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Wie das Lorle Sorgen macht und die Sonne umsonst scheint. – Von Miezis Kummer und Blutarmut und einem Brief aus Neapel. – Allerlei Abschiedsratschläge. – Wie Miezi durchaus auf den Rigi will, und was daraus entstand. – Suchende Menschen und ein umsonst wehendes Taschentuch. – Wo ist das Schwabenmädel geblieben?
In Frieden und ohne besondere Ereignisse für die Familie Neumeyer verflog etliche Zeit. Die Kinder wuchsen heran, lernten mehr oder weniger gut und Miezi, mit fünfzehn Jahren nun der Schule entwachsen, lernte Klavier spielen, Zeichnen, und ging ins Nähen. Ein eigentliches Talent zeigte sich nicht bei ihr, und eine so recht große Befriedigung brachten ihr all diese Beschäftigungen nicht. Am liebsten beschäftigte sie sich mit den Geschwistern.
Die Familie hatte im vergangenen Jahre einen schweren Verlust gehabt, unter dem alle noch sehr litten. Lorle, das liebe, süße Lorle, das ja von Anfang an ob seiner Zartheit ein Sorgenkind gewesen, und das man auch deshalb nicht wie sein Schwesterlein in die Schule geschickt hatte, war aus seiner Puppenwelt heraus, in der es lebte und seine Freude fand, hinüber in ein anderes Leben gegangen. Inge, die dem Alter nach dem Schwesterlein ja am nächsten stand, fühlte sich wohl anfangs vereinsamt. Sie selber war eigentlich nie ein Spielkind gewesen, hatte mehr mit Putzi im Garten und Hof herumgetollt. Und als die Schulzeit gekommen, waren ihr Tafel und Fibel und ein lobendes Wort der Lehrerin das Wichtigste. Auch half sie recht gerne schon bald der Mutter im Haushalt und Rike in der Küche, wobei sie deren Liebling geworden war. Für Miezi hingegen war die kleine Lore, schon bald nachdem das Engele wieder aus ihrem Leben geschwunden war, das Liebste geworden, schon deshalb weil die Kleine mancherlei Hilfe bedurfte. Wenn das Lorle nach ihrer Miezi verlangte, so gab es bei dieser kein »nur noch« und überhaupt kein Besinnen, sie eilte zu ihr. Wenn die beiden Schwestern so einträchtig beisammen saßen, Miezi ein Märchen vorlesend oder, was Lore am meisten mochte, ihr erzählte vom guten Hirten, und wie er seine Schäflein so lieb habe, oder von den Engeln, die hinter den Sternen wohnen und von den ganz kleinen Englein, die die guten Kinder bewachen, blickten die großen Augen des Kindes wie in weite Fernen. Und Rico, der die Kleine auch sehr gern hatte, konnte dann sagen: »Das Lorle ist selber ein Engelein, und ich fürchte immer, daß es euch bald davonfliegt.« So etwas dummes mochte Miezi aber nicht hören. Lorle war ja auch dazwischenhinein oft wieder so heiter im Spiel mit ihrer ganzen kleinen Welt, freilich dann aber später wieder so müde, daß sie ins Bett verlangte.
»Was ihr doch auch nur immer vom Kranksein redet,« konnte Miezi da sagen. »Wenn man krank ist, so ist's einem schlecht, und man wird widerwärtig. Unser Lorle aber ist nie widerwärtig und der Doktor sagt, sowie das Frühjahr komme, und man sie im Garten in die Sonne setzen könne, so werde sie auch wieder mehr Appetit bekommen.«
Aber das Frühjahr kam und mit ihm die Sonne und eines schönen Tages war das Lorle eben doch wirklich krank geworden, so krank, daß es nichts mehr redete und dann hatte es, ohne jemand nocheinmal anzusehen, die Äuglein für immer geschlossen. Miezi haßte in diesem Jahr ordentlich den Frühling, denn, was hatte nun das Lorle davon, wenn die Sonne schien und ein Blümlein um das andere blühte?
Der Sommer nahte mit ungewöhnlicher Hitze, und der Arzt wünschte, daß sich die ganze Familie in den Ferien womöglich in die Berge begab. Miezi konnte sich mit den anderen darauf freuen, aber ihr bangte wieder vor der Rückkehr, vor dem leeren Bettchen des Lieblings und überhaupt, es war ihr oft so schwer und so unlustig zu Mute. Der Arzt konstatierte Blutarmut und Wachskrankheit, wie er es nannte, und daher kam vielleicht auch die in diesem Alter manchmal vorkommende übergroße Empfindsamkeit.
Wenn Miezi in dieser Zeit manchmal wieder in ihren alten Fehler verfiel und trödelte und Dinge aufschob, die getan werden sollten, so hatte die Mutter Nachsicht mit ihr. Aber lange durfte das nicht dauern, und sie hatte das Gefühl, als müsse ihr Kind durch irgend etwas aufgerüttelt werden, was ihre sonst so wohltuende Energie wieder weckte. Da geschah etwas Unerwartetes, das wie mit einem Schlage diese Frage löste, und zwar durch einen der seltenen Briefe von Tante Gigina an ihre Schwägerin, der lautete:
»… Du schreibst, mir, liebe Maria, daß Du Dich um Miezi sorgst, weil sie sich so um den Tod der süßen, kleinen Eleonora grämt … Man soll sich nie härmen, denn es leidet die Gesundheit darunter … Und was ich schreibe, ist auch im Namen von meinem Enrico geschrieben, der sich sehr freuen würde, wenn Ihr ja sagtet. In dieser Woche werden Euch Freunde von uns besuchen. Es ist eine Dame mit einer Tochter, die in der Schweiz wohnen, und in letzter Zeit eine Reise nach Napoli gemacht und bei uns gewohnt haben. Es sind serr, serr liebe Leute. Sie machen nun einen kurzen Besuch bei Verwandten in Eurem L. und kehren dann nach dem schönen Luzern, wo sie eine kleine Villa haben, zurück. Weil sich nun aber Miezi immer so für unser bella Napoli interessierte, und weil das ist so eine gute Gelegenheit zu reisen, so kam Enrico plötzlich der Gedanke, die Damen könnten das Miezerl mitnehmen. Ich habe mich gleich furchtbar gefreut, denn ganz immer stimmen wir nicht in unseren Ansichten überein, trotzdem ich liebe mein Enrico. Wir beziehen wegen der Hitze bald unser liebes Haus am Meer. Miezi könnte alles sehen und mir auch manchmal die Ragazza abnehmen, die ein liebes, süßes, aber wildes Teufelchen geworden ist. Also bitte sagt ja. Mit Stadelmanns könnte sie bis Luzern reisen und von dort aus, sie ist ja ein großes Mädel, setzt man sie in einen Zug und sie kommt an! Also! …«
Von Onkels Hand war dann noch beigefügt:
»Das ist einmal eine prächtige Idee von Gigina, und ich schließe mich lebhaft dem Wunsche an, daß Ihr Euch entschließen möchtet, uns Euer Kind für ein paar Wochen zu überlassen. Zur Rückreise wird sich schon jemand finden. Für mich wäre es eine Riesenfreude, dem klugen Mädel alle unsere Schönheiten hier zu zeigen. Mit unserem Engele – ich muß aber wirklich Gigina rechtgeben, daß es gegenwärtig manchmal ein Teufelchen sein kann – wird Miezi schon zurechtkommen. Sie hat es ja so lieb. Sagt ja und seid nicht kleinlich. Am besten ist's, Ihr telegraphiert die Antwort! In Geschäftseile
Euer treuer Bruder.«
Ja, das war wahrhaftig eine Überraschung! Und das erste Gefühl bei den Eltern Neumeyer, besonders bei Mutter Maria war: »kleinlich zu sein«, denn ihnen bangte vor einer derartigen Reise und Entfernung für ihr Kind. Aber Miezi war sofort glückselig über solche Aussichten. Ihr gegenwärtig etwas blasses Gesichtchen bekam sofort Farbe, und als nun noch Rico von dem Plane erfuhr und mit seiner ganzen südländischen Lebhaftigkeit beistimmte und sagte:
»Geh, geh. Um Napoli zu sehen, sind keine Hindernisse zu groß. Ich werde neidisch sein, aber mich doch riesig freuen, wenn wir nachher miteinander darüber sprechen können. Ihr habt ja alle keine Ahnung, wie wunderbar herrlich es da unten ist.«
Nach solcher nun nach allen Seiten hin herrschenden Begeisterung für den Plan, dem der Vater und vor allem der Hausarzt beistimmte, wurde beschlossen, das der Mutter immer noch ungeheuerlich Dünkende doch zu wagen, und mit einem glückseligen Gesicht, wie man es jetzt schon lange nimmer bei Miezi gesehen hatte, trug sie den das erbetene Ja enthaltenden Brief auf die Post.
Frau und Fräulein Stadelmann waren gekommen, hatten ihren Besuch gemacht und gegenseitig hatte man großes Gefallen aneinander gefunden. Ja, diesen Damen konnte man wirklich mit vollem Vertrauen sein Kind übergeben. Und so reiste die strahlende Miezi eine Woche später mit ihren beiden Reisegefährtinnen ab, nachdem die ganze Familie sie an die Bahn begleitet hatte. Die allerwichtigsten und auch wieder unwichtigsten Sätze flogen noch hin und her, wie dies ja bei einer Abreise zu gehen pflegt.
»Gelt Miezi, den Vesuv von mir grüßen!«
»Nicht wahr, Hanselmann, deine Aufgaben nicht so sudeln!«
»Ingelein, beim Tischdecken nicht immer das Salz vergessen!«
»Putzibub, nicht die Hühner so jagen, und sorge, daß deine Höslein immer trocken sind!« Letztere Mahnung war im Flüstertöne gesprochen. Miezi wollte das Brüderlein doch nicht vor allen Leuten bloßstellen. Denn ohnedies hatte der kleine Kerl beständig mit den Tränen zu kämpfen, weil ihm klar wurde, daß es ein Fortgehen war, bei dem er nicht mitdurfte. Und dann kam noch ein allgemein zusammengefaßtes:
»Sei halt recht vergnügt,« und von Miezi noch:
»Und ihr, in euren Bergen!«
Worauf die Mutter nur noch, ein Schluchzen unterdrückend, sagen konnte:
»Gott geleite mein liebes Kind!« denn der Zug setzte sich in Bewegung und Miezi selber hatte mit einem aufsteigenden Etwas in ihrem Halse zu kämpfen. Die Begleiterinnen sagten ihr lauter liebe, gute Worte; und sie, die das Reisen gewöhnt waren, machten sich's dann in dem Abteil bequem. Und nun ging es in die weite Welt hinaus, in die blaue Ferne, nach der Miezi sich ja schon oft unbewußt gesehnt hatte. Mutter und Tochter Stadelmann machten die junge Reisende überall auf alles Schöne aufmerksam, und als man am Abend in Luzern ankam, gingen sie durch eine wunderbare, bedeckte Brücke, die über die Limmat führte, hinüber in den alten Teil dieser weltbekannt schöngelegenen Stadt, wo Miezi nun in einem altertümlichen Hause, das sie an die Engelapotheke erinnerte, ein paar Tage verweilen durfte.
»Du darfst nicht weiter fahren, ehe du auch ein bißchen unsere Stadt, unseren See und ein kleines Stück von unserer Schweiz gesehen hast,« sagte Fräulein Ruth, die unterwegs schon Miezi in ihr Herz geschlossen und mit ihr Du gemacht hatte. Und als am andern Morgen, nach einer köstlichen Nacht in dem schönen weißen, mit Stickerei und einer seidenen Decke versehenen Bett, Miezi aufwachte, ward ihr sofort erklärt, daß man das herrliche Wetter benutzen und heute gleich eine Fahrt auf dem See machen würde und dann morgen oder übermorgen würde es auf den Rigi gehen. Wie viel hatte Miezi schon von ihren Schulfreundinnen, die in der Schweiz gewesen waren, von diesem herrlichen Berg gehört, und nicht genug konnte sie staunen, als sie beim Öffnen der Gardinen in eine ganze Welt von Bergen, deren Gipfel teilweise mit Schnee bedeckt waren, blickte. Und als man nachher, nach einem schnell eingenommenen Frühstück mit Butter und Honig, wie Miezi in ihrem ersten Brief nach Hause nicht zu bemerken vergaß, auf dem herrlichen, smaragdgrünen See an all den lachenden Dörflein und Städtlein vorüberfuhr, da mußte sie nur immer denken: Wenn die Lieben zu Hause das auch sehen könnten! Ach, wenn sie nur alle dabei wären! Aber sie durfte sich ja damit trösten, daß die ganze Familie in den nächsten Tagen, wenn auch in einer anderen Richtung, gleichfalls in eine Bergwelt hineinfahren werde.
Schon auf dem schönen, großen, aufs feinste eingerichteten Dampfer zu fahren, war für Miezi etwas noch nie Dagewesenes. Da waren Kajüten, mit solch prächtigen Möbeln ausgestattet, wie man sie sonst nur in Schlössern sah. Und dann, wie köstlich war es in der frischen Berg- und Wasserluft auf dem Verdeck auf und abzugehen und sich dann wieder, von bequemen Stühlen aus, die ganze Gegend ansehen zu können, ohne einen Fuß zu rühren. Da war's im Großen wie daheim im Kleinen in Hansens Filmkästlein; alles zog nur so an einem vorüber, Felsen, Matten, die niedlichsten Schweizerhäuser mit blühenden Blumengärtchen und wieder stolze, burg- und schloßähnliche Gebäude! Und dazu rauschte das Wasser und glitzerte und glänzte in allen Farben und unter dem Rad des Schiffes war es smaragdgrün mit weißem Schaum – märchenhaft. Die beiden Damen hatten sich's nicht nehmen lassen, die Fahrt mitzumachen, obgleich Frau Stadelmann etwas erkältet war und sich mehr in der Kajüte aufhielt. Ruth hingegen erklärte Miezi alles, und wie war es interessant zu hören und zu sehen, wenn es hieß:
»Hier, auf dieser lieblichen Halbinsel hat Richard Wagner, der berühmte Komponist, einen Teil seiner Opern geschrieben; dort oben auf jener Felswiese haben nach der Tellsage die treuen Schweizermannen ihren Schwur getan. Dort drüben in Brunnen war es, von wo aus Tell den schlimmen Landvogt Geßler in den sturmbewegten See hinausfuhr, und weiter unten war dann die Stelle, wo er den grausigen Sprung wagte und mit dem Fuß das Boot hinausstieß und damit den Landvogt den Wellen überließ.«
An dieser Haltestelle stiegen die drei aus, um einen Teil der so berühmten Axenstraße, die stückweise in Tunnels überging, zu Fuß bis Flüelen zurückzulegen. Daß auf der Rückfahrt der Himmel sich mit Wolken überzogen hatte und ein Gewitter losbrach, erhöhte für Miezi, die keine Angst kannte, den Reiz, während die Damen sich etwas fürchteten. Nun um so schöner konnte man sich ja da die vorher geschilderte Tellsfahrt vorstellen. Die Wellen gingen so hoch, wie sie auf dem Meere fast nicht höher sein können. Blitz und Donner erhöhten für Miezi nur das Entzücken an dem herrlichen Schauspiel, und als sie am Rigi vorbeifuhren, dachte sie mit Wonne, daß es morgen dort hinaufgehe, wo man dann von oben herab alles in neuer Schönheit sehen würde. Es war kein Zweifel daran, denn der Kapitän hatte der etwas ängstlich fragenden Frau Stadelmann das schönste Wetter für den andern Tag prophezeit.
Das schöne Wetter war am andern Morgen wirklich vorhanden, aber der schöne Plan schien wohl nicht zur Ausführung zu kommen. Frau Stadelmann lag erkältet zu Bett, und Miezi hatte gestern abend folgenden Brief von Onkel Heinrich vorgefunden:
»Neapel, …
Mein liebes Miezerl!
Du wirst, wie ich hoffe, nun glücklich unter der Obhut der lieben Damen Stadelmann in Luzern angelangt sein und hast damit schon die Hälfte Deiner Reise zurückgelegt. Da wir beide aber etwas ängstlich sind, Dich vollends allein reisen zu lassen (Tante ist es noch mehr), so bin ich froh, Dir mitteilen zu können, daß ein lieber, älterer Herr von hier – er ist Italiener, versteht aber gut deutsch – von einer Badereise zurückkehrt und am Samstag, den 1. August, durch Luzern kommen wird. Leider kann er sich dort nicht aufhalten, er reist mit einem direkten Zug und wird Dich Nachmittag 4 Uhr 30 auf dem Bahnhof erwarten. Du kannst ihn erkennen an einem weißen Taschentuch, das er in der Hand hält, und daß er Miezi rufen wird. Da er eine halbe Stunde auf dem Luzerner Bahnhof Aufenthalt hat, so wird er Dir Deine Fahrkarte nehmen, und wenn Du pünktlich, was ihr Deutschen ja alle seid und wir Neumeyers ohnedem, Dich einfindest, so besorgt er Dir auch Dein Gepäck. Empfehle mich den beiden Damen – ich wollte, Du könntest auch vollends hierher unter ihrer Obhut reisen.
Und nun, behüt Dich Gott, liebes Kind; es freut sich unbändig auf Dein gutes Gesichtle
Dein treuer
Onkel Heinrich.
NB. Angela versuche ich vergeblich ein Empfangsgedicht anzulernen, aber eine kleine Rede wird sie Dir schon halten, und Du wirst erstaunt sein, wie weit sie es im Plaudern gebracht. Freilich ihr Deutsch und gar ihre schwäbischen Wörtle, die Du ihr beigebracht hast, die hat sie wieder vergessen.«
Dieser Brief war für die beiden Damen eine rechte Beruhigung, denn mit Sorgen hatten sie an die Weiterreise von Miezi gedacht. Daß aber nun der für morgen geplante Ausflug auf den Rigi vernunfthalber unterbleiben mußte, das war eine Betrübnis für alle, besonders aber für Miezi, die sich so ganz besonders hierauf gefreut hatte.
»Es wäre ja gewagt, vor so einer großen Reise,« meinte Frau Stadelmann, »den Tag vorher – morgen war ja schon der 31. Juli – solch eine ermüdende Tour zu machen.« Und die vorsichtige Dame hatte darin wohl recht. Aber der sonst immerhin vernünftigen Miezi fiel dieser Verzicht sehr schwer, und es kostete sogar ein paar Tränen.
»Gerade das wäre mir das Liebste von der ganzen Reise gewesen! Gerade davon hätte ich so gerne meinen Freundinnen erzählt. Auch Mutter wird es so leid tun, wenn ich nicht auf den Berg komme, denn sie war auf ihrer Hochzeitsreise oben und hat uns nie genug davon erzählen können … Glauben Sie, daß es wirklich gar nicht reichen würde, wenigstens die Fahrt zu machen, die so sehr schön sein soll? Sie haben ja selber erzählt, daß man in einem Tage reichlich Zeit habe hinauf- und wieder herunterzukommen.« Und zaghaft fragend blickte Miezi die beiden Damen dabei an. Leid tat es denen ja auch, besonders Fräulein Ruth, die sich nach einer nochmaligen Erwägung der ganzen Sache entschloß, wenn auch mit nicht ganz fröhlicher Einwilligung ihrer Mutter, den Ausflug, den sie ja schon sehr oft mit Freunden und allein gemacht hatte, mit Miezi zu wagen, worüber diese glückselig war. Ganz im Hintergrund ihres Herzens war es ihr freilich, als gehöre dieser Fall einmal wieder nach längerer Zeit in ihre »Nur-noch-Epoche«, denn um ein »nur noch« und zwar ein ziemlich großes handelte es sich hier wirklich, aber das Erfülltwerden ihres Lieblingswunsches zerschlug bald alle Bedenken.
Es war das allererste Schiff am andern Morgen, zu dem Ruth und Miezi geeilt waren, und das sie bald nach der Station Weggis gebracht hatte. Und es war der allererste Bergzug, der sie miteinander hinaufführen sollte, um recht Zeit zu gewinnen. Von dem Gewitter am Tage vorher merkte man nichts mehr. Ein strahlender Himmel lag auf See und Matten, und höher, immer höher ging's hinauf. Zuerst noch durch Kastanien- und Buchenwälder, dann kamen die Tannen und dann schwindelnde Brücken über Abgründe, in denen unten Bergbäche tosten, dann sah man weidende Kühe auf den mit herrlichen Alpenblumen besetzten Matten, da und dort auch eine Sennhütte. Später fingen die einzelnen Felsblöcke an, auf denen manchmal noch eine einsame Forche oder Lärche grünte, und da und dort ein Sennenbub, der sein Hütlein schwenkte und in die Bergwelt hinausjubelte. Nach Wendungen, die die Bahn machte, lagen plötzlich feine, elegante Berghotels vor einem, Stätten mit vielen Fremden, Kurgästen und schmetternder Musik.
»Das gefällt mir nicht,« sagte Miezi aus ihrem Entzücken heraus. »Da oben müßten nur wenige Menschen sein und Stille herrschen, so war es als Mutter oben war und wie sie's uns schilderte.« Immer wieder kam sie auf deren Erzählen zurück, das auf sie und die Geschwister einst so großen Eindruck gemacht. Herrlich war's doch nun selber da zu sein! Wie war Miezi aber enttäuscht, als das Bergbähnli auf einmal hielt und alles ausstieg und sie sagen hörte: Nun haben wir das Schönste erreicht, wir sind auf Rigi-Kulm, und in einer Stunde geht der Zug, für die, die es haben wollen, wieder herab. Das war eigentlich auch der Plan von Fräulein Ruth gewesen, und so wäre alles ohne Gehetz abgelaufen. Deshalb war sie nicht gerade angenehm überrascht, als Miezi klagend ausrief:
»O du lieber Himmel, das ist ja gar nicht das, wo Mutter war und das Rigi-Scheidegg geheißen hat, und von dem Mutter immer sagte, die Fahrt dorthin sei das Allerschönste, was es gäbe, und die Leute, die nur immer auf den Kulm führen, seien töricht und versäumten viel.« Über all dem Enttäuschtsein vergaß Miezi ordentlich, sich hier auf dem Punkte, der bei vielen anderen Menschen wirklich als der schönste gepriesen wurde, umzusehen. Die Aussicht, die beim Hinauffahren noch glänzend war, hatte sich allerdings ganz in der Stille in leichte Nebelschleier verhüllt. Und auch Ruth war enttäuscht, weil ihre junge Schutzbefohlene es war.
»Nun müssen wir eben zufrieden sein, mit dem, was wir schon gesehen haben,« tröstete sie. Aber da hörte Miezi wie einer der vielen, dort oben herumstehenden Fremden sagte: »Nun fahren wir noch geschwind nach Scheidegg hinüber. Das währt nicht länger als eine Stunde. Die Bahn dorthin ›um Sieben Hügel herum‹, wie in dem Führer steht, möchten wir doch auch noch befahren!« – Seine Frau nickte zustimmend. – Und als er fortfuhr: »Wir essen dann dort zu Mittag und können zum Abendbrot wieder in Luzern sein,« da horchte sie hoch auf und ein innig bittender Blick flog zu ihrer Begleiterin hinüber.
»Wenn das möglich wäre, wenn man das könnte?«
Fräulein Ruth war nicht ganz wohl dabei, denn sie wußte, daß die Mutter daheim sich ängstigen würde, wenn sie statt zum Tee erst zum Nachtessen kämen, aber das war ja auch noch nicht ganz spät. Und außerdem hatte sie die Miezi sehr lieb gewonnen und gern hätte sie auch selber diese Fahrt gemacht, die sie noch nicht kannte. Und zudem war sie ja auch noch jung, so daß Miezi laut aufjauchzte, als die junge Schweizerin sagte:
»Wir machen's!« Und fröhlich lachend führten es die beiden aus. Sie fuhren um die sieben Hügel, aus denen der Rigiberg besteht, herum, sahen immer wieder andere Seen unten und andere Berge in den Himmel ragen. Sie jauchzten und jubelten, als sie das schöne Gasthaus dort oben sahen, und ein treffliches Mittagessen schmeckte den beiden nun schon so lange von daheim Abwesenden vorzüglich.
Mehrere Züge vom Bähnli, wie man es da oben nannte, waren schon abgegangen. Mit ihnen hätte man wohl keinen Anschluß unten zum Schiff gehabt. So ließen sich die zwei gerne hinhalten, pflückten Blumen, Enzianen und Silberdisteln, legten sich auf die duftenden Matten und jodelten und sangen in die Welt hinein. – Die Nebelschleier hatten sich wirklich wieder verzogen. – Aber dann mußte geschieden sein, und nach einem herzlichen »Auf Wiedersehen!« zu den freundlichen Wirten da oben wanderten die beiden hoch befriedigt den Weg von etwa einer Viertelstunde bis zur Bahnstation hinab.
»Nun habe ich's doch auch gesehen, nun kann ich doch auch mitreden, wenn die andern von diesem herrlichen Berg reden. Gelt, Ruth, es reut dich nicht, daß wir's doch noch durchgesetzt haben?« … Ein ganz leises Unbehagen veranlaßte Miezi doch zu dieser Frage.
»Nein, ach nein,« erwiderte Ruth lächelnd, aber doch auch nicht ganz aus vollem Herzen, denn von neuem mußte sie daran denken, daß Mutter sich jetzt Sorgen um sie machte, und das beunruhigte sie. Arm in Arm gingen die zwei Mädchen den steilen, steinigen Weg hinab, jede einen großen Strauß Bergblumen in der Hand. Da, auf einmal – ein kleiner Schrei und es machte: Knacks. Ruth entfuhr es:
»Was ist?« Denn Miezi hatte ihren Arm losgelassen und kauerte am Boden.
»Was ist denn?« fragte Ruth noch einmal und lachte dabei. »Bist du über einen Stein gestolpert und hast dir doch hoffentlich nicht die Nase aufgefallen?« Die Nase war's nicht – aber Miezi hatte sich sehr weh getan, denn einer der vielen Steine, die hier lagen, war unter ihrem Fuß ins Rollen geraten, und sie hatte sich den Fuß verknackst.
»Steh doch auf und steh recht fest hin,« befahl Ruth. Aber das war gut sagen, und Miezi probierte es, aber dann sagte sie mit klagender Stimme:
»Ich kann ja doch nicht, ich weiß nicht, was das ist, aber es tut furchtbar weh.« Und nun wurde es ernst. Ein paar Reisende, die auch noch auf den Zug gingen, halfen, und sie schleppten Miezi, die nur mit größter Anstrengung auftreten konnte, vollends mit hinunter und in den Zug hinein. Vom Zuge aus unten bis hinüber zum Schiff halfen diese freundlichen Leute auch wieder, und sie setzten, in Luzern angekommen, Miezi in eine der bereitstehenden Droschken, in der dann die beiden Reisegefährtinnen vollends nach Hause fuhren. Aber Frau Stadelmann ängstliches Warten löste sich in wirkliche Besorgnis auf, als sie sah, in welchem Zustand Miezi nach Hause kam. Der Fuß war inzwischen angeschwollen, mühsam brachte man sie zu Bett, und schließlich wurde noch ein Doktor geholt, der feststellte, daß zwar nichts gebrochen sei, aber daß der Fuß mindestens etliche Tage große Ruhe brauche.
Das war nun eine recht peinliche Geschichte, und sie wurde immer peinlicher, je mehr man darüber nachdachte. Von einer Abreise konnte jetzt keine Rede sein. Das mußte dem durchreisenden Herrn sofort gesagt werden, sonst nahm er die Fahrkarte. Aber wie machen, denn niemand kannte ihn? Die arme Frau Stadelmann konnte nicht unterlassen, zu sagen:
»Hättet ihr die Sache doch nicht erzwungen.« Und sie hatte eine schlaflose Nacht, Miezi aber auch, denn es war ihr schrecklich, was sie angestellt und wie es nun werden sollte. Ja, erzwungen war's, das fühlte sie jetzt auch, und was würden nur die Eltern darüber sagen, die jetzt wohl friedlich in ihrer gewiß sehr netten Sommerfrische schliefen und sicher recht böse darüber waren, wenn sie's erfuhren.
Die gute Ruth machte die ganze Nacht Umschläge und tröstete mit der Hoffnung, die Abreise könne am Ende doch vielleicht morgen noch geschehen. Aber davon konnte keine Rede sein, und eine Stunde vor der bestimmten Abfahrt des Zuges nach Italien, also schon nach 3 Uhr, ging Ruth mit ihrer alten Dienerin Vreneli an die Bahn, um, wenn irgendmöglich, den fremden Herrn aufzufinden. Sie spähten zuerst im Restaurationssaal und dann im Speisewagen, denn der Herr mußte doch essen. Sie wußten aber nicht, daß er in Zürich schon gegessen hatte. Dann suchten ihre Augen beständig nach einem weißen, flatternden Tuche, und wo irgendwie einer nur die Nase putzte, so umkreisten sie ihn, lauschten, ob er nicht etwa Miezi sagen werde, so daß sie es schließlich selber taten und dabei äußerst erstaunten Blicken begegneten. Dann, als die Zeit herumging, verteilten sie sich, und sie suchten nun, die eine rechts, die andere links, nach dem Herrn, der doch auch gewiß suchte und deshalb auffallen mußte. Wenn doch nur auch ums Himmels Willen in dem Brief sein Name genannt worden wäre. So verging aber unter Rennen und Laufen und vielem Fragen die ganze Zeit, und nur noch ganz zuletzt kam Fräulein Ruth die Idee: Wir könnten ja auch noch an der Kasse uns erkundigen, ob jemand etwa eine Karte nach Neapel gelöst habe? Aber Fahrkarten nach Neapel hatten verschiedene Leute gelöst, und keine der beiden Suchenden konnte ja den betreffenden Herrn nur einigermaßen schildern. Verzweifelt liefen sie noch einmal zurück auf den Bahnsteig; da sahen sie in weiter Ferne wohl noch einen Herrn, der in auffallender Weise ein weißes Tuch schwenkte, der aber, als gerade das Abfahrtszeichen gegeben wurde, im Innern eines Wagens verschwand, denn der Zug setzte sich in Bewegung.
Die arme Frau Stadelmann aber regte sich recht auf, als die beiden endlich vollständig abgehetzt und unverrichtetersache zurückkehrten. Allen fiel jetzt erst ein, daß der Herr sich ja sicher nur nach einem jungen Backfisch umgesehen habe, und deshalb achtlos an dem Fräulein und der Dienerin vielleicht mehreremale vorbeigegangen war und sie an ihm. Wie dem aber auch war, peinlich genug blieb die Sache für Miezi. Sie war unglücklich, daß ihr Vater, der für die große Familie doch sparen mußte, dem Fremden die unbenutzte Fahrkarte zu bezahlen hatte. Und was würde Onkel Heinrich sagen, wenn der Herr ohne sie ankam?
Vom Onkel kam im Lauf des nächsten Tages ein Telegramm:
»Umsonst an der Bahn gewesen. Wo ist Miezi geblieben? Umgehende Antwort bezahlt.«
Ein paar Briefe, die noch gewechselt wurden, klärten dann ja alles auf und beruhigten die Gemüter. Die guten Damen Stadelmann aber behielten die kleinlaute Miezi, die in den ersten Tagen immer starke Schmerzen hatte, noch über eine Woche. Dann wurde sie einer, den Stadelmanns bekannten Schweizer Familie, die nach Neapel reiste, anvertraut, und so kam die nun recht kleinmütig gewordene Miezi endlich an ihrem Bestimmungsort an.
Nach der ermüdenden Nachtfahrt und dem Geplauder mit der etwas lebhaften Familie mit kleinen Kindern hatte Miezi außer den noch immer fühlbaren Fußschmerzen auch ihr heftigstes Kopfweh bekommen. Dadurch war die Ankunft in Neapel nicht so, wie sie sich's gedacht hatte. Auch regnete es, was nach Ricos Erzählen im Sommer fast nie der Fall war, und vom gerühmten tiefblauen italienischen Himmel war nichts zu sehen. Aber auch, o Schrecken, nichts von den Verwandten. Daß Tante nicht kommen würde, das hatte sich Miezi gedacht, denn manchmal hatte sie gespöttelt über die kleinstädtische »Bahnhofabholerei« wie sie's nannte. Aber der Onkel mußte ja doch den letzten Brief erhalten haben. Und nachdem auch die Schweizerfamilie schon etwas ratlos meinte: »Das ist fatal! Wir würden Sie ja gerne mit uns nehmen, aber wir wohnen in einem ganz entgegengesetzten Stadtteil!« da fuhr in raschem Trab eine carrozza an, der Onkel Heinrich eilig entstieg.
»Na, da bist du ja endlich, du verloren gegangenes Miezerl. Hast uns einen schönen Schrecken eingejagt, Mamsell Nur-noch, die du scheint's immer noch ein bißle bist. Mein Freund hat sich die Augen ausgeschaut nach einem kleinen Mäderl, das nicht da war, aber freilich auch gewaltig in die Höhe geschossen ist!« Der Onkel maß Miezi mit einem nicht unzufriedenen Blick, aber im ganzen fühlte sie doch hindurch, daß er noch etwas verstimmt war, und das tat ihr schrecklich leid.
»Verzeih doch, Onkel, daß es so gegangen ist! Auf den Rigi hatte ich mich eben so ganz besonders gefreut, und Ruth meinte auch, es könne gut reichen. Und wenn der dumme Stein nicht gewesen wäre, durch den ich mir den Fuß verknackste, und … so …«
»Laß gut sein, Miezerl, laß gut sein,« unterbrach Onkel Heinrich. Und während sie zusammen in einem Tempo, das Miezi ganz ängstlich machte, durch mehrere Stadtteile fuhren bis hinaus, da, wo die großen Häuser aufhörten, lenkte der Onkel in seine alte, freundliche Art ein, und er sagte:
»Sei nun ruhig, und vor allem andern: heul mir nicht,« wozu Miezi gerade den Anfang machte. »Du weißt, Tante nimmt so etwas nicht schwer, und wenn sie in solchen Fällen so gleichmütig bleibt, und, wie in den letzten Tagen, seelenruhig sagt: Reg dicht nicht auf, Enrico, kommt sie nicht heut, so kommt sie morgen! da hat sie eigentlich recht. Aber wir Deutsche sind eben doch etwas anders geartet und denken an allerlei Schlimmes.«
Der Wagen hielt vor einer hübschen, kleinen Villa, und Miezi hörte zum ersten Male die lebhafte Sprechweise eines Eingeborenen. Der Onkel bekam doch hoffentlich wegen ihr und wegen ihrer Fahrt keinen Streit mit dem recht wild aussehenden und sich gebärdenden Kutscher. Aber als der Onkel ihm ein Geldstück zuwarf, lachte der Mann schon wieder und schien äußerst befriedigt zu sein. Und nun erscholl eine fröhliche Stimme von innen heraus. Es war die der Peppina, die die Treppe herabeilen wollte, aber gehindert wurde durch die kleine Angela, die nicht folgen wollte und ein mörderisches Geschrei erhob.
»Willst du gleich kommen, – cattiva, – unartiges Kind! … Komm doch, agnello mio – mein Lämmchen, … es ist ja die buona zia – gute Tante –, die du doch so lieb hattest, und die ihrem Engele eine schöne bambola – Puppe – mitbringt.«
Das »Lämmchen« und die » piccina« blieb oben stehen, während Peppina in lebhaftester Weise die signorina zia empfing. Miezi war aber doch recht enttäuscht, als auch hier die Kleine gar keine Miene machte, sich ihr zu nähern, und nur noch hinter den Rockfalten Peppinas hervor trotzig fragte: