seit einigen Jahren ihren Namen »Fräulein Nur-noch«, wie wir ja schon gehört, ziemlich verloren hatte, versuchte zwar trotzdem doch noch manchmal, »nur noch« dies oder jenes geschwind zwischen den geordneten Gang des Tages hineinzuschieben; aber das fiel dann selten zum Nutzen aus, weil eines und das andere dann meist beeinträchtigt wurde. Jetzt hörte sie aber plötzlich dieses Wort von einem anderen Munde aussprechen, oder vielleicht mit einem anderen Ausdruck, aber im selben Sinne, gebrauchen, und sie sah nun fast täglich die Folgen solcher Gewohnheit. Die italienische Tante war ja im ganzen eine furchtbar liebe Frau, ja, sie konnte so reizend und liebenswürdig mit einem sein, wie niemand anders, und Miezis ganzes Herz flog der schönen und auch liebenswerten Verwandten entgegen. Auch sonst war der Besuch der italienischen Verwandten die Veranlassung von mancher Freude. Wohl war Tante Gigina leidend und sollte viel liegen, was ihrem lebhaften Temperament sehr schwer fiel, deshalb benützte sie die Stunden, in denen es ihr besser war, zu kleinen Vergnügungen aller Art. Leider war im Orte selber kein ständiges Theater, wie sie gehofft hatte; aber es gab Kinos, Konzerte, Kaffees, und dann und wann auch einmal Musik in den schönen Anlagen oder in einem Garten. Da war die Tante in ihrem Element, und es schmeichelte Miezi, die sie oft begleiten durfte, gar sehr, wenn die Leute stehen blieben und der jungen, schönen, fremdländischen, nach der neuesten Mode gekleideten Frau nachsahen, oder wenn die Freundinnen sie beneideten, daß sie solch eine aufsehenerregende und dabei so herzensfreundliche Tante hatte.
Niemand konnte sagen, daß die junge Frau bewußt eitel oder gar hochmütig war. Sie trug ihre hübschen Kleider als etwas ganz Selbstverständliches und war allen, auch den einfachsten Menschen gegenüber, lieb und verbindlich. Ganz besonders entzückt aber war jedermann, der ins Haus kam, von der kleinen Angela, die, gleichfalls immer aufs reizendste gekleidet, auf dem Arm ihrer Peppina so nett und artig zum Gruß mit ihrem Köpfchen voll schwarzer Löcklein nickte oder auf andere Weise als die deutschen Kinder mit den Händchen winkte. Auch die junge, hübsche italienische Amme in ihrer prächtigen Tracht fiel überall auf, wenn sie die Kleine in dem feinen Korbwägelein fuhr, und mancher blieb stehen, um sich dies herzige Bild anzusehen. Die kleine Base hatte Miezis ganzes Herz gewonnen, und es begab sich nun auch, daß das Kind ihr manche Stunde anvertraut wurde. Die Peppina hatte ihre anfängliche Eifersucht überwunden, und sie und Minele hatten sich bald einigermaßen angefreundet. Die Folge war, daß Peppina doch bei manchem im Haushalt mithalf, soweit es die Dienste bei ihrer Dame zuließen. Eigentlich hätte sie als Amme nicht nötig gehabt, zu arbeiten, und das machte sie auch manchmal mit ihrem lebhaften Temperament geltend, aber in dem geordneten Gang des Hauses mochte sie doch nicht als einzig Müßige dastehen, und dann fürchtete sie auch Rike. Diese beharrte nach wie vor in ihrem Widerwillen gegen das »affige Ding«, und den längeren Verbleib in der Küche verwehrte Rike der Peppina strengstens, seit sie ihr zufällig einmal beim Kämmen ihres urwaldähnlichen, dichten Lockenhaares zugesehen hatte. War es gebändigt, so sah es ganz hübsch aus, aber Rike meinte: »Da kommt ja der dichteste Kamm nicht ordentlich durch, und man weiß nicht …« Und mit diesem geheimnisvollen Satz hielt sie sich die »Zigeunerin« – denn Zigeuner und Italiener waren in ihren Augen ungefähr dasselbe – möglichst fern.
Für die Schwesterlein Inge und Lore war Angela wie eine lebende Puppe, während der nun dreijährige Putzi weniger Freude an dem »Mädle, das doch gar nicht daher gehört, und die einem alles hinmacht« hatte, und dem letzteren mußte man beistimmen. Wenn die kleine italienische Base auf einem Teppich auf dem Boden zwischen den andern und den herbeigeholten Spielsachen saß, so faßten ihre niedlichen Patschhände einfach nach allem, und so zierlich sie aussahen, so kräftig war aber auch der Druck dieser Händlein. Und dann das Geschrei von Putzi hinterher, wenn sein kleines Auto ein geknicktes Rad hatte oder sein Hampelmann ein herausgerissenes Bein. Auch die Puppen mußten der kleinen, lebhaften Person ferngehalten werden. Inges pünktliche, geordnete Art, die an die der Mutter erinnerte, hatte deshalb keine große Freude an dem energischen kleinen Gaste, seit Angela ihrer Lieblingspuppe die Augen eingedrückt und die Haare ausgerissen hatte, während die sanfte, stille Lore allerlei kleine Späße und Spiele wußte, die das »Koboldle«, wie Hans das Kind nannte, unterhielten und ablenkten.
Hans war anfangs sehr enttäuscht gewesen, als sich das Kommen seines Vetters länger verzögerte, als man zuerst glaubte. Aber Onkel Heinrich wußte den Sohn gerne noch ein paar Tage länger in dem Hause, wo er ihn in Pension zu geben gedachte, auch hatte er zufällig eine kleine Geschäftsreise dahin zu machen, wobei er den Sohn auf dem Rückweg mitbringen konnte. Und »Heinrich der Zweite«, aber von klein auf Rico genannt, kam also eines Tages an und wurde von Hans trotz freudiger Erwartung doch mit einigem Bangen empfangen. Wie würden sie zusammenpassen? Der fremde Junge war, wenn auch gleichaltrig, doch fast um einen Kopf größer als der etwas gedrungene Hans, aber sonst schienen sie von Anfang an sich ineinander zu finden. Rico teilte mit Hans das Zimmer.
»O wie hübsch ist es hier,« sagte er sofort und ließ das Auge über das geräumige, helle Zimmer fliegen. Schmetterlingskästen hingen an der Wand, Blumen, Hansens Liebhaberei, standen auf einem kleinen, staffelartigen Gerüste. Und eine Ecke war als kleine Werkstätte hergerichtet, mit Tisch, Hobelbank und allerlei Handwerkszeug, worunter, o Wonne, der fremde Junge allerlei Elektrisches und Photographisches entdeckte.
Nach einem nochmaligen: »O, wie schön ist das alles, und auch, daß ich mit dir schlafen darf,« war schon in der ersten Viertelstunde ein Freundschaftsbund zwischen den beiden, eigentlich recht ungleichen Vettern geschlossen, was besonders die Väter mit Befriedigung bemerkten.
Die Wochen, die sich Onkel Heinrich von seinem Geschäft in Neapel freimachen konnte, waren leider nur kurz bemessen. Am meisten genossen wohl die beiden Brüder das ihnen nach so langer Zeit geschenkte Beisammensein. Onkel Heinrich krankte trotz seinem durch seine Tüchtigkeit aufgeblühten Geschäfte im Süden doch immer etwas an Heimweh nach der deutschen Art. Und nun traf er in der alten Heimat, und besonders in der Engelapotheke, alles fast wieder wie einst. Sein Erstes war, als er in das Haus der Väter am Markte eingetreten war, daß er tief aufatmete und sagte:
»O, der liebe, liebe alte Geruch!« Alte Apotheken haben und erhalten ja einen solchen Geruch bekanntermaßen immer. Und dann war es stundenlang, daß er unten in der neben dem Laden liegenden Arbeitsstube des Bruders saß, wo er entzückt, dem Klange der noch erhaltenen Ladenglocke lauschte, durch das Schiebfenster das Getriebe da draußen beobachtete, oder daß er mit Bruder Karl durch die Vorrats- und Verkaufsräume ging und sich alles wieder ansah. Vieles freilich war erweitert und verbessert worden, aber doch war auch manches in der einstigen Ordnung geblieben, und Karl lachte laut auf, wenn sein Bruder eine Schublade zog und sagte: »Da müssen die Zibeben gewesen sein, … da die Feigen, … und hier das Johannisbrot! … Du, hat das herrlich geschmeckt!« Und Onkel Heinrich nahm eine der harten, spröden Schoten, die es wirklich noch gab und biß hinein, um aber gleich darauf das hölzerne, fade Gewächs wieder in sein Taschentuch zu spucken.
»Das habt ihr nimmer so gut wie früher!« sagte er enttäuscht, der Bruder aber meinte lachend: »Es gibt halt vieles, was uns jetzt nimmer so gut dünkt wie in der Kinderzeit.«
Miezi, die manchmal bei diesen Gängen durch Haus und Apotheke mitlief, denn sie liebte das alte Haus und vor allem ihre Apotheke »aufs glühendste«, wie sie sagte, war glücklich, wenn die beiden Männer von den alten Zeiten sprachen, und wie es damals gewesen. Die Neumeyerischen Kinder hatten wie einst der Vater und Onkel Heinrich freien Zutritt in die Apotheke und auch die Erlaubnis, sich aus etlichen Schubladen oder Gläsern da und dort einmal eine Handvoll des Inhaltes zu nehmen. Aber bescheiden mußte es sein, und in den Schranken. Hans, der vor einigen Jahren einmal die Erlaubnis »eine Handvoll« dahin ausdehnte, daß er nicht einmal, sondern immer wieder eine Handvoll der erst frisch gekochten Malzbonbons einsteckte und dann die ganze Klasse regalierte, war für diese weitumfassende Gutherzigkeit ein strenger Denkzettel in der Art gegeben worden, daß er einen Monat lang die Apotheke nicht mehr betreten durfte.
Er, der mutmaßliche zukünftige Nachfolger in der Apotheke, mußte genau wissen, was sich, auch den älteren und jüngeren Gehilfen gegenüber, ziemte.
Mancher gemeinsame Ausflug wurde in diesen Wochen von der Familie Neumeyer gemacht. Mancher liebe, alte Ort, wo die Brüder zusammen in der Jugend fröhlich gewesen, wurde aufgesucht, Verwandte und Bekannte dabei besucht, und Onkel Heinrich erlabte sich am Wiedersehen der trauten schwäbischen Heimat.
»Aber schöner, viel schöner muß es doch bei euch da unten sein, mit dem Vesuv, der raucht und Feuer speit, und mit dem Meer und all den Schiffen darauf,« konnte Hans sagen. Aber der Onkel meinte, das ewige Feuerspeien in der nächsten Nähe gäbe er billig her, und was das Meer anbelange, so sei es freilich schön, aber für seinen Geschmack habe der Neckar genug Wasser zum Baden und Schiffahren. Die Gegenden im Schwabenland jetzt mit ihren Wiesen und Wäldern, dazwischen die kleinen, freundlichen Dörflein mit ihren Gärtchen und Feldern, und im Hintergrunde die Kette der blauen Albberge, wovon keiner wackle und rauche wie die feurigen Kerle bei ihnen unten, das sei eben doch himmelweit schöner und gemütlicher. Miezi war's hauptsächlich, die darin dem Onkel eifrig zustimmte, während Hans darauf bestand, das andere müsse doch »viel lustiger sein«, ein Wort, das ihm bis jetzt noch der Inbegriff alles Erreichenswerten war. Rico aber vermochte nicht so ganz das Entzücken seines Vaters zu teilen, auch er fand ja bei den Ausflügen, daß die Berge, die sie dabei sahen, immerhin hübsch und bequem und leicht zu besteigen seien, doch in den Tannenwäldern fand sein an Sonne und Licht gewöhntes Auge es unheimlich düster. Was den jungen Menschen aber interessierte, das waren die Dörfer, durch die man kam, und die Ordnung, die dort herrschte gegenüber dem Schmutz und dem Ungeordnetsein in Italien. Sein höchster Wunsch war, einmal Arzt zu werden, und es war der Mensch, der ihn mehr als Gegend und schöne Aussicht interessierte. Viel ausgelacht wurde er einmal in einem Dörflein, wo sie einkehrten, als er in helle Begeisterung geriet über eine im Garten in schöner Ordnung aufgehängte Wäsche, die sich blütenweiß im Wind blähte. Rico bekam einen roten Kopf, als die andern lachten, er bekam das leicht, denn in ihm wallte südliches Blut, und Spott konnte er am wenigsten ertragen. Er bezwang sich aber und sagte: »Ich denke mir dabei, daß ein jeder Deutsche frische Wäsche trägt, und das haben wir nicht.«
Die italienischen Gäste wurden ob ihrer alten Beziehungen, und auch ihrer Liebenswürdigkeit halber, viel eingeladen. Donna Gigina ging gerne unter Menschen, aber der Zwang, der dabei herrschte, und die kleinbürgerlichen Verhältnisse, brachten die Italienerin manchmal zu einem lauten Lachen, so, wenn sie durchaus auf ein Sofa sitzen sollte, wo sie doch viel lieber in einem Lehnstuhl gesessen wäre, oder dergleichen. Solches konnte ihr auch ein kräftiges »aber wie dumm, wenn mir's doch anders bequemer ist?« entlocken. Die kleine Frau war aber so reizend dabei und im übrigen so liebenswürdig, daß ihr im Grunde niemand etwas übelnahm.
Die kostbare Ferienzeit, die Onkel Heinrich schmerzlich nur zu schnell Tag um Tag entfliehen sah, und von der nun zwei Drittel vorüber waren, nahm aber plötzlich ein jähes Ende. Frau Gigina, die schon längere Zeit ein Herzleiden hatte, mußte vielleicht infolge all des Neuen und Ungewohnten, das ihre lebhafte Art noch mehr erregte, zu ihrem Leidwesen innehalten und der Ruhe pflegen, was ihr schwer fiel. Schwer war dies aber auch für Frau Maria und nicht am wenigsten für Rike, denn die überlebhafte Frau hatte, wenn sie daheim bleiben mußte, in einer Viertelstunde tausenderlei Wünsche. Der herbeigerufene Arzt verordnete für das schwache Herz öfters ein Stärkungsmittel. Hatte aber Rike etwa zwei Stunden vor dem allgemeinen Essen, das immerhin für die große Familie Arbeit und Einteilen erforderte, nach bestem Wissen ein zartes, innen noch rötliches Beafsteak als ein »Vesper«, wie man in Schwaben sagt, verfertigt und es in einer guten kräftigen Sauce, auf die sie all ihr Können verlegte, nett garniert hinaufgeschickt, so brachte Peppina es wieder herunter und sagte:
»Jetzt nicht, die Gnädige 'aben keine Lust! Erst in einer halben Stunde und dann bitte nicht in Sauce, sondern mit kleine Fisch …!« Damit war Rikes ganzes Kunstwerk zu nichte, denn das Gewünschte mußte eben gänzlich neu gemacht werden und dann kam es nach einer Stunde vielleicht auch wieder zurück mit dem Vermerk: »Ein kleine süße Pudding gnädige Frau lieber.« Zehnmal am Tag mußte Minele in den Keller hinabsteigen, und der war in der Engelapotheke sehr tief, um einen Saft oder moussierendes Wasser oder wieder eines, das nicht »so sehrr moussierend war«, heraufzuholen und es gehörte nun wirklich Frau Marias liebevolle Art dazu, die Geduld nicht zu verlieren, wenn die Schwägerin einmal eine ganz leichte Daunendecke verlangte oder nur eines ihrer seidenen Tücher und dann aber plötzlich wieder die am Anfang so rasch verschmähte warme Federdecke, oder wenn sie, nachdem sämtliches herbeigeschafft war, mit einem jähen Ruck alles wieder auf den Boden warf und sagte:
» Dio mio, was für ein Klima, einmal heiß und dann wieder kalt.« Frau Maria, nun wirklich ärgerlich werdend, fühlte sich auch fast für ihr deutsches Klima beleidigt, aber es war doch im Grunde nur das arme, kranke Herz der so Aufgeregten, und statt Unmut erfüllte sie Mitleiden und auch Angst. Der Neumeyerische Hausarzt hatte den Ausspruch getan, das Leiden sei ja nicht zu vernachlässigen, und er würde vorschlagen, da die Dame ja gerade jetzt in der Nähe der berühmten Heilanstalt für Herzleidende sei, sie zu einer Kur auf einige Wochen dahin zu verbringen. Die sorgsame Pflege daselbst und die gute Waldluft würden ihr jedenfalls guttun. Zuerst wehrte sich Frau Gigina mit aller Macht gegen diesen Vorschlag:
»Und ich will nicht und ich mag nicht von euch fort und niemand kann mich auch von meiner süßen Kleinen trennen.«
Frau Maria hatte ihr nämlich sofort vorgeschlagen, Peppina mit Angela solange hier zu lassen. Nach ein paar Stunden heftigen Widersetzens und Weinens war sie aber dann schnell für die ganze Sache gewonnen.
»Wie lieb, daß ihr das Kind versorgen wollt und Peppina wird euch sicher sehr viel dabei helfen. Sie pflegt ja die Kleine so gut. Aber das will ich, daß Rico mit mir fährt und ein paar Tage noch bei mir bleibt, bis ich eingewöhnt bin, – mein lieber Rico.« Und sie faßte die Hand des an ihrem Bette sitzenden Gatten und bedeckte sie mit Küssen. Nein, sie hatte doch trotz allem ein warmes, gutes Herz, seine Gigina, dachte dieser, und auch die andern hatten den Eindruck, daß die Ehe trotz aller Verschiedenheiten doch glücklich war. Ihr Mann hatte es eben mit einer sehr verwöhnten kleinen Frau zu tun, die einstens, früh verwitwet, furchtbar vereinsamt mit ihrem damals noch ganz kleinen Büblein dastand und sich gern unter den Schutz des großen, stattlichen, ihr so warm ergebenen Deutschen begeben mochte. Rico, der Kleine, den die Mutter bald nach ihrer Verheiratung nach ihm umtaufte, war dem neuen Vater, der Kinder sehr liebte, eine herzige Beigabe gewesen und der Knabe, Rigs gerufen, hing bald mit schwärmerischer Liebe an dem so freundlichen Manne, der so köstlich mit ihm spielen und spaßen konnte. Als nun aber nach langen Jahren seine Frau ihn noch mit einem eigenen Kinde beschenkte, da war sein Glück sehr groß. Und in dem Lande da unten, wo sich diese südländischen Frauen fast eine wie die andere glichen in ihrer mehr tändelnden, aber doch durch und durch liebenswürdigen Weise, da konnte er auch den zeitweiligen Mangel deutscher Art bei seiner Frau vergessen. Nur jetzt wieder, im Vaterland und im Rahmen seines Vaterhauses und angesichts der großen Ordnung, die hier herrschte, und des ruhigen, stillen Waltens seiner Schwägerin, hatte sich manchmal etwas Schmerzliches in ihm gerührt: ein Vermissen dessen, was er in seiner frühesten Jugend gewöhnt war. Doch das war nun eben so und die Hauptsorge bildete im Augenblick doch Giginas wankende Gesundheit.
Diese war unter vielen Tränen, aber dann auch wieder sehr getröstet, nach Waldruhe abgereist, denn beim letzten Besuch hatte ihr der Doktor erzählt, wie schön es dort sei und wie bald auch sie sich wieder im Salon unter den vielen anderen Gästen werde aufhalten können, die sich gesellschaftlich zusammen unterhielten mit allerlei Kurzweil und Zerstreuungen. Und so war sie mit ihrem Gatten und Peppina, die noch die hübschesten Toiletten eingepackt und für die ersten Tage bei ihr bleiben sollte, abgereist.