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6.

»Das ist ein wunderhübsches Familienbild!« rief Steffen Bürklin, als er an Katharinens Seite den Wiesenpfad hinüber durch Sils-Maria zum Fexthal einschlug. »Sehen Sie nur, wie Ghitas buntes Kleid und Barbettas Kopftuch, obwohl es auch blau ist, sich schön vom Himmel abheben, und selbst Per Vian, der schlotterige Gesell, ist malerisch im Samtwams mit dem Hochzeitsstrauße am Hute. Schade drum, daß weder Sie noch ich zur Künstlerzunft gehören! Und dieser prachtvolle Hintergrund von Wald und Gletscherhöhen!

»Welch reges Interesse haben Sie für diese Leute!« entgegnete Katharine. »Das Kind lasse ich natürlich gelten, das ist ein ganz reizendes Geschöpfchen, aber der Mann ein Gewohnheitstrinker und die junge Frau, wie ich von Nonna gehört zu haben meine, eine durch und durch leichtfertige Person –«

»Himmel! Wie realistisch sagen Sie das hin, gnädige Frau, angesichts meines anmutigen Bildchens dort,« rief Bürklin und nickte der kleinen Karawane nochmals nach, bis die Wegbiegung sie unsichtbar machte. »Ich muß doch wirklich ein eingefleischter Idealist sein, daß ich so ohne störende Nebengedanken meine Freude an dem haben kann, was mir der gütige Augenblick schenkt. Freilich stehe ich dem Falle Vian-Tosio anders und wissender gegenüber als Sie. Die Verhältnisse unserer »drei Glücklichen« sind mir bekannt, und wenn es Sie interessirt, erzähle ich Ihnen kurz davon. Der Vian also,« fuhr er fort, als Katharine seinem Vorschläge zustimmte, »ist ein tüchtiger, fleißiger Mensch gewesen, ehe die Heftigkeit und Untreue seiner ersten Frau ihn an das böse Laster brachte. Barbetta Tosios Mutter war eine schwache, verschüchterte Witwe, die alle Arbeit mit eigener Hand that und ihrem lebensfreudigen Mädchen ungezügelte Freiheit ließ, bis sie die Augen schloß. Dann kam das verzogene Ding zu Menika Caderas, ihrer Tante, die mit Schlägen und Keifen einen ruhigeren Wandel erzwingen wollte. Sie wissen: allzu scharf macht schartig! Wie es so geht, unter dieser dornigen Geißel schlug die Barbetta über den Strang. Aber ihr Kern ist gut und Liebe bringt viel fertig im Leben, macht Sünder zu Gerechten und glüht die Schlacke vom Edelmetall herab. Und dann glaube ich, daß ein reines Kinderherzchen diejenige, welche es von Natur oder aus Mitleid liebt, zur guten und treuen Mutter machen muß. Ebenso wird es, meiner festen Überzeugung nach, der Barbetta gelingen, aus dem verkommenen Per wieder einen brauchbaren Arbeiter zurecht zu stutzen. Ja, ja, eine gute Frau vermag alles und trägt alles!«

Er redete im behaglichen Dahinwandeln und hätte gern sein Thema noch weiter ausgeführt, wie es die Art derjenigen ist, die gewohnt sind, Vorträge zu halten. Seine Begleiterin absonderlich zu beobachten, fiel ihm nicht ein; wozu auch? Er sprach ja nur einige Lebenswahrheiten aus, die allgemein bekannt und anerkannt waren. Mitten in der Rede aber durchfuhr ihn ein jäher Schreck, als er das laute Aufschluchzen der Frau an seiner Seite vernahm und sie dann mitten im Wege still stehen und die Hände unter heftigem Weinen vor ihr Antlitz schlagen sah.

»Um des Himmels willen! Was ist es, gnädige Frau?« rief er bestürzt, »habe ich Ihnen unwissentlich wehe gethan? Verzeihen Sie mir!«

Aber sie schluchzte immer krampfhafter: »O Gott, sprechen Sie nicht weiter – ich kann es nicht anhören – ich bin eine unglückliche Frau und eine unglückliche Mutter!«

Was konnte er diesem Schmerzensausbruche gegenüber thun? Sollte er seine Begleiterin nochmals um ihr Vertrauen bitten, nachdem sie es ihm neulich kurz und schroff verweigert hatte? Sein Stolz wollte sich dagegen auflehnen, aber das Mitleid mit der hilflos Weinenden bezwang ihn. Es war eine entsetzlich peinliche Lage, in der er sich urplötzlich befand.

»Kommen Sie, liebe gnädige Frau,« bat er, ihren Arm gewaltsam in den seinigen legend, »weinen Sie nicht so sehr, ich bitte Sie herzlich! Gleich, wenn wir nur erst das Dorf hinter uns haben, wollen wir vernünftig miteinander sprechen, als wären wir gute, alte Freunde. Einverstanden? Da – geben Sie mir die Hand darauf. So, so – das ist recht, nur jetzt ruhig und gefaßt; man muß die neugierigen Leute an den Fenstern und vor den Thüren nicht alles sehen und hören lassen.«

Er zog sie rasch mit sich fort, während er zu ihr sprach, durch das Dorf Sils-Maria, am Hotel Edelweiß vorbei und den schlängelnden Pfad hinauf, der seitwärts an der Larethöhe hin, über Platta zum Fexthale führt.

Sie schaute weder rechts noch links. Gesenkten Hauptes weinte sie unaufhaltsam; sie verschränkte, ohne im geringsten zu wissen, was sie that, ihre Hände um Steffen Bürklins Arm und drängte sich wie eine Schutzsuchende dicht an seine Seite. Ein paarmal stolperte sie; ihr war's, als müßten ihre Füße den Dienst versagen, so sehr bebten ihr die Kniee im Aufsteigen, und die stürzenden Thränen zogen einen Schleier vor Himmelsblau und Waldesgrün. Nichts vermochte ihr Auge zu erkennen als die Bilder und Gestalten ihres schmerzzerrissenen Innern. Klar zum Greifen standen sie alle auf dunklem Grunde, und laute Stimmen gingen von ihnen aus: Zorn, Vorwurf und Bitte – es brauste ihr vor den Ohren und machte ihr das Herz erzittern. Je heftiger sie weinte, um so erregter ward Bürklin. Noch niemals hatte eine Menschenseele ihn zu ihrem Tröster und Helfer in so schwerem Kummer auserwählt. Ihm wollte nichts zu ihrer Beruhigung einfallen; sein Herz hämmerte gegen ihren Arm; ein- oder zweimal streichelte er beschwichtigend über ihre zusammengefalteten Hände hin und sagte: »Nun! Nun! Nun!« – wie man zu einem schreienden Kinde spricht.

Langsam schritten sie bergauf, immer durch Lärchenwald, der schon kahl ward. Alles Geräusch der menschlichen Wohnungen schien meilenweit hinter ihnen zu liegen. Hier oben strich nur der Herbstwind durch die Wipfel, leise und geheimnisvoll säuselnd wie eine Geisterstimme, und als fernes Schluchzen und Murmeln kam das Getön des Baches aus der dämmernden Tiefe der Schlucht Drög herauf. Die Sonne blitzte und flimmerte durch die Zweige und ließ goldene Lichtchen über die schlanken Tannenstämme hintanzen; nun wich der Wald zurück, die Bäume traten auseinander, gleich einer Pforte that sich's vor den erstaunten Augen aus.

Wiesengrün, Tannengrün senkte sich zum Grunde hinab, drüben die Höhe von Marmoré, darüber hinaus der scharfzackige, vergletscherte Kamm des Corvatsch und gerade aus in hehrer, silberweißer Pracht die schöngeschwungene Mulde des Fexgletschers, von Piz Fora und Piz Led und dem hochragenden Capütschin eingefaßt. Vor dem Gletscher das stille, kühle Hochthal mit den braun bemoosten Hängen, den rinnenden Wässerchen und den dunklen massigen Häusern von Curtins, Tremoggia und Platta. Ein Blick war's von stolzer, unbeschreiblicher Schönheit! Alles Menschenwerk, wie erschien es so nichtig und winzig gegen des Schöpfers ewigen Wunderbau; das Kirchlein Crasta auf der Höhe, nur ein Pünktchen konnte man es nennen, das sich im Riesentempel dieser Alpennatur verlor!

Katharine stand und blickte hinaus. Einen Augenblick verstummte ihr Schluchzen; sie ließ Bürklins Arm fahren und streckte die Hände verschlungen vor sich hin ins Leere, aber es war, als wage sie ihr thränenbeflecktes Antlitz nicht emporzurichten gegen den reinen, tiefblauen Himmel, der, wie Gottes Treue selbst, über der wunderschönen Gebirgswelt wachte.

»Nun sprechen Sie sich ganz frei und unumwunden aus, lassen Sie Ihr Herz weit und weich werden, meine liebe, gute Freundin,« sagte Bürklin bittend und lud sie ein, auf dem rohen Bänkchen unter einer der größten Edelföhren neben ihm Platz zu nehmen. Aber sie schüttelte den Kopf:

»Hier kann ich's nicht! Ach, es ist zu groß und zu offen hier draußen; ich möchte dahin, wo es dunkel ist, in ein Haus. Und zuerst muß ich Wasser trinken – ich könnte sterben vor Angst und vor Durst! – Ach, wär' ich doch tot und tief begraben, wär' ich doch nicht so grenzenlos unglücklich!« Und sie begann von neuem bitterlich zu weinen.

Er gab ihr wieder den Arm und führte sie schweigend weiter bis Platta. Teresina Rizzi, die Bergellerin, die gleich am Eingange des Dorfes das alte Salissche Haus mit ihren schwarzäugigen Kindern bewohnte, lehnte in der Thür und ließ die Spindel tanzen. Sie verstand Bürklins Wink und seine kurze italienische Frage sofort und schloß ihm und seiner Begleiterin ein niederes, dämmeriges Zimmer zu ebener Erde auf. Es war holzgetäfelt mit reichgeschnitzter Decke und alten Bildern und Geräten an den Wänden. Dann brachte sie frisches Wasser im Kruge, eine Flasche Sassella und Gläser dazu. Ihre neugierige Kinderschar schob sie einfach zur Hausthür hinaus und folgte den lärmenden Kleinen auf die Halde nach. So waren Bürklin und Katharine allein und völlig ungestört.

Er ging mit gemessenen Schritten auf und ab, sie stand gebeugten Hauptes, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, die Hände zusammengepreßt niederhängend, das Bild einer Büßerin. Lange verharrte sie so und folgte dem auf und ab Wandernden mit unruhigen Augen hin und her. Mit keinem Worte unterbrach er das schwüle Schweigen; er wartete auf ihr eigenes freiwilliges Geständnis. Ihr fehlte der Mut; mehrere Male öffnete und schloß sie die Lippen, ohne eine Silbe hervorzubringen, bis sie endlich mit atemloser Hast hervorstieß:

»Ich bin im Zorne von daheim fortgegangen, fort von meinem Manne – von meinem Kinde. Sie haben mich gehen lassen, als wäre ich ein bloßer Begriff in meinem Hause gewesen! Zurück kann ich nicht wieder, nie, niemals, und hier sterbe ich gewiß, das weiß ich! Ach, ich schwebe zwischen Himmel und Erde! An Heimkehr darf ich nicht denken um meiner selbst willen, und das verlassene Leben in der Fremde vermag ich nicht zu ertragen!«

Er stand vor ihr still und blickte sie erschreckt an, und so abweisend und durchdringend zugleich, daß eine unklare Angst ihr die Kehle zusammenschnürte. Dann sagte er langsam:

»Bitte, wiederholen Sie es noch einmal, damit ich es ganz verstehe. Sie wären im Zorne von Ihrem Daheim geschieden? Und Sie besitzen ein Kind zu Hause? Dieses Kind haben Sie verlassen, Sie, die Mutter? Wie ist das möglich?

»O Gott, sehen Sie mich doch nicht so an!« rief sie und preßte ihr Gesicht in beide Hände. »Ach, geben Sie mir einen Trost – seien Sie barmherzig – oder wenigstens einen Rat, was ich thun soll! Nur den nicht, daß ich umkehren und abbitten muß, das wäre zu hart, zu viel gefordert! Verschaffen Sie mir mein Kind, ich sehne mich krank nach Ketty! Gott lohnt es Ihnen – nur einen Freudenstrahl in diese schreckliche Öde! O, ich Arme! Was ist mir die Sonne? Das Licht ist mir Qual und das Dunkel eine Hölle – die Berge erdrücken mich: ich weiß nicht mehr, was beginnen. Ach, Sie sind so ruhig. Sie lassen mich ausreden und schmettern mich nicht nieder, wie Viktor es that – mein Mann. Ich konnte es mir nicht bieten lassen von ihm – alles hat seine Grenzen! Ich liebe ihn –«

»Nein, nein, das ist nicht wahr,« fiel Bürklin ihr mit erhobener Stimme ins Wort und reckte abweisend die Hand aus, während die Farbe seines kräftigen Gesichtes um einen Ton dunkler ward. »Belügen Sie sich und mich nicht! Was soll ich Ihnen raten und helfen? Sie behaupten Mann und Kind zu lieben und lassen sie im Stiche, weshalb? Um einer zornigen Aufwallung wegen! Sagten Sie nicht so? Und das soll Liebe sein? Gattenliebe, Mutterliebe? Ich will und muß Ihnen den Spiegel der Wahrheit vorhalten, sollte es mich auch ihre Freundschaft kosten; Recht bleibt Recht! Wissen Sie wohl, daß zu dieser Stunde jene leichtlebige Dirne, die heute Per Vians Frau geworden ist, höher, weit höher in meiner Achtung steht als Sie? Die Sorge um ein Kind, das nicht einmal das eigene ist, hat dieses einfache Geschöpf ohne Bildung und ohne deutliches Sittlichkeitsgefühl in wenig Tagen veredelt und zu einer wahren Mutter erhoben, und Sie, eine Frau von hoher Geistesbildung, von angeborener und anerzogener Moral, Sie legen ziellos Hunderte von Meilen zwischen sich und Ihr leibliches Kind! Nennen Sie mir meinetwegen Ihre Gründe, wenn Sie das unabweisbare Bedürfnis zum Aussprechen fühlen, aber Verständnis, das fordern Sie nicht von mir! Von meiner Mutter habe ich gelernt, wie heilig das Panier der Gattin und Mutter gehalten, wie hoch es getragen werden muß! Wehe den Fahnenflüchtigen, lieber die Todeswunde unter dem Panier empfangen und in der Pflicht sterben, nur nicht untreu werden! Sagen Sie sich diesen Satz vor, bis er sich in Ihr Herz eingebrannt hat, und dann ziehen Sie die Konsequenzen! Weshalb haben Sie meiner Mutter geliebte Stimme und sind doch ganz ihr Gegenbild? Was hat Sie Unglückliche zu Ihrer großen Schuld bringen können?

Zitternd hatte sie vor ihm gestanden und seine hocherregten Worte auf sich einfluten lassen. Als er zu Ende war und nach ihrer Hand greifen wollte, barg sie dieselbe hinter ihrem Rücken und richtete sich hochmütig empor. Ihr Gesicht war leichenblaß geworden, ein Frösteln lief durch ihren Körper, aber sie beherrschte sich mit aller Macht, und ihre Stimme klang kalt und klar, als sie sprach:

»Sie sind vorschnell, Sie richten, ehe Sie mich zu Ende gehört haben. Ich that, wie ich jetzt mit Bedauern ansehe, thöricht und unrecht daran, Sie in meine Seelennot hineinzuziehen und um Ihren Beistand zu bitten. Fürs erste nimmt jeder Mann seines Geschlechtsgenossen Partei – ganz erfahrungsmäßig, und verdammt die schwache Frau eben um ihrer verachteten Schwäche willen. Fürs zweite, was kann ein Unverheirateter von der Ehe wissen, von ihrem Glücke und ihren Klippen? Es geht mir zwar gewaltig gegen den Stolz, Ihnen gegenüber eine Rechtfertigung meines Schrittes zu versuchen. Mich vor Ihnen demütigen, das kommt mir nicht in den Sinn, aber undankbar bin ich auch nicht, und Sie haben mir hier in meiner traurigen Lage soviel Güte und Rücksicht bewiesen, daß ich es für meine Pflicht halte, Sie aufzuklären, ja, ganz offen zu sein –«

»Wenn Sie die Sache auf diese Art betrachten und zergliedern, so will ich keine Offenheit,« entgegnete er. »Ich weiß, daß ich Sie doch nicht verstehen, viel weniger Ihnen recht geben kann; denn für Ihre Schuld gibt es in meinen Augen keinen Milderungsgrund. Fahnenflucht ist ein Verbrechen, das nur der Tod oder die Rückkehr zur Fahne und das Erdulden der verhängten Strafe sühnen kann. Drückt Sie das, was Sie freiwillig auf sich nahmen, Ihre Ehe, als ein Kreuz, so sollten Sie das Kreuz von einer Schulter auf die andere nehmen, und brechen Sie darunter zusammen, so sollten Sie Gott bitten, daß er Ihnen aufhilft. Denn vor Gott haben Sie Ihre Ehe geschlossen, er allein kann Ihre Last leichter machen; schütteln Sie selbst ab, was Ihnen unbequem ward, so freveln Sie. Das wenigstens ist meine unumstößliche Überzeugung, ich komme immer wieder darauf zurück, nie und nimmer werden Sie mich zum Gegenteil bekehren!«

Sie setzte den Fuß hart auf den Boden, und es flammte in ihren Augen. »Hören sollen Sie mich dennoch!« rief sie leidenschaftlich und stellte sich gegen die Thür, als wolle sie ihm den Ausgang wehren. Er stand, ihr halb den Rücken kehrend, an einem der Fenster, die Arme über der Brust verschränkt, sein Gesicht, auf dem ein strenger und trauriger Ausdruck lag, von ihr ab und hinaus gerichtet. »Wissen Sie, wieviel ich gelitten habe?« fuhr sie fort. »Eher will ich einen Dolchstoß von geliebter Hand empfangen, als empfindliche Nadelstiche Tag für Tag. Denken Sie an Ihre vielgepriesene Barbetta Vian! Der haben es die bösen Zungen nicht allein angethan – mir so gut wie ihr! Gott ist mein Zeuge, wie sehr ich meinen Mann geliebt habe, aus heißer Liebe hab' ich ihn geheiratet – ich war sehr jung, sehr verwöhnt und hatte im Elternhause goldene Freiheit genossen. Dann, als ich Viktors Frau geworden war« – sie stockte und heftete die Augen starr auf einen Punkt, und ein tiefes Rot stieg in ihre Wangen – »dann, als der erste Rausch meines Glückes verflogen war, wollte ich Geltung für meine berechtigten Eigentümlichkeiten, und da machten sich die Natterzungen über mich her – und Viktor hörte darauf. Er hat als Landrichter so viele Kollegen, und die wieder haben Frauen. Meine vornehmen Freunde wurden mir mißgönnt, harmlose Knaben, mit denen man sich gut unterhielt, das war ja alles. Und dann hetzten die Kollegen und die Frauen Viktor gegen mich, da begann er zu kritteln, zu argwöhnen; in des Kindes Gegenwart rügte er meine Liebhabereien –«

»Welche?« fragte Bürklin kurz und scharf wie ein Untersuchungsrichter.

Sie stockte und biß sich auf die Lippen. »Nun – ich werde doch das Leben ein wenig genießen dürfen, ich, die ihm soviel Vermögen mit in die Ehe brachte, und außerdem –«

»Pfui! Das können Sie nicht im Ernst als einen Grund anführen wollen,« unterbrach er sie, wendete sich rasch vom Fenster zu ihr um und schaute mit seinen ehrlichen Augen fest in die ihrigen. Sie senkte den Blick vor ihm und errötete abermals heftig vor Zorn und Scham. Da faßte er ihre herabhängende Hand und hielt sie in seinen beiden Händen. »Sie wissen nicht, gnädige Frau, wie sehr Sie zu Ihren eigenen Ungunsten sprechen: Sie sind trotzig und nicht offenherzig,« sagte er in seinem alten gütigen Tone. »Reden Sie sich doch nicht immer tiefer in Ihre Schuld hinein, meine arme Freundin! Glauben Sie denn, daß ich nicht wüßte, wie schuldig Sie sich fühlen, obwohl Sie um jeden Preis schwarz für weiß ansehen wollen? Ich beklage Sie tief, aber zu helfen vermag ich Ihnen nicht. Nur Sie allein können das Band neu knüpfen, das Sie allein zerrissen haben.«

»Ich liebte ihn – ach, so von Herzen – ich habe ihn auf Händen getragen!« schluchzte sie von neuem.

»Und er liebte Sie nicht? Er trug Sie niemals auf Händen?«

»Doch! gewiß liebte er mich!« – Sie sagte es rasch im Tone wärmster Überzeugung, ihren ganzen Trotz im Moment vergessend. Aber die schöne Regung, die ihre Augen glänzen machte, erlosch wie ein fallender Stern. »In der letzten Zeit war alles anders geworden,« fügte sie hinzu, »niemals mehr gab er mir Anerkennung, immer und ewig tadelte er mich Kettys Erziehung halber –«

»Und, wie mir's scheint, mit Fug und Recht; denn der Mutter, die ihr Kind verlassen kann, fehlt der Verstand zu ihrem hohen und heiligen Amte.«

»Dasselbe und wieder dasselbe sagen Sie mir! Wie würde es Ihnen zu Mute sein, sollten Sie Tag für Tag schaffen und sorgen ohne Beifall, ohne Lohn –«

»Beifall! Lohn!« Bürklin ließ Katharinens Hand sinken und nahm kopfschüttelnd seine unterbrochene Wanderung durchs Zimmer wieder auf. »Sie drehen sich in einem engen Kreise von lauter Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten um sich selbst und verschließen Ihr klares Auge eigenwillig vor der großen Schuld außerhalb Ihres engen Kreises, die Sie erkennen müssen. Sollen wir für alles hienieden Lohn fordern? Darf für die Ehe, die der Liebe Verklärung ist, das Wort: Maß für Maß gelten? Sollte da nicht jede Gabe eine freudige und freiwillige sein? In Ihnen selbst, gnädige Frau, muß der Lohn für die gute That liegen, oder besser: die gute That trägt ihren reichen Lohn schon in sich. Vielleicht kennen Sie den schönen Spruch, der meine Gedanken gerade in diesen letzten Wochen oft beschäftigt hat:

»Thust du das Gute, so wirf es ins Meer,
Sehen's die Fische nicht, sieht's doch der Herr.«

»O ja, ich habe den Spruch in irgend einem jugendlichen Album gelesen,« erwiderte sie, »aber er paßt nicht für meine Natur. Wo ich freudig gebe, will ich auch freudig empfangen dürfen. Ich bin noch jung und leidenschaftlich, und ach, im Grunde meines Herzens – wie habe ich doch Viktor lieb, wie sehne ich mich so brennend nach ihm und nach Ketty!«

»Und gerade deshalb: nur über Canossa führt ein sicherer Weg für Sie in die Heimat zurück,« sagte Bürklin ernst. »Das ist keine wahre Liebe, die sich nicht beugen und abbitten will.«

»Niemals – Canossa existiert auf meiner Landkarte nicht,« gab sie ihm schroff zur Antwort. »Kein Wort mehr will ich mit Ihnen über mein Unglück wechseln! Sie sind ein Splitterrichter und kein Freund in der Not!«

Damit ging sie zur Thür hinaus, hastig, ohne sich umzusehen, den Kopf in den Nacken geworfen. Sie verließ das alte Haus und schritt geradeswegs den steilen Richtpfad in die Hohe, wieder nach Laret zu. Die Rizzischen Kinder, denen sie nicht die mindeste Beachtung schenkte, starrten der stolzen, fremden Dame, die nicht einmal das liebliche halbjährige »Bambino« einer Liebkosung würdigte, offenen Mundes nach. Bürklin hatte die Fortgehende mit keinem Worte zurückgehalten. Er berichtigte Frau Teresina die kleine Zeche und hörte ruhig ihr Loblied über la bella signora und ihre teilnehmende Frage an: ob etwa die Signora (» la sposa« sagte sie) leidend oder trübsinnig sei? Dann folgte er Katharine, ohne jedoch den Versuch zu machen, ob sie sich noch einholen lasse. Nur irr sollte sie nicht gehen, denn der Abend stand vor der Thür. Seine Augen waren scharf und verloren die rasch Dahineilende keinen Moment aus den Blicken, wiewohl sie bald nur noch ein dunkles Pünktchen in der Ferne war. Seine Gedanken strebten vergebens, sich mit dem eben Gehörten abzufinden. Wie immer wirkte der Reiz dieser köstlichen Abendlandschaft stark und unmittelbar auf sein Gemüt, nur daß ihm heute aus dem Frieden der Natur kein Seelenfrieden erwuchs, weil in ihm ein Aufruhr gärte.

Zuneigung und Zorn stritten um die Frau, deren drittes Wort gelautet hatte: »Ich liebe ihn!« und die doch in Gefahr stand, ihre Liebe den Winden zum Spiele hinzuwerfen, die sich das Herz nach ihrem Kinde wund sehnte und keinen Schritt thun wollte, um ihre Sehnsucht zu stillen. »Arme, blinde, bethörte Frau! Wie kann man dir helfen?«

Er wußte selbst nicht, wie er schließlich nach Baselgia zurückgelangt war. Im Hofe des Jostihauses sprang ihm Barry freudebellend entgegen, richtete sich an ihm in die Höhe und rieb winselnd den zottigen Kopf gegen seine kalte Wange.

»Treue, Treue! Muß man dich erst an der unverständigen Kreatur kennen lernen?« sagte Bürklin zu sich selber und trat nachdenklich ins Haus.

Nonna kam ihm im Flur entgegen: die Signora sei schon vor einem Viertelstündchen heimgekehrt und habe sich ein Glas Limonade auf ihr Zimmer bringen lassen gegen den Kopfschmerz. Rot und heiß sei sie auch gewesen wie ein Feuerofen, und essen wolle sie heute abend überhaupt nicht. Steffen Bürklin hatte also das Reich für sich allein wie früher, und Nonnas Herz war noch so übervoll von Per Vians und Barbetta Tosios Heirat und allem, was drum und dran hing, daß sie während des Aufwartens ihre Reden abhaspelte, als ginge das Rad mit dem Winde. Bürklin brauchte nur zuzuhören und ab und zu einmal zu nicken, obwohl er heute ausnahmsweise kein Wort der braven alten Plaudertasche mit dem Strickstrumpfe in sich aufnahm.


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