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Erst spät abends kehrte Bürklin heim. Er hatte, wie er Nonna sagte, heute seinen weitesten und beschwerlichsten Marsch seit vielen Jahren gemacht, Mittagbrot und Vesper darüber versäumt und sich seinen Kopfschmerz verlaufen. »Nun aber ist mir's ganz wohl, und ich will tüchtig zu Abend essen.«
Die wackere alte Seele sprach ihre Freude über die Besserung aus und trug alle die Herrlichkeiten des Schlachtfestes für ihn zusammen: frische Wurst und lockeres neubackenes Brot; dazu, und um die Kruste einzutunken, ein Schälchen halbflüssiges Schmalz »so süß wie Nußkern.« Alles äußerst appetitlich, und Bürklin ging mit bestem Willen daran, aber zu Nonnas großem Kummer aß er nur hier ein Scheibchen und dort ein Bröckchen, das Schmalz berührte er überhaupt nicht: das sei zu schwere Kost am Abend, meinte er, trotz des großen Glases Lacrimae aus dem Extrafäßchen im Keller. Nonna fand auch nicht, daß er so wohl aussähe, wie er zu sein rühmte. Seine Augen glänzten und blickten allzu rasch im Zimmer hin und her, die scharfe Wangenröte stieg bis zur Stirn hinauf, und das Haar lag feucht und schlaff an den Schläfen. »Er wird mir doch nicht krank werden?« dachte sie, ihn heimlich beobachtend. Es war sonst niemals seine Manier, Brotkugeln zu drehen, und sie wußte sich ebensowenig zu erinnern, daß seine Finger unaufhörlich gezittert hätten. Merken ließ sie sich natürlich keine Spur, und er erkundigte sich angelegentlich nach ihrem Tageslaufe und den Freuden des Schlachtfestes.
Zia Nonna fand des Lobes nicht genug über das prachtvolle Schwein; es habe sich abstechen lassen wie ein Lämmchen, »natürlich verhältnismäßig, Signor, verstehen Sie? Nur der Lorenz hat sich bös dabei übernommen, und es ist ihm auch nach zwei Thees und vier Lorbeerschnäpsen noch immer nicht richtiger im Magen geworden. Nun hat Deta Caflisch, die mir heute beim Schlüsselspülen behilflich gewesen ist für einmal die Stiefel putzen müssen, und der Signor darf nicht allzu scharf nach dem Glanze sehen. Man muß beim Schweinemetzgen nicht gestreng sein; denn für einen Burschen, der das Fett liebt und einen weiten Magen hat und tüchtig mit den Fäusten schafft, ist das Schlachtfest schöner als Christtag und Fastnacht – soll's schon bun' nott' sein, Signor Dottore?« unterbrach sie sich, als Bürklin aufstand und seine brennende Lampe vom Büffett nahm. »Wohl, wohl – falls Sie noch ein wenig zu arbeiten belieben, so ist es recht und guten Schlaf und frohe Träume, Signor – bun' nott' also!«
Er verließ das Speisezimmer, und Zia Nonna, als sie ihn sicher droben in seiner sorgsam durchwärmten Stube wußte, hing sich ihr schwarztaftenes Kapuzenmäntelchen um, nahm die Handlaterne aus dem Winkel und ging nach Sils-Maria hinüber zum Doktor, der sein trauliches, blumenumblühtes Haus dicht neben dem Hotel Edelweiß hatte. Er war gerade zur Unzeit abgerufen, aber die Doktorin empfing die Alte, die sich im Orte großer Beliebtheit erfreute, und hieß sie, ihr die Bestellung ausrichten. Nun erst fiel es Nonna ein, daß sie genau genommen kopflos gehandelt hatte; denn wer bedurfte des Arztes so dringend bei ihr? Aber ein mutiges Herz läßt sich nicht verblüffen, und so fing sie hübsch von langer Hand an, um ihren Besuch recht wichtig zu machen.
»Es steht nicht zum besten mit mir, Frau,« sagte sie kopfnickend und nahm den Sitz im Großvaterstuhle ein, »mich reißt es einen Tag und alle Tage, und wenn der Doktor nicht ein gutes Mittelchen weiß, so werde ich wohl das Podagra in den Kopf bekommen und den Verstand darüber verlieren. Und man hat nicht so viel davon, leider Gottes, daß man's missen möchte, Frau. Es ist schon so weit mit mir, daß ich die Weckuhr nicht mehr vernehme und mein Haus darüber versäume.«
»Nun, das werd' ich dem Doktor pünktlich ausrichten, Zia Nonna,« tröstete die Doktorin, »faßt Euch einstweilen in Geduld, und sobald er wieder nach Baselg' hinaus muß, sorg' ich dafür, daß er am Jostihause nicht vorbeigeht –«
»Ei – ich dächte, er käme besser vor Neujahr,« entgegnete Nonna und machte ordentlich ein höhnisches Gesicht zu ihren Worten. »Umsonst soll er den Weg nicht thun, das versteht sich, und zum Begräbnis wird er ohnedies geladen – und wenn ich das einzige Kranke im Hause wäre, so wollt' ich mich bescheiden bis auf den jüngsten Tag, Frau. Aber sehen Sie, unser Lorenz, der beste Knecht, den ich je gedungen habe, liegt mir auf der Streu, und Gott verhüte, daß er mir die Cholera oder etwas Ärgeres einschleppt – das wäre ein schweres Kreuz für unser Baselg'.«
»Gütiger Himmel! was ist denn nur mit dem Lorenz geschehen?« fragte die Doktorin erschrocken und wünschte ihren Doktor wirklich herbei in diesem kritischen Augenblicke. Nonna zog eine lange Miene, die der tragischen Muse nicht übel gestanden hätte, und sagte dumpfen Tones: »Wir sind nicht Herr über Leben und Sterben, aber zuviel ist zuviel! Wem es zu gut mundet, dem begehrt der Magen auf, und die Gedärme lassen sich nicht dehnen wie Hutschnur. Es ist schon manch ein Herz stillgestanden nach geringeren Festen als dem Schweinemetzgen!«
»So, so! Nun, da dürfen wir denn noch hoffen, Zia Nonna,« erwiderte die Doktorin lächelnd. »Zu der Krankheit weiß ich schon Rat, denn die kommt dem Doktor gar zu oft unter die Finger. Also erstens einen guten Kamillenthee, und dann von dem Öle hier ein paar tüchtige Löffel – es wird ihn nicht hart dünken, wenn er so gern Fett nimmt. Und der Doktor soll ganz gewiß bald nachsehen, verlaßt Euch darauf.«
»Ja – aber es muß morgen sein und früh am Tage,« sagte Nonna, ihren letzten Trumpf ausspielend. »Denn mein Signor Dottore, Frau, der sieht mir aus, als stecke eine große Krankheit in ihm – er ißt nicht, er trinkt nicht und hat rote Flecken auf den Backen wie ein Zehrender und Augen wie Feuer. Er sagt, es bedeutet wenig, aber er ist ein tapferer Mann und wehrt sich gegen den Tod, als ob der mit sich handeln ließe!«
»Das ist ja ein wahres Lazarett bei Euch, da muß ich schon wirklich sorgen, daß der Doktor es morgen möglich macht,« meinte die Doktorin. »Hallet bis dahin brav den Kopf oben, Zia Nonna!«
»Und ich bitte, daß der Doktor es nicht leicht ansieht,« verabschiedete sich Nonna, »um einer bloßen Kleinigkeit willen läuft keine Unbescholtene nächtens von einem Dorfe zum anderen! Bun' nott, Frau, und daß es nur ja nicht verabsäumt wird.«
Daheim hatte sie noch ihre liebe Not mit dem Lorenz. Der schlief nach all seinen Lorbeerschnäpsen so fest, daß ihm weder Thee noch Medizin beizubringen waren, und er schnarchte, daß die Kammer dröhnte. »Du wirst mir davonkommen, mein Sohn,« sagte Nonna, als sie sich unverrichteter Sache entfernte, »aber für meinen Dottore hab' ich ein gutes Werk gethan, und deshalb kann ich mich nun in Frieden schlafen legen.«
*
Steffen Bürklin saß oben an seinem Pulte, die brennende Stirn in die Hand gelegt, und schrieb einen Brief mit langen Pausen zwischen den einzelnen Sätzen. Das halbdunkle Zimmer schwamm vor seinen Augen, und in seinen Schläfen pochte das Fieber; die Gedanken stoben ihm auseinander wie Spreu im Lufthauch, aber er haschte die fliehenden und sammelte sie immer von neuem zu einem geordneten Ganzen. Er fühlte selbst, daß er krank war und vielleicht schon morgen nicht mehr im stande, sein Vorhaben auszuführen, über dem er jetzt brütete: den Brief an den Landrichter Eschrodt in Danzig.
*
Was für ein qualvoller Tag war dieser heutige gewesen, der jetzt auf die Neige ging! Steffen Bürklin hatte in den zweiundvierzig Jahren seines Lebens keinen ähnlichen zu verzeichnen gehabt. Nur das düstere, verschwiegene Val Fedoz hatte sein erbittertes Ringen gegen sich selbst gesehen und die Seelenangst, mit der er sich stürmisch zurückgewünscht hinter den Felsvorsprung zu der einsamen Frau, einsam wie er, die in all ihrem Unrecht dennoch fleckenlos war und ein Herz voll Liebe besaß, das sie nach kurzem Irregang unfehlbar dem wiedergeben würde, dem es eignete. Wer aber leitete sie aus der Irre auf den geraden Pfad? Er, der Freund, der sich so hocherhaben über menschliche Schwäche gefühlt, er, der gerichtet und verworfen hatte, richtete und verwarf sich selbst in der schauerlichen Einöde des wildzerklüfteten Thales mit seinem zerrissenen Gletscher im Hintergrunde und seiner Mauer von starrenden schwärzlichen Felsen. Zwischen sich und das, was er mit jeder Faser seines Ich begehrte, hatte er die unübersteigliche Mauer gelegt, und nun schleuderten ihn dennoch ungestüme, wahnsinnige Wünsche hin und her. Der gewaltige Dämon, das häßliche Zerrbild der Liebe, hatte sich auf ihn geworfen und kämpfte mit dem Ebenbilde Gottes in ihm um den Sieg: »Reiße sie, die du liebst, in deine Arme, sie wird sich dir geben, sie wird durch dich ein besseres Glück kennen lernen, als sie je besaß! Ihr Gatte trägt die Schuld – du warst mit Blindheit geschlagen – sie fürchtet dich, weil sie die Macht deiner Liebe ermißt und die ihrige erkannt hat! Deshalb flieht sie dich, und du willst dir dein Glück entrinnen lassen?« So raunte der Dämon ihm zu, und sein glühender Atem trieb den edlen Widersacher zurück, seine Klauen rissen das Herz blutig, um das er mit jenem stritt.
Fragen und Beteuerungen hatte der gefolterte Mann in den Wind hinausgerufen, die Hände ins Moos gegraben, auf das er sich hingestreckt – gestöhnt wie ein Verwundeter! Nur das schwache Echo gab Antwort, und das dunkle Gletscherwasser des Val Fedoz schluchzte an seiner Stelle und perlte die Thränen, die seine Augen nicht fanden, auf den bräunlichen Rain.
Nun war's vorüber. Aus seiner Wildnis hatte er nach redlichem, mühseligem Suchen den Ausweg gefunden, und die Sühnethat, die er zu thun gedachte, trug, wenn sie gelang, ihren stillen und reinen Lohn sicher in sich.
*
Gegen Mitternacht erst stand der Brief fertig auf dem Papier. Er ließ freilich Bürklins gewohnte klare Satzgliederung, den ruhigen Fluß seiner Gedanken vermissen, aber er sagte, was er sagen sollte, und Bürklin war nicht unzufrieden damit, als er ihn vor dem Zusammenfalten noch einmal durchlas, ohne zu streichen und zu ändern, wie es sonst seine Gewohnheit war. Der Brief lautete:
»Sils-Baselgia, Ober-Engadin,
den 3. Oktober 1884.
Sehr geehrter Herr Landrichter!
Ein Unbekannter, schreibe ich an Sie, den Unbekannten, diese Zeilen. Zuerst gestatten Sie mir, mich Ihnen als Dr. Steffen Bürklin aus Dorpat vorzustellen; von Geburt sind wir Landsleute, gute Preußen, und ich glaube mich zu erinnern, daß Sie seinerzeit, d. h. im Jahre 64, zu unserem Corps, den Bonner Pfälzern, während eines Semesters in freundlicher Beziehung standen. Jedenfalls möchte ich diesen lockeren Faden wieder anknüpfen, um Ihnen in einer sehr zarten und schwierigen Angelegenheit unumwundene Mitteilungen machen zu können.
Lassen Sie mich ohne Umschweife auf den Kern der Sache kommen: mein Brief betrifft Ihre Frau Gemahlin. Der Zufall hat sie und mich unter ein Dach zusammengeführt und auch unsere Bekanntschaft vermittelt; wir beide sind die letzten Sommergäste hier am Silser See. Ich komme seit Jahren um dieselbe Zeit aus alter Gewohnheit; – weshalb Ihre Frau sich in diese schöne Einöde zurückgezogen hat, das werden Sie besser als ich wissen.
Gestern abend hat sie mir bei Gelegenheit eines gemeinsamen Spazierganges Einblicke in ihre Verhältnisse und die Gründe ihrer Trennung von Ihnen gegeben und hat sich in leidenschaftlichen Worten zu der Ansicht bekannt, daß sie an keine Heimkehr nach Danzig denken dürfe, ohne ihrer Selbstachtung empfindlich zu nahe zu treten. Hätte ich den Vorzug, mich unter Ihre näheren Freunde zu zählen, so würde ich Recht und Unrecht in dieser peinlichen Sache schärfer sondern und beurteilen können; so wie alles liegt, muß ich mich objektiv dazu stellen und darf Ihnen nur die nackten Thatsachen und meine unmaßgebliche Meinung vorlegen. Jedenfalls glaube ich, so schwer mir in Anbetracht meines persönlichen Mitgefühls dies Zugeständnis auch wird, in der trotzigen Leidenschaftlichkeit Ihrer Frau den Beweis ihres größeren Schuldanteils zu finden.
Sei dem wie ihm wolle, so viel steht fest, daß sie sich in Sehnsucht und Heimweh nach dem Kinde und nach Ihnen und Ihrem Schutze verzehrt. Sie ist, darauf lege ich meine Hand ins Feuer, eine reine und Ihnen treue Frau, die eigenwillig und unbedacht in einen Engpaß geraten ist und den Rückweg zu Ihnen nicht finden kann. Ihr rasches Temperament stellt das beirrende Hindernis. Trotzdem meine ich, daß kein Gatte eine solche Frau, deren Fehler nur die rauhe Schale eines edlen Kernes bilden, verstoßen sollte, und nach der Liebe für Sie zu schließen, die durch alle Heftigkeit Ihrer Frau immer wieder hindurchleuchtet, kann eine solche Absicht Ihrerseits auch schwerlich vorliegen. Deswegen hoffe ich, daß Sie meinen Wink nicht mißverstehen werden.
Ich will Ihnen die volle Wahrheit nicht vorenthalten. Ich habe eine Zeitlang das Meinige versucht, um Ihre Frau auf den rechten Weg, den Heimweg, zurückzuleiten, aber meine Kraft versagt mir. Denn ich fühle, daß mein Herz einen Anteil an ihrem Geschicke nimmt, der mir nicht zusteht, daß es einen Augenblick gegeben hat, in dem ich Ihnen Ihr heiliges Besitztum neidete und gern entrissen hätte. Ersparen Sie mir jedes weitere Wort darüber. Ihre Frau ahnt und teilt keines dieser Gefühle, aber der feine Instinkt des Weibes hat es ihr eingegeben, unser augenblickliches gemeinsames Heim zu verlassen, vielleicht weil sie dunkel fühlt, daß die Straße, die ich sie ferner führen würde, keine gefahrlose mehr sein könnte. Niemand weiß, ob er die Abgründe an seinem Wege ohne Schaden überspringen kann oder hineinstürzt und sich selbst verliert; niemand soll die Versuchung herausfordern.
Sie werden mich verstehen und meine Machtlosigkeit ehren. Ich ziehe es vor, allem Kampfe durch mein offenes Bekenntnis ein Ende zu machen und mich einfach an Sie zu wenden mit der Bitte um Rat und Hilfe für Ihre arme Frau, die Ihnen nach menschlichem Gesetze und dem Gesetze ihres eigenen Herzens angehört. Sie befindet sich augenblicklich in einem abgelegenen Dorfe, eine Wegstunde von hier, und ist dort, die vollständige Einsamkeit abgerechnet, gut aufgehoben im Schutze einer verständigen Frau. Ich wache auch aus der Ferne über ihr, und sie ist sicher wie Gold im Berge, solange mir die gewisse Hoffnung bleibt, daß Sie Ihre Rechte und Pflichten binnen kurzem wieder antreten werden. Geben Sie mir, bitte, umgehend einen Wink hierher an meine obenstehende Adresse. Den einen Rat noch erlauben Sie mir schließlich Ihnen zu geben: schreiben Sie vorläufig mir und nicht Ihrer Frau, deren Gefühle sich noch abklären und verstärken müssen, ehe sie Ihnen eine ganz sichere Zukunftsgarantie bieten. Lassen Sie uns Hand in Hand arbeiten als wahre Freunde Ihrer Frau.
Ihr sehr ergebener Bürklin.«
Ohne einen Moment zu zögern, siegelte und adressierte er diesen Brief, nahm sich dann seinen dunklen Havelock und den Kalabreserhut vom Ständer und verließ, den Brief in der Tasche, leisen Trittes sein gemütliches Zimmer. Nichts regte sich im Hause; behutsam tastete sich der nächtliche Wanderer treppab, öffnete die unverschlossene Hinterthür und gelangte ins Freie. Barry fuhr mit drohendem Knurren aus seiner Hütte, sowie er das Knirschen der Tritte vernahm und die schwarze Gestalt sich aus dem Schatten der Hauswand lösen sah. Beim ersten halb geflüsterten Worte jedoch erkannte er seinen Freund, und als wolle er ihn um keinen Preis unbeschützt hinweggehen lassen, zerrte an seiner Kette und winselte, bis Bürklin ihn losmachte und mit sich nahm. Eng an den Hinauswandernden gedrängt, begleitete er ihn, leckte seine herabhängende Hand, die wie Feuer brannte, und sprang ein paarmal schmeichelnd an ihm auf, gleichsam sagend: »Du bist nicht allein, ich halte dir Treue!«
Ihm war die Nähe des Tieres wohlthuend; er beugte sich dann und wann zu ihm nieder, drückte den großen, rauhen Kopf gegen seine Brust und redete zu dem Hunde wie zu einem mitfühlenden Menschen. Er ging ins Dorf, um den Brief, noch zur Beförderung morgen früh, gleich in den Kasten der Postablage zu werfen. Dunkel und totenstill wie ein Märchen lag das alte Nest, nur als Bürklin dem Hause mit Bureau und Briefkasten nahe kam, hörte er drinnen ein Kind laut schreien, und eine Frauenstimme sang dazu, um den unruhigen kleinen Weltbürger im Wickelkissen einzuschläfern. Dann öffnete sich die Thür und ein langer, gebückter junger Mann im Nachtkamisol ging mit einem Kruge zum Brunnen im Hofe, dessen Wasser, kristallklar und eiskalt, unaufhörlich aus enger Röhre in den niederen Steintrog rann. Es war der Baselgier Postbeamte.
»Ah, Signor Dottore – noch unterwegs? Bonna sera!« sagte er erstaunt, als er den Stehenbleibenden erkannte. »Das ist eine kalte Nacht heut! Unser Bübchen hat's so arg mit dem Zahnen, und wir müssen ihm den Kopf kühlen –«
»Laßt mich erst einmal trinken, Jon Ruggi,« entgegnete Bürklin und netzte seine trockenen Lippen mit tiefen Zügen aus dem Kruge, »und dann hätt' ich eine Bitte: schließt Eure Kammerthür wegen der Frau und des Kindes und schreibt mir jetzt gleich im Bureau den Brief hier ein, daß er recht rasch und sicher an Ort und Stelle kommt.«
»Gern, Signor!« Der gefällige Mann eilte mit seinem Kruge voraus, lieferte ihn ab und machte Licht im Bureau. Er hatte keine Ahnung, wo in der großen Welt Danzig lag, und suchte und blätterte sehr lange danach in seinen Büchern. Bürklin saß unterdessen auf der Bank, lehnte den Kopf mit geschlossenen Augen gegen die Wand zurück, und der eintönige Gesang der Mutter drinnen in der Kammer, des Kindes matter werdendes Weinen und das Schnaufen des Hundes zu seinen Füßen verschwammen zu einem Chaos von Tönen in seinem Hirne. Er schrak mit Herzklopfen und Angstschweiß vor der Stirn empor, als Jon Ruggi ihm den Garantieschein hinbot und die Einschreibegebühr forderte.
»Was soll ich Euch für Eure Bemühungen geben?« fragte Bürklin aus dumpfem Traume heraus, und als der Mann meinte: es sei ja gern geschehen, und überdies habe er doch noch gewacht, legte der Fragende stumm ein Zweifrankstück auf den Tisch und ging von Barry gefolgt wieder fort.
Er hatte sein Schicksal und seine Entsagung nun verbrieft; der Druck war von seiner Seele gehoben, aber die Öde seines Inneren wollte sich von keiner Freude an dem Siege über die selbstischen Begierden aufhellen und beleben lassen. Von Unruhe getrieben, ging er zwecklos weiter, und seine Augen suchten in der Finsternis, als müßten sie irgendwo einen Haltepunkt erspähen.
Ein leiser, kalter Wind bog die entblätterten Äste der ärmlichen Gartengesträuche des Dorfes, Reif lag auf den Wiesen, und als Schneepyramiden ragten La Margna und Piz Forno in die winterliche Luft. Hinter ihm der Corvatsch, ein riesiger Sargdeckel von weißem Leichentuche überspreitet, vor ihm stieg der scharfzackige Lagrev empor. Das nächtliche Düster hob die Perspektive auf, und wer so dem Berge entgegenschritt, mochte sich's leicht einbilden, daß der ungeheure Felskoloß jählings vornüber stürzen und Dorf und Wiese mit sich hinab in den tiefen See reißen könnte.
Kirche und Kirchhof und der Wasserstreifen des jungen Inn setzten seiner Wanderung ein rechtzeitiges Ziel. Er lehnte sich schwer auf die Hecke, die den Kirchhof umschloß, und schaute umflorten Auges in den kleinen Totengarten. Weiß hoben sich die liegenden Gedenktafeln hervor, im Winde knisterten die schwarzgefrorenen, kopfhängenden Georginen aneinander, und von der kriechenden Minze stieg würziger Duft auf.
»Ich will auch zur Ruhe gehen,« sagte sich Bürklin mechanisch; der Hund an seiner Seite schüttelte sich in der Kälte, ihm selbst lief eisiges Schauern durch die Glieder. Mit Mühe erreichte er den Jostihof und vergaß den Hund anzuketten. Als Nonna anderen Morgens mit dem heißen Wasser an seine Thür kam, stand dieselbe halb offen, und ihr Signor Dottore lag stark fiebernd im Bette und verlangte nach dem Arzte. Nonna pries sich selbst wegen ihrer richtigen Einsicht am Abend zuvor; denn ehe Lorenz sich auf den Weg nach Sils-Maria machen konnte, fuhr des Doktors Einspänner in den Hof.