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Sie that für den Knaben, was sie nur ersinnen konnte, und that es mit vollen Händen, weil die Vorahnung schwerer Krankheit oft über sie kam, wenn Mattigkeit und Schmerzen allzugroß waren. Aber nicht nur an Krankheit dachte sie: nein, gar manches Mal führte sie sich den Abschluß ihrer Erdenlaufbahn vor die Seele, den Tod.
»Wie war mein Leben?« fragte sie sich in einsamen Stunden ernster Selbstschau, – »friedlich und thatenlos; – was habe ich geleistet, was gefördert? Ich war glücklich und beglückte ihn, der so einfach, so innerlich lebte wie der Eremit im Walde, bis Gott ihn zu sich nahm. Damit glaubte ich meine Mission hienieden erfüllt zu haben und fortan mir selbst und meinen Erinnerungen genug sein zu dürfen. Ich gab, wo ich überreich empfing, ich verehrte, wo ich angebetet wurde, ich half, wo ich selber keinen Mangel litt, und ein anderes Feuer als das meines heimischen Herdes hab' ich niemals entzündet und genährt, weder im Schlechten noch im Guten. Nichts bin ich als ein ganz gewöhnliches, sterbliches Menschenwesen! Ach, nur einmal, ehe ich die Augen schließe, möchte ich für etwas ringen und streben, und ein Unglück in Segen wandeln dürfen, ohne daß der Gewinn und Verlust meines Ichs dabei in Frage kommt. Ja, ich will mich über mein Körperelend hinwegheben, mein Herz zu diesem verbitterten und mißleiteten Knaben ausgehen lassen und keine Zurückweisung scheuen.«
Jeden Nachmittag während des ganzen Januars sah sie von ihrem Sofa aus die beiden Kameraden einmütig über die Wiesen in den Pfarrhof kommen. Kurt schaute wohl lustig nickend durch die Thürspalte zu ihr ins Zimmer und rief: »Wie geht's, wie steht's?« Dann hörte sie ihn pfeifend treppauf poltern, und Tinos leichter, behender Tritt schallte hinter ihm drein. Nach beendeter Schularbeit pflegte sich Junker Kurt gern noch ein bißchen mit des Landrats Zwillingssöhnen in der Stadt herumzutreiben, und nun kam Tinos Dämmerstunde.
Mit welcher Rührung erinnerte sich die Pastorin später jener Winterabende! Draußen lastete die Kälte auf dem weiten Gelände, drinnen glühte das Torffeuer, und die Lampe brannte halbversteckt seitab auf dem Fenstertischchen zwischen den Blumen. Dann drückte von außen eine Hand behutsam auf die Thürklinke, und Tinos schmale Gestalt mit dem dunklen Kopfe schlüpfte ins Zimmer. Stets schob er sich das gleiche niedrige Sesselchen ans Sofa; die ersten Male saß er stumm neben der Liegenden oder kam über einsilbige, unverständliche Antworten nicht hinweg – wie ein Traum erschien ihr seine erste Unterhaltung mit ihr damals in ihrem Atelier, das verschlossen und unbenutzt lag, seit Monden. Nach und nach fand sie in ihrer sanften, innigen Weise den Weg zu seinem Vertrauen zurück. Nie hatte er Mutterliebe gekannt, nie einen zärtlichen Vorwurf oder ein ermunterndes Lob, nie einen weichen schützenden Mutterarm um sich gefühlt, an den er sein Haupt lehnen durfte, das so viel Müdigkeit und Erregung zugleich barg. Denn in ihm kämpfte ein unbeholfener Gigant gegen die spitzfindige Menschenweisheit und rieb sich auf in verzweifeltem Ringen.
An diesem liebreichen Frauenherzen fand sein verschmachtendes Herz Erquickung zwischen allen jenen aussichtslosen Gefechten gegen den überlegenen Feind. Mit tiefer Hingabe und Ehrfurcht hing er an seiner Trösterin, immer häufiger gab er ihr ohne Zagen und Besinnen den heimatlichen Kosenamen glücklicherer Kinder: » Mamakamou« »mein Mütterchen«; sie redete ihn mit dem traulichen »du« an und gestattete ihm das Gleiche ihr gegenüber.
Von seinen Wünschen und Plänen wagte er ihr noch nicht zu reden, und wagte noch weniger ihren klugen Augen die leichtgeschürzten Erstlingskinder seiner geliebten Kunst zu zeigen. Die klare, reife Frau war ihm eine andere als das frohmütige Mädchen, in dessen schwärmerisches, fünfzehnjähriges Herzchen er sein großes Geheimnis versenkt hatte. So blieben alle die Zukunftshoffnungen des ungebärdigen Schülers unausgesprochen, denn auch die Pastorin schwieg noch immer. Sie glaubte recht damit zu thun, daß sie die Stunde der Geständnisse von Tinos eigenem freien Willen abhängig bleiben ließ.
Wieder schaute sie abends, ehe er kam, gern noch ein Weilchen durch ihr Wohnstubenfenster hinaus in den dunkelnden Himmel mit seinen wandernden Wolken und den ersten, zitternden Sternen, wie einst vor langen Jahren. Und es war ihr, als sei das Kinderköpfchen, von dem sie damals geträumt, doch zur Wirklichkeit geworden, und nun hatte sich im Laufe der Zeit das Knäbchen in den Knaben an der Grenze des Jünglingsalters verwandelt, und sie sah alle die Dornhecken und getürmten Steine vor sich, über die er hinwegmußte so oder so, um ins weite, fruchtbare Arbeitsfeld des Mannes zu gelangen.
Ganz anders als Kurt, das lebens- und kampfeslustige Blut, bedurfte ihrer dieser neugefundene Sohn, und sein Bild fing an, sich in ihrer Seele enger und enger mit dem Bilde des verstorbenen Gatten zu verbinden. Dadurch ward er ihr zwiefach teuer, und wenn er in kindlicher Zärtlichkeit seinen Kopf gegen ihre Schulter oder ihre regungslose Hand schmiegte, dann trat die Lichtgestalt des Dahingeschiedenen greifbar vor ihr geistiges Auge; alle ihre Gedanken stiegen zu ihm empor und flossen in eine beruhigende Gewißheit zusammen:
»Du würdest, Geliebter, wenn du lebtest, diesem Verwaisten ein treuer, fester Vater sein, so wie ich ihm eine liebende Mutter sein möchte.«
Über ihren Vorsätzen und Gelübden vergaß sie sich selbst, und dann brach ihre Kraft plötzlich zusammen, gerade ehe sie erfahren und erkennen sollte, wie sie ihrem Schützlinge zu Glück und freudiger Arbeit helfen könne.
Es war am Abende des letzten Januar. Der lustige Junker Kurt hatte sich bald nach dem Vieruhrthee verabschiedet: er wolle bei Landrats arbeiten, und man möge ja nicht mit dem Abendessen auf ihn warten. Er fand seine Tante sehr hübsch und sehr liebenswert, aber nicht flott und mobil genug für seinen geläuterten Geschmack. Das ewige Sofaliegen war langweilig – er hielt in überlegener Primanerweisheit alle Damenkrankheiten für eingebildet. Deshalb sorgte er sich auch nicht unnötig, und so hatte er, nach kurzer Rücksprache mit seinem Gewissen, für heute seine Beteiligung an einer ganz kommentmäßigen Kneiperei mit Salamandern und durchstochenen Mützen freudig zugesagt. Um sieben Uhr abends begab sich die Blüte der Ober- und Unterprima auf heimlichen Schleichpfaden in die entlegene Wattstraße zum »Freudenquell.« Ein höchst feudales, forsches Lokal, allwo kein einziger Pauker verkehrte!
Tino erschien ungewöhnlich spät, mit bleicher, verbissener Miene im Pfarrhofe. Er hatte, als gerechte Strafe für eine große Summe von Schulsünden, schließlich Karzer erhalten und kam jetzt, nach verbüßter Haft, das Herz von Ingrimm und Rache zum Überquellen erfüllt, geradeswegs zu seiner Trösterin. Sehr matt und fieberheiß fand er sie, und trotzdem sie wie sonst fest an ihr Sofa gebannt war, hatte sie etwas Sprunghaftes, Unstätes in ihrem Wesen, das mit seiner eignen zornigen Ruhelosigkeit im Einklange stand. Sie tadelte und ermahnte diesmal auch nicht wie gewöhnlich nach jeder bösen Schulfehde, sondern zog ihn hastig auf sein Sesselchen an ihrer Seite nieder und liebkoste mit bebenden Fingern seine blasse Wange und sein dichtes Kraushaar.
Das Gesicht gegen ihren Arm gedrückt, beichtete er ihr seine Kümmernisse, seine Schmach und redete sich, sobald er auf deren Urheber, den Direktor, kam, in einen bitteren und fanatischen Haß hinein. Nie hatte die Pastorin den Knaben so gesehen. Aufspringend stieß er den leichten, kleinen Sessel beiseite, daß er umfiel und gegen den Blumentisch am Fenster rollte; er stampfte mit den Füßen und knirschte mit den Zähnen, er ballte, sich völlig vergessend, die Faust ins Leere hinaus und raufte seine Locken. Zwischenhinein sprudelte er alles bunt durcheinander hervor, was ihm die Brust zusammenschnürte: – daß der Direktor eine Schablone sei – ein bezahlter Peiniger – ein aufgeblasener Frosch, dessen winziges Hirn nichts enthalte, als den Stundenplan und das Sündenregister der Klassen! Er sei der große Moloch »Ego« in Person – der alles verschlingende Moloch!
Sie ließ ihn nicht weiter kommen, sondern legte ihre brennende Hand fest auf seinen Mund, und mit Schrecken gewahrte er, daß diese Hand wie Feuer glühte. Da warf er sich vor dem Sofa auf die Kniee und begann laut zu schluchzen und zu weinen:
» Mamaka! Mamakamou! – Hat er denn kein Herz für mich, der ich anders bin als die anderen? Ich kann nicht länger Staub atmen, ich kann nicht! Es erstickt mich; – in die freie Luft muß ich hinaus! O Mutter, Mutter, hilf mir – laß mich Künstler werden! – Sage du es ihm, du kannst alles von ihm erreichen!«
Ihre heißen Wangen färbten sich höher, mit rascher Gebärde schob sie ihn von sich und zog ihn dann ebenso rasch in den Schutz ihres Armes zurück: »Bleibe – ich will mit dir sprechen; – nein still! – halte den Kopf still – alles schwankt vor meinen Augen! Was sagst du? Künstler werden! Seit langem hab' ich das geahnt, ich hätte eher mit dir reden sollen. Kind – wenn ein rechter Künstler in dir lebt, ward er schon mit dir geboren, und ich glaube dir's! Aber für ihn bedarf es der Beweise –«
»Ich bringe sie dir!« rief Tino aufspringend, allein sie preßte beide Hände gegen die Stirn, und zitterte vor Schmerzen.
»Morgen – heute kann ich's nicht,« sagte sie klagenden Tones. »Ich bin sterbenselend. Morgen sollst du den ganzen Sonntagabend für dich haben. Sei nun ruhig – die Zeit hilft dir und mir, und jetzt versprich mir, mein geliebter Junge, daß dein Zorn sich heute abend mit dir schlafen legen und morgen früh nicht wieder aufstehen soll.«
»Ich verspreche« – entgegnete er unsicher – »müßt' ich ihn nur nicht hassen – hassen – ja, es gibt kein anderes Wort!« Und wieder ballte er zähneknirschend die Hand. »Es ist noch nicht Abend – ich lege mich noch nicht schlafen!« fügte er mit jesuitischer Logik hinzu, als sie ihn traurig anblickte.
»Denke nicht, daß Tychsen kein Verständnis für des Vogels Flug und den Aufschwung der Menschenseele hat, Kind,« strebte sie ihn zu beschwichtigen. »Wenn er die Beweise sieht, ist er vielleicht der erste, der dir die Flügel löst.« – Sie hielt inne – denn ihr selbst fehlte der Glaube, und als sie seinem großen, gespannten Blicke begegnete, griff sie nach dem griechischen Liederbuche, das ihr zur Hand lag.
»Höre – dies bist du vielleicht, und so denkt auch er vielleicht über deine Flugbegierde,« sagte sie hastig, und er schaute mit ihr in die Seiten, aus denen sie laut las, kaum im stande die Fieberaufregung ihrer Stimme zu bemeistern:
»Es stieg der Greis auf den Taygetos,
Hielt sorgsam an der Hand den jungen Sohn,
Den schöngeäugten Knaben Ikaros,
Und als sie droben ob den Wolken standen,
Sprach bang der Greis: ›Kennst du bergab die Pfade?‹
Drauf Ikaros: ›Schau hin, die Pfade schwanden!
Der Erd' entrückt sind wir im Himmel hier,
Nicht hilft uns abwärts unser Menschenfuß –
Breit' aus die Hände, Vater! – Fliegen wir!'
Und sieh – zum Flug teilt schon sein Arm die Lüfte,
Eh' noch des Vaters Angstruf ihn erreichte,
Jäh stürzt' er nieder in die Marmorklüfte – –«
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Sie ließ das Buch sinken, bedeckte, zusammenschauernd, das plötzlich erblaßte Gesicht mit der freien Linken und kehrte sich mühsam gegen die Rückwand des Sofas. Das Bild des stürzenden Ikaros, der, wie durch übernatürlichen Zwang, die Züge des Lauschenden neben ihr annahm, war ihrer krankhaft erhitzten Phantasie zu entsetzlich, um weiterlesen zu können.
Er hatte das niedergleitende Buch aufgefangen und saß nun schweigend, ohne sich zu regen, die Augen starr auf den zweiten Teil der Dichtung geheftet. Er kannte das Original; es ward ihm neu gegenwärtig und ermöglichte ihm das Verständnis der deutschen Übertragung:
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»Da hielt der edle Stein das Antlitz fest
Des Knaben Ikaros, des Kühnen Antlitz,
Und hält es so für aller Zeiten Rest,
Auf daß des Mutes Name niemals sterbe,
Des Mutes, der gewagt das Schauriggroße:
Den Wolkenflug, der stolzen Gottheit Erbe,
Der – frei im Äther seine Bahn zu ziehn,
Sich kecklich lösend aus der Erde Haft,
Dem Zweifel wollte und der Furcht entfliehn.
Und ob ihm ward der grause Sturz verderblich,
Nicht nur im Marmorstein lebt fort sein Bildnis –
Nein: göttlich Wagnis macht gottgleich – unsterblich!
Im Fall ward er der Himmlischen Genoß,
Denn Flügel gab zum Lohn ihm Göttergunst –
Das ist die Mär vom Knaben Ikaros.«
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Zwei-, dreimal überlas Tino Photinos die ergreifende Sage seines Heimatlandes.
Kein Laut um ihn her, als das regelmäßige Ticken der alten kleinen Standuhr von Bronze mit kupfernem Zifferblatte und das scharfe Knistern der zusammensinkenden Kohlen im Ofen. Über das Sofa hin warfen im Lampenschein die Blätter des Philodendron ihre großen Zackenschatten, und zwischen dem Grün hervor leuchtete das gesenkte Antlitz des holden Praxiteleischen Eros. Die Pastorin lag noch immer gegen die Wand gekehrt. Das dunkle Rot brannte wieder auf ihren Wangen, und Thränen hingen in den Wimpern ihrer geschlossenen Augen. Geräuschlos ging Tino mit der Lampe zum Tisch hinüber und schrieb das Gedicht in sein Taschenbuch ab. Buchstaben um Buchstaben malte er sorgfältig, den Zeilen langsam mit dem Zeigefinger folgend, dann schlich er zum Sofa zurück, beugte sich, den Atem anhaltend, über die reglos Daliegende, küßte ihre schlaffe Hand und sagte leise:
»Gute Nacht, Mamakamou – gute Nacht bis morgen! Werde mir bald ganz gesund, meine teure Mutter – nun geht der Zorn schlafen – weine nicht mehr!«
Heftig schreckte sie aus ihrem Halbschlummer auf, ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie schlang den Arm um Tino, als müsse sie ihn vor der Tiefe behüten, wie der Greis den Knaben Ikaros, sie zog ihn zu sich nieder, drückte ihre Lippen gegen seine Stirn und flüsterte mit schwacher Stimme:
»Schlaf wohl, Tino – mein Sorgenkind – und schütze dich Gott bis morgen!«
»Ja, morgen!« wiederholte er, und damit war er schon gegangen.
Ein unbeschreibliches Grauen überfiel sie, als sie so allein zurückblieb. Die Strophen der Ikarosmär jagten sich in ihrem Hirn, und riesenhafte Schreckbilder wirbelten und gaukelten vor ihr in der Luft. Immer Tinos stürzende Gestalt, hier und da und dort, wohin auch ihr entsetzter Blick schweifte. Sie preßte ihr Gesicht krampfhaft in das Sofakissen, um den schaurigen Spuk zu bannen; vergebens – nun wälzte er sich als Alp auf ihre Brust und erzwang sich doch den Weg in ihre Seele.
Als Merret Petersen eine halbe Stunde später mit dem Lichte zum Schlafengehen hereinkam, fand sie ihre Herrin hilflos weinend, und kurz vor Mitternacht mußte sie Jens zu Doktor Scherzer in die Stadt schicken. Wo Herr Kurt steckte, das wußte der Himmel! Merret behielt ihre Entrüstung für sich, denn er war ja nicht ihresgleichen.
Kurt kam erst gegen zwei Uhr nachts, die Stiefel in Händen, durch die Hinterthür unter dem Hühnerwiemen heimgetappt. Ehe Merret ihm am anderen Morgen berichten konnte, daß Frau Pastorin schwer erkrankt sei, war er schon wieder auf und davon gewesen, um sich vor dem Frühstück spazierengehenderweise ein wenig den Kopf zu kühlen. Natürlich erst nach verstohlenem Genusse einer Tasse schwarzen Kaffees, des ersten und stärksten aus der Filtriermaschine in der unbewachten Küche.