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Alles war totenstill drinnen, als er, ohne anzupochen, eintrat. Tino lag noch, wie vor einer Stunde, schlafend im Lehnsessel, seine langen, zarten Hände hingen schlaff zu beiden Seiten des Stuhles nieder, sein Gesicht sah fahl und alt aus, und eine unbeugsame Verbissenheit hatte ihm ihren Stempel aufgedrückt.
Dieser Anblick war nicht dazu gemacht, Tychsens Zorn zu mildern. Heftig rüttelte er den Schlummernden wach, der mit einem Satze in die Höhe fuhr. Er zitterte und seine Brust wogte vor Schreck – auf nichts wußte er sich zu besinnen. Dann schleuderte Tychsen ihm den ganzen Anklageschwall entgegen.
»Nichtsnutziger Faulenzer!« donnerte er ihn an, »auf diese Art also hintergehen Sie Ihre Vorgesetzten – dies ist der Dank für meine Arbeit an Ihnen!« Er hielt ihm das tropfende Papierbündel entgegen, und als ein blauer Keil stand die Zornesader fest zwischen seinen Brauen. »Die Hefe der Menschheit,« fuhr er fort, »bringen Sie hinterlistig in ein achtbares Haus und beschmutzen es dann, nach solchen Vorbildern, mit schamlosen Kritzeleien! Und dies! – dies! –« Er zog die Zeichnungen, die ihn selbst verspotteten, zwischen den übrigen hervor und schüttelte sie vor Tinos Gesicht. »Wagen Sie keinen Widerspruch, Photinos, hier sind die Beweise! Sie verdienen es nicht, eine anständige Schule zu besuchen!«
»Die Schule ist das Elend für mich – die Hölle! Ich will Künstler werden,« war die trotzige Antwort. Der Direktor riß die beiden Karikaturen in seiner Hand mitten durch und schleuderte sie mit dem Reste der Zeichnungen auf den Tisch. Sofort warf sich Tino mit dem halben Leibe darüber hin, um sein Eigentum zu decken.
»Sie haben kein Recht – dies ist mein – mein! lassen Sie mir, was mein ist!« rief er, stampfte mit dem Fuße und hob drohend die Faust, aber Tychsen stieß ihn zurück und ballte die losen Blätter zusammen, als seien sie wertlose Makulatur. Wieder das scharfe Reißen kreuz und quer: eine Handvoll Fetzen flatterte zu Boden und noch eine Handvoll.
» Sie ein Künstler?« sagte Tychsen und lächelte mit schneidender Ironie. » Sie ein Künstler! – Da liegen Ihre Meisterwerke! Ich habe sie der Nachwelt entzogen, kraft des Rechtes, das mir über Sie gegeben ist.«
Des jungen Mannes Augen wurden zuerst groß und starr und hafteten an den zerknitterten Papierstücken am Boden; dann schoß ungebändigte Wildheit wie ein roter Feuerstrom aus ihren dunklen Tiefen hervor, und über die weißen Lippen kam ein zischender Laut.
»Quäler! – Zerstörer! Geisttöter!« keuchte er – mühsam in seiner Muttersprache, »du sollst mir büßen – du sollst mich nicht bezwingen – niemals!« Er hob die gekrallten Hände in die Luft und warf den Oberkörper vornüber, als wollte er sich auf seinen verabscheuten Gegner stürzen. Der aber packte ihn mit gewaltiger Kraft und preßte ihn eng gegen die Wand.
»Nicht bezwingen? Das werden wir bald sehen!« stieß er heraus. »Mäßigen sie Sie sich – schweigen Sie sofort – oder ich vergreife mich an Ihnen!«
»Sie thun es schon! Lassen Sie mich los –« Tinos Muskeln spannten sich mit aller Macht unter dem Drucke der starken Hände. »Ich bin ein Freigeborner, kein Sklave! Schlagen Sie, ich schlage wieder – nehmen Sie mir alles; ich werde doch Künstler – Ihnen zum Trotz! Das Hemd reiße ich mir vom Leibe und mache eine Leinwand daraus, mit meinem Blute mal' ich – das dritte Bild von Ihnen – ja – von Ihnen – thönerner Zeus – Götterpygmäe!« – Sein Atem stand plötzlich still, ein schrecklicher Kitzel stieg als Krampf in seiner Brust auf und bezwang seinen Willen.
»Frecher! schrie Tychsen mit heiserer Stimme; da löste sich der Krampf in Tinos Brust: er brach in wildes, unaufhaltsames Lachen aus, und der schwergereizte Mann schlug den Lachenden mit der freien Linken ins Gesicht, daß ihm das Blut aus Mund und Nase rann. Im nächsten Augenblicke fühlte Tychsen seine Kehle von den würgenden Fingern des Getroffenen zusammengedrückt.
Kein Wort ward laut. Sie rangen miteinander wie Feinde auf Leben und Tod; dann versagte plötzlich Tinos unnatürlich angespannte Kraft. Noch einmal bäumte er auf, aber der Schwindel übermannte ihn. Ein schwacher, letzter Stoß nach Tychsens Brust, und er taumelte gegen sein Bett. Dort ließ er sich auf den Rand niedersinken; sein Kopf fiel schwer zur Seite an den Pfosten, und mit gelähmter Hand versuchte er sich das quellende Blut vom Gesichte zu wischen. Rasch atmend, mit geröteter, schweißbedeckter Stirn und gekreuzten Armen, stand Tychsen dicht vor ihm, betrachtete unverwandt das entstellte, stumme Gesicht mit den geschlossenen Augen und nagte die Lippen.
Der rohe Gewaltakt hatte ihn innerhalb weniger Sekunden ernüchtert. Nun überwältigte ihn ein peinigender, fast physisch zu nennender Ekel vor sich selbst und seinem Opfer. Dahin also war es gekommen! Er, der in seiner eignen Schule körperliche Züchtigungen aufs strengste verbot, schlug diesen Knaben in blinder Wut, wie man einen tollen Hund schlägt, und verschuldete so, daß der Knabe ihn ansprang, einem Tiger gleich. Gab es etwas Entwürdigenderes als dieses, wenn er seine erhabene und verantwortliche Stellung zur Jugend bedachte? Jetzt war es unwiderruflich vorbei mit diesem jämmerlichen Erziehungsversuche. Es galt nur noch die häßliche Katastrophe in einen möglichst anständigen Abschluß hinüberzuleiten!
»Ich werde später mit Ihnen sprechen, Photinos,« sagte der Direktor nach langer Pause. Es wäre ihm undenkbar gewesen, seinen Gegner »Tino« anzureden wie sonst. Er nahm ein Handtuch und das wassergefüllte Becken vom Waschtisch und gebot dem Halbbetäubten, sich vom Blute zu reinigen. Aber Tino stieß das Becken zurück und deckte sein Schnupftuch übers Gesicht, das heftig schmerzte und brannte. Der Direktor tauchte ohne weiteres das Leinen ins Wasser und schickte sich an, selbst Hilfe zu leisten, Tino jedoch wehrte, voll erneuter Wut, mit beiden Händen ab.
»Sie sollen mich nicht berühren – ich will mit keinem reden, den ich hasse!« entgegnete er leidenschaftlich und verbarg sein Gesicht tief in den Kissen, damit der Verhaßte nicht hören sollte, wie seine Zähne vor Frost und Qual aufeinanderschlugen.
»Ihr Haß ist mir gleichgültig – im übrigen werden Sie dies Zimmer ohne meine besondere Erlaubnis nicht verlassen,« erwiderte Tychsen kalt. »Ich rate Ihnen, sich wohl auf Ihre Rechtfertigung zu besinnen. Jedes unüberlegte Wort mir gegenüber dürfte für Ihre Zukunft schwer ins Gewicht fallen. – Haben Sie mich verstanden, Photinos?«
Tino antwortete nicht und regte sich nicht in den Kissen. Der Direktor wartete noch einen Augenblick vergebens, ging dann hinaus und verschloß hinter sich die Thür.
Was nun beginnen? Er durchschritt den schmalen, stillen Gang, der von Tinos abgelegener Stube auf den großen Hausflur führte. Gottlob, keine Seele hatte offene Ohren für die jüngsten Geschehnisse gehabt. In der Küche lachten und schäkerten die Mägde mit dem Schuldiener, der drinnen auf die Rückkunft seines Herrn wartete, Gerda sang drüben bei den Kleinen; weich und zart klang ihre Stimme:
»Noch seh' ich dich vor mir stehen
In dem Kinderkleidchen –«
Nichts half! – Die Komödie mußte um des Scheines halber gespielt werden. Tychsen schob den Mantel zurecht, setzte den Hut gerade und ließ sich mittels des Drückers geräuschlos zum Windfang hinaus. Wie eine grausame Ironie hing da draußen die festliche Empfangsguirlande von Tannen und bunten Winterastern über ihm. Er schloß die Augen und lehnte seine Stirn eine Sekunde lang gegen die Milchglasscheibe, denn der Ekel regte sich von neuem, so daß er kaum wagte, den Kopf zu heben. Mit Anstrengung faßte er sich, klingelte an und ward sofort eingelassen.
»Fränzchen – bist du es?« rief seine Frau von der Eßstubenthür aus, und er antwortete, mühsam seine Stimme klärend:
»Ja Kind – ich will mich nur umkleiden; dann komme ich sofort. Laß immer auftragen.«
Mit wankenden Knien erreichte er sein Schlafgemach und lag wohl zehn Minuten still auf dem Sofa hingestreckt, ehe er im stande war, den Halskragen, den Tinos würgende Hände in ein formloses Ding verwandelt hatten, mit einem frischen zu vertauschen und sein Gesicht in kaltem Wasser zu baden. Darauf trat seine Frau zu ihm ein, schalt in milder Weise über die ungebührliche Verspätung – es war längst zwei Uhr! – und machte sich's im Sofaeckchen gemütlich, während er den Hausrock und die weichen Juchtenstiefel anzog und sich mit Mut für sein Mittagessen wappnete; denn er verspürte alles andere eher als Appetit. Frau Mina leistete ihm Gesellschaft beim einsamen Mahle. Die Familie hatte schon vor einer Stunde abgespeist, und die Kinder, die von Gerda hereingebracht wurden, um den heimgekehrten Vater zu begrüßen, wunderten sich in ihren kleinen Herzen, wie rasch er sie wieder fortschickte.
»Er verzichtet für heute aufs Essen,« gab der Direktor auf Frau Minas Frage: »ob Tino noch immer schlafe?« zur Antwort. »Ich habe ihn vorhin gesehen; er soll weder besucht noch gestört werden und auch heute in keinem Falle zum Pfarrhof hinausgehen.«
An die Erwähnung des Pfarrhofes schloß sich die Diebesgeschichte, und die mußte auch Gerda noch hören, ehe sie sich zu ihrer Musikstunde aufmachte. Vom Atelier und seinem Besitzer kein Wort – als aber Nicolos Name genannt wurde, fühlte Gerda, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg; mitten im Satze zog sie ihre Uhr und sprang auf, um fortzugehen. Von der Stunde aus gedachte sie gleich zum Empfang der Pastorin auf den Pfarrhof zu eilen. Jens oder Merret brächten sie zur Abendbrotzeit sicher in die Stadt zurück.
Ehe sie ging, huschte sie noch rasch durch den Gang an Tinos verschlossene Thür und klopfte leise, um zu fragen, wie er sich befinde. Aber kein »Herein!« erklang, und so sagte sie sich, daß er wieder schlafen werde, und das sei auch am allerbesten für ihn. Verstohlen legte sie ihre Lippen gegen das empfindungslose Holz und flüsterte unhörbar: »Gott behüte dich!« Ein süßes und fremdes Gefühl war seit heute früh in ihrem jungen Herzen wach geworden, und von diesem Gefühle getragen, verließ sie leichten Trittes das Haus.
Bald nach dem Kaffee ward Proffessor Scherzer angemeldet, der das Direktorat in Tychsens Hände zurückgeben mußte, und die beiden Herren begaben sich sogleich ins Konferenzzimmer hinunter. Als dort, gegen Schluß der Sitzung, die Rede auf Tino Photinos und seine mannigfachen Vergehen kam, stand Scherzer nicht an, den Direktor unverhohlen von seiner, persönlichen Meinung über den Klassensünder in Kenntnis zu setzen und ihm seine Unterhaltung mit Kurt Hallersleben ohne jeglichen Kommentar mitzuteilen. Dann zog er seine Brieftasche heraus, entnahm derselben eine Kabinettphotographie und legte sie schweigend vor Tychsen hin.
Dieser nahm mechanisch das Vergrößerungsglas vom Tische, das meistens dazu diente, um allerhand strafwürdige Kritzeleien der Schüler entziffern zu helfen, und schaute durch dasselbe völlig verwirrt den Knabenkopf an, der nach einer Kreidezeichnung wiedergegeben schien. Dieselbe Klarheit des Tones, die gleichen markigen Striche, die dem Direktor wider Willen auch bei den vernichteten Karikaturen aufgefallen waren. Ja – das war der diebische Nicolo, und in einer Ecke stand deutlich lesbar das griechische »Α ΦΩΤΙΝΟΣ« und darunter die Zahl des laufenden Jahres.
»Wo ist das Original?« fragte Tychsen, und er mußte sich bei der kurzen Frage zweimal räuspern, so unklar kam seine Stimme.
»Bei Brodersen,« erwiderte Scherzer. Er hat mir die Photographie, den ersten und einzigen Abzug, den Photinos und Hallersleben gemeinsam bestellt haben, auf meine Bitte heute für einige Stunden leihweise überlassen, da den jungen Leuten erst zu morgen die Ablieferung versprochen ist.«
»Solch eine Leistung hätte ich nie und nimmer für möglich gehalten,« sagte der Direktor, nachdem er die Photographie lange durch die Lupe und mit bloßem Auge betrachtet hatte. Er stützte dabei seine Stirn, die wieder von starkem Rot überflogen war, in die linke Hand, die rechte, die vorhin den niederschmetternden Faustschlag ausgeteilt, bebte so stark, daß sie die Lupe niederlegen mußte. Darauf bemerkte er, wie beiläufig, daß dieser rabiate Mensch, der Photinos, recht elend zu sein scheine und mehr als je geneigt, alle Dinge hitzig und dramatisch zu behandeln. Er selbst habe kurz vor Tisch eine böse Scene mit ihm gehabt.
»Man müßte, da alles sonst fehlschlägt, einmal versuchen, den Weg zum Vertrauen des Starrkopfes zu finden, um sein Talent vorurteilsfrei auf den reellen Wert prüfen zu können,« fügte er in dem übertrieben kalten Tone eines Mannes hinzu, der sich um keinen Preis verraten und bloßstellen möchte und doch kaum mehr an sich halten kann.
Scherzer bemerkte es und blickte betroffen in seines Vorgesetzten Gesicht. »Möchte es nur nicht zu spät sein, Herr Direktor,« sagte er. »Das Kraut ›Vertrauen‹ braucht Zeit zum Keimen und viel Pflege und Geduld zum Gedeihen.«
Als Tychsen statt der Antwort eine Bewegung nervöser Ungeduld machte, verbeugte sich Scherzer, steckte die Photographie wieder in sein Taschenbuch und wollte Abschied nehmen. Da erhob sich Tychsen plötzlich rasch und bewegte einen Augenblick lautlos die Lippen, ehe er eine Silbe hervorbrachte.
»Ich kann auf Sie bauen, Kollege?« fragte er endlich und streckte dem erstaunten Professor seine kühle Hand entgegen. »Unbedingtes Schweigen, nicht wahr?« Er machte eine Pause und holte mehrere Male tief Atem, ehe er fortfahren konnte: »Sie wissen – er ist mir anvertraut worden – Photinos – anvertraut unter bestimmten Bedingungen. Ich glaube, meine Pflicht gethan zu haben, indessen – allwissend ist niemand außer Gott, und so mag es sein, daß der Junge nicht richtig erkannt ist, daß eine Kunstakademie vielleicht ratsamer wäre als ein erzwungenes Maturum. Ich sage vielleicht: – es wird sich ergeben! – Wollen Sie einen Augenblick mit mir zu ihm hinaufgehen, Kollege?«
Ohne Scherzers Zustimmung abzuwarten, verließ er das Konferenzzimmer, und Scherzer folgte ihm treppauf in den ersten Stock zurück. Dort zog der Direktor Tinos Stubenschlüssel aus der Tasche und wollte öffnen, aber das Schlüsselloch war von innen fest verstopft und auch der Riegel schien vorgeschoben zu sein. Des wiederholten Pochens und Rufens ungeachtet kam kein Tritt zur Thür. Tychsen beugte sich zum Schlüsselloch und stieß mit Hilfe seines Federmessers den Papierpfropfen hinweg; ein scharfer Brandgeruch quoll ihm entgegen, und er vernahm, wie der angelehnte Fensterflügel im Winde klapperte. Endlich gelang es ihm, wieder mit dem Messer, von außen den Riegel zurückzuschieben, und ungehindert konnten die beiden Männer eintreten.
Erschrocken blieben sie auf der Schwelle stehen. Von Tino nichts zu entdecken! Der Eisenofen glühte rot, seine Thür stand offen, das Innere war zum Bersten mit verkohlten Büchern angefüllt; es glimmte und flammte noch immer. Unter den Büchern hervor hing ein versengter Rest der grünen Tischdecke, und die Dielen zeigten mehrfach tiefe, schwarze Brandstellen. Unzählige Rußflocken schwebten in der dicken Luft und lagen auf den Möbeln, und alle Scheiben des Fensters, das in den totenstillen Schulhof blickte, waren vom Rauche bläulich beschlagen.
Tychsen zündete die Kerze des Handleuchters auf dem Betttischchen an, riß die Tapetenthür des dunklen Garderobewinkels auf und leuchtete hinein. Alles leer und in größter Ordnung, nur Koffer und Kisten übereinander geschichtet. Er kehrte zurück und beugte sich mit einem Rufe der Angst zum Fenster hinaus. Die Dämmerung wuchs und hinderte das klare Unterscheiden von Schein und Sein; dennoch vermochte der Spähende die Gewißheit zu erlangen, daß sein Gefangener die Flucht ergriffen hatte. Der Deckel des Regenfasses unter dem Fenster war von einem Sprunge eingetreten, die Dachrinne, die hinableitete, wies an mehreren Stellen Beulen auf, und durch den tiefen Schnee des Hofes, bis zur verschlossenen Mauerpforte hin, lief der Eindruck von Tinos schmalen spitzen Schuhen. Die Pforte hatte der Fliehende ohne Zweifel überklettert, denn an ihrem Lattenwerk war der haftende Schnee zum Teil gewaltsam abgeschürft.
»Herr im Himmel! Dies ist zu viel!« rief der Direktor. »Dies habe ich nicht gewollt – nicht verdient!« Er warf sich in den Lehnsessel am Tisch und schlug beide Hände vors Gesicht.
Scherzer blickte stumm und entsetzt im Kreise umher, ohne sich den Zusammenhang reimen zu können. Seines kalten und besonnenen Vorgesetzten Verzweiflung schnitt ihm in die Seele, und alles, was sein Auge ringsum erfaßte, gab beredtes Zeugnis von einem erbitterten Kampfe, ja von Gewaltthätigkeit. Hier der umgestürzte Stuhl und das halb herabgerissene, leere Bücherregal, dort das zerwühlte Bett mit den Blutspuren auf Decke und Kopfkissen und Blut auch im Waschbecken und als große Tropfen auf dem Fußboden. Zuletzt gewahrte er, im Winkel liegend, Tinos Notizbuch; das hob er auf und unterzog die eingerissenen Blätter einer genauen Prüfung. Plötzlich hielt er inne und nickte erregt vor sich hin, als habe er die Lösung des finsteren Rätsels gefunden. Bei dem Ausrufe, der seinen Lippen entfuhr, richtete Tychsen sein Gesicht empor. Blaß und verstört schaute er den Proffessor an.
»Ich bin Ihnen Aufklärung schuldig, Kollege,« – sagte er, fassungslos die Hände ineinander ringend. »Dies ist eine furchtbare Wendung! Ich stehe ohne Mut und Kraft davor! Lassen Sie mich nachdenken – überlegen. Sie sollen alles erfahren, das ist selbstredend, und ohne Rücksicht und Schonung für mich – nur nicht jetzt, nicht hier! Zuerst muß ich ihn wieder haben, den Tollen, Unglückseligen. Scherzer – helfen Sie mir dabei, inständigst bitte ich Sie!«
»Soviel und so gut ich's irgend vermag,« entgegnete Scherzer und legte dabei Tinos Notizbuch vor den Direktor hin.
»Dies kleine Buch klärt mich, vom moralischen Standpunkte betrachtet, weit besser auf, als alle Worte es vermöchten, Herr Direktor,« fuhr er ernsten Tones fort. »Mag hier vorgefallen sein, was will (und es wäre mir unsagbar peinlich, in die Nebenumstände hineinzuforschen), diese zerrissenen Blätter verraten den Aufbau und Ausbau des Trauerspiels!«
Neben Tychsen stehend, wendete er langsam Seite um Seite, und Tychsen verfolgte schweigend ihren Inhalt. Er bestand aus lauter harmlosen Notizen in griechischer und französischer Sprache: Einnahme und Ausgabe, technische Namen und naive Bemerkungen aus der Perspektivlehre und Anatomie, mit winzigen erläuternden Zeichnungen in haarscharfen Umrissen. Mitten dazwischen fanden sich dreizeilige Verse, Scherzer deutete darauf, und Tychsen las mit einem Gefühle in der Seele, das ihn, den Ichmenschen, auf die Folter spannte:
»Der taygetische Ikaros.«
Ja, es war die Abschrift seines eigenen Ikarosliedes, sehr sorgfältig und fast fehlerlos mit deutschen Buchstaben hingemalt. Nach den zahlreichen Unterstreichungen zu urteilen, hatte der Schreiber die Dichtung mit tiefem Verständnisse erfaßt. Den letzten Vers umschloß eine Blaustiftklammer, mit dem Datum eines der ersten Februartage versehen:
»Im Fall ward er der Himmlischen Genoß;
Denn Flügel gab zum Lohn ihm Göttergunst –
Das ist die Mär vom Knaben Ikaros!«
– – – – – – – – –
»Das sei die Mär von dir und deiner Kunst!!«
prangte in Kurt Hallerslebens Renommierschrift als Schlußzeile unter der Strophe.
»Wie lange schon mag er auf dem Laurentiusroste gelegen haben!« sagte Scherzer mit gedämpfter Stimme.
Tychsen erwiderte nichts, er nahm das Notizbuch an sich und faßte den Thürgriff. »Wir müssen ihn suchen,« rief er hinauseilend.
Ehe Scherzer das Zimmer verließ, glättete er das Bett, rückte die Möbel an ihre Plätze und entfernte das Blut aus dem Waschbecken. Ofenthür und Fenster schloß er. Dann ging er dem Direktor nach, sich innerlich zwischen Hoffen und Zweifeln wiederholend: Möchte es nicht zu spät sein!«