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Der Tag verging Steffen Bürklin einsam und arbeitsam wie gewöhnlich, aber die Träumerstimmung, die er sich durchaus nicht zu erklären vermochte, wollte nicht von ihm weichen. Seine neue Hausgenossin gab ihm übrigens keinen Anlaß dazu, diese Stimmung ferner in sich zu nähren. Nichts sah und hörte er von ihr, nicht einmal das mittägliche Tellergeklapper vernahm sein Ohr; denn während sie oben in ihrem eigenen Zimmer speiste, von Nonna bedient, tafelte er mutterseelenallein unten im Eßzimmer. Lorenz, der Knecht, setzte ihm seine Schüsselchen auf den Tisch – unverfälschte Engadiner Speisen, denn der Doktor verschmähte die ›Herrenkost‹ – und unterhielt den Essenden mit einer grausigen Bergtourgeschichte, deren Schauplatz die Bovalhütte auf dem Morteratschgletscher gewesen war. Nach Tisch unternahm Bürklin einen beschaulichen Spaziergang; denn vom Nachmittagsschlummer war er kein Verehrer.
Die Tage waren schon kurz, und es begann stark zu dämmern, als er, von Muott'ota kommend, in die Schlucht Drög einbog, um über Sils-Maria nach Baselgia heimzukehren und es dann wieder frisch mit der Arbeit zu versuchen.
Der schmale Fußpfad, hart am Abgrunde hin, war glatt vom Frost, und dort unten in der Tiefe toste der wilde, hochgeschwollene Fexbach durch sein zerwühltes steiniges Bett. Braun und schlaff und sterbend hingen die Farnwedel ins Wasser, und das Moos trug seine fahlrötlichen Herbstkäppchen. Von den wenigen Laubbüschen, die sich unter Tännicht zusammenduckten, fiel Blatt um Blatt zur Erde, nur das ewig treue Grün der Tannen und Arven war geblieben. Von den Hochgebirgen sah man nichts als da und dort ein mattweißliches Geflimmer zwischen geballten Wolken durch; in ferner Höhe pfiffen die unsichtbaren Murmeltiere ihren schrillen Ruf, ein Schwarm großer Zugvögel strich hart unter dem schneeschweren Gewölke hin, und drunten im Dorfe läutete es abermals feierlich zum Schlusse des Sonntages.
Bürklin wanderte langsamer als sonst; von Zeit zu Zeit blieb er stehen, streckte unbewußt die Hand aus, als müsse er in der Luft etwas ergreifen, und stieß die Stahlzwinge seines Stockes vor sich in den frostigen, steinigen Boden. Er konnte und konnte es noch immer nicht herausklügeln, was ihn denn eigentlich an der fremden, westpreußischen Frau gefesselt und bewegt hatte, ihn, der in gar keinem Zusammenhange mit ihr stand, und der längst über die Jahre jugendlicher Aufwallungen hinweg war.
Da zuckte es ihm wieder durchs Herz! Nun hatte er's gefunden! Die Stimme war's, die liebe, tiefe Stimme! So hatte ja seine Mutter einst gesprochen!
Dicht unter ihm saß Katharine Eschrodt am steilen Ufer des Fexbaches, im Moose, ganz in sich zusammengeschmiegt, und fragte einen Silser Buben, der dem Sonntage zum Trotze einen Armvoll Raffholz schleppte, nach dem nächsten Pfade dort hinauf – sie deutete hinüber zur Larethöhe – und wohin es dann weiter gehe, wenn man einmal oben sei?
Der Bube hielt die Dame, die beim kühlen Nachtfall hier ganz gottverlassen über dem langweiligen Wasser hockte und rotgeweinte Augen hatte, entschieden für unrichtig im Kopfe. Außerdem sprach und verstand er keine Silbe deutsch und ebensowenig französisch, mit dem die Dame ihr Heil versuchte, als sie sah, daß sie mit ihrer Muttersprache nicht zum Ziele gelangte. Deshalb begnügte sich der Schlingel damit, ihr einen derbkomischen, romanischen Spielreim herzuleiern und dann in kecken Sätzen wie ein Ziegenbock bergab zu springen, am Wasser hin seinem Dorfe zu.
Die kleine Scene hatte etwas sehr Drolliges für den Beobachter. Herzlich lachend trat Bürklin an Frau Katharinens Seite, aber er ward sofort ernst, als er, ihr guten Abend bietend, in das verweinte Gesicht blickte.
»Sie sitzen hier ganz allein und haben Heimweh, nicht wahr, gnädige Frau?« fragte er mit unbefangener Freundlichkeit. »Und nun noch der ungezogene kleine Bursch dort; ich kenne den Thunichtgut! Dies Engadiner Völkchen ist keins, unter dem sich's bequem lebt, wenn man nicht, wie ich, heimisch im Lande geworden ist. Jetzt lassen Sie mich Ihnen zu Diensten sein, bitte. Ich kenne hier Weg und Steg wie ein Silser.«
»Ach, Herr Doktor,« entgegnete sie und richtete sich aus ihrer halb liegenden Stellung am Boden ein wenig auf – »ach, Herr Doktor – ich habe mir die Einsamkeit ja längst, längst nicht so schlimm vorgestellt, eh' ich wußte, was sie ist! Dieser ewige Sonntag ist mir hingeschlichen – jede Stunde wie ein Jahr – und ich bin unselbständig – alle Frauen sind das wohl! Ich verstehe die Leute auch nicht und weiß nirgends aus noch ein –«
Ihre Stimme zitterte, als sie sprach, und ihre Mundwinkel zogen sich wie zu erneutem Weinen abwärts. Kein Wunder! Sie war heute in die Gewohnheit hineingekommen. Mit den zahllosen Thränen, die sie seit gestern abend vergossen, hätte sie einen Rosenstrauch tränken können, gleich der verwunschenen Prinzessin im Kindermärchen!
»Vor allen Dingen, gnädige Frau, dürfen Sie keinen Augenblick länger am Wasser sitzen,« mahnte Steffen Bürklin und bot ihr seine Hand zum besseren Aufstehen. »Sehen Sie, da haben wir's schon! Ihre Glieder wollen den Dienst nicht thun, und Sie haben ein ganz blasses Gesicht und eiskalte Hände. Diese Abendnebel sind gar zu tückisch, und man hat sie zu jeder Jahreszeit hier oben im Engadin. Vom Stillsitzen zu Hause mit einer beginnenden Erkältung halte ich auch nicht viel, besser, Sie machen sich sofort noch tüchtig Bewegung. Was meinen Sie, wenn ich Ihnen, trotz der späten Stunde, den Weg dort hinauf zur Larethöhe zeigte, nach der Sie eben den Jon Chiamut fragten? Hoffentlich wird sich doch der Mond durcharbeiten, und im übrigen ist die Straße völlig gefahrlos. Nichts als glatter Weg zwischen schönen Bäumen. Verfügen Sie also über mich.«
Ihr kam des höflichen Landsmannes Vorschlag wie eine Erleichterung und Erlösung von langem Alpdruck. Jede freundliche Hand, die sich ihr hingestreckt, hätte sie in ihrer Verlassenheit ergriffen und festgehalten ohne Wahl, deshalb knüpfte sie auch jetzt den kleinen Halbschleier fester um ihr Gesicht, zog den einen der wildledernen Stulphandschuhe wieder an, die neben ihr im Moose gelegen hatten, und war bereit zum Wandern.
So machten sie sich einträchtig miteinander auf den Weg. Ihm war's ein Stück wehmütiger Romantik, die geliebte, längst gestorbene Stimme, wie die Stimme einer Auferstandenen, an seiner Seite wieder zu vernehmen und sich dabei die fremden, störenden Züge vom wachsenden Abenddämmern verschleiern zu lassen. Ja, so sehr umspann ihn der Erinnerungszauber, daß er alles Ernstes wünschte, der Mond möchte sich nicht durch die Wolken kämpfen, aus Furcht er könne die Bilder seiner rückwärts schauenden Seele vernichten.
Vorläufig schien alle Aussicht zur Erfüllung dieses seines Wunsches vorhanden. Immer düsterer und gespenstischer türmte sich das Gewölk, wälzte sich gegeneinander hin, drückte tiefer und tiefer auf die Berghänge und zog in langen Schleiern durch die regungslosen Arvenkronen. Denn der nimmermüde Wind holte gerade einmal Atem, ehe er sich von neuem auf den Flug machte. Bald aber begann er sein Hin und Her wieder, der rauhe Nordwest zerriß auf Momente die Wolkenmassen, und ein Landschaftsbild von überwältigender Majestät und herzbeklemmender Melancholie zeigte sich den beiden, die wie alte Bekannte nebeneinander bergan schritten.
Die Unterhaltung wollte nicht in Fluß kommen. Es war, als lege sich die schroffe Großartigkeit dieser Gebirgseinöde erdrückend auf die Brust der verirrten Frau, die hier im selbstgeschaffenen Labyrinthe ihrer Thorheit wandelte, und Steffen Bürklin verstummte, weil er vor einem menschlichen Rätsel stand, dessen Lösung seine Weisheit noch nicht zu finden vermochte.
Endlich langten sie, nach mancherlei unfreiwilligen Kreuz- und Querzügen, droben auf Laret an, da, wo es bella vista heißt, und lehnten sich ausruhend im Dunkel über die Steinbrüstung des Aussichtspunktes. Siehe da, wie hatte sich die trübe Welt verwandelt, welch' wundervoller Niederblick in die Tiefe, von Felsen und Hochgebirg und ragenden Edelföhren eingerahmt! Das dräuende Gewölk verflog in unermeßlicher Höhe, fern, über dem silbernen Fornogletscher, stieg der blutrote, herbstliche Vollmond empor, sein Glanz streifte die Wiesen und Wälder, die den Silser See im Kranze umschließen. Unbewegt und schwarz lag das weite Gewässer; an seinem Südende spiegelte es das blendende elektrische Licht wieder, welches das Kurhaus Maloja in eine wahre Strahlenglorie hüllte.
Dies elektrische Licht war es, das den heimatlichen Bahnhof, des Gatten kalten Abschied und des Kindes Gesicht urplötzlich mit unheimlicher Klarheit und siegreicher Gewalt vor Katharinens geistiges Auge zurückbrachte. Sie fuhr mit beiden Händen nach dem Herzen, griff dann rasch atmend nach Steffen Bürklins Hand, die ruhig auf der Brüstung lag, und starrte ihn mit angsterfüllten Augen ins Gesicht.
»Herr Doktor – verlassen Sie mich nicht! Nicht wahr, Sie bleiben noch lange, bis in den Winter hinein, in Baselgia? Die Wirtin sagte mir das. O, gehen Sie nicht fort! Ich ertrage die Einsamkeit hier oben so schwer; es war ein großer Irrtum von mir – ich hätte wohl besser gethan in den Süden zu gehen, nach Italien –«
Er schüttelte die hilfesuchende Hand nicht ab, sondern umschloß sie beschwichtigend mit seiner freien Rechten. »Nein, gnädige Frau, bis in den Winter hinein kann ich nicht bleiben,« antwortete er, »aber doch wenigstens bis Anfang November: fünf oder sechs Wochen. Und das ist schon eine hübsche Zeit.«
Die rechten Worte versagten ihm, er hätte so gern getröstet, aber er fühlte sich scheu, diesem unbekannten Leide gegenüber, deshalb fragte er nur:
»Sagen Sie mir, falls es nicht unbescheiden ist, darnach zu forschen – was zwingt Sie überhaupt, in dieser Einsamkeit zu leben, jung und frisch und gewiß nicht anspruchslos gewöhnt? Ich schließe das aus Ihrer äußeren Erscheinung,« fügte er halb entschuldigend hinzu. »Sie sind doch verheiratet?« Er richtete seinen Blick zweifelnd auf ihre Hand, die ohne Handschuh und ringlos in der seinigen ruhte, und Frau Katharine hätte sie ihm gern entrissen, während sie ihr »Ja« auf seine Frage antwortete.
»Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen unzart oder gar indiskret erscheinen sollte,« fuhr er nach einer Pause fort. »Es ist ein sehr natürliches Mitgefühl in mir, das mich fragen läßt. Wir beide sind hier auf einander angewiesen, beinahe wie Robinson Crusoe und Freitag auf ihrer wüsten Insel. Ich möchte von Herzen gern versuchen, Ihnen einen annehmbaren Rat zu geben, wenn ich nur die leiseste Ahnung von Ihren Verhältnissen hätte. Sind Sie Ihrer Gesundheit wegen hierher gekommen? – oder verwitwet? Sie hofften vielleicht irgend einen Trost für sich von der Einsamkeit und finden keinen? Ist es so? Haben Sie noch ein wenig Geduld, Sie sind kaum erst vierundzwanzig Stunden hier. Man muß nicht so rasch verzagen, gnädige Frau, das weiß ich aus Erfahrung.«
Sie wendete ihr Gesicht von ihm ab, schlug die Augen zu Boden, und bei jeder seiner Fragen fühlte er das Zusammenzucken ihrer kalten Hand in seiner warmen.
»Es ist alles anders, ganz anders, wie Sie sich's denken; dringen Sie nicht weiter in mich, keinem darf ich sagen, was mich quält!« erwiderte sie mit bebender, halberstickter Stimme, indem sie ihre Hand aus der seinigen losrang. Er ließ sie ohne Widerstand gewähren; aber als er ihr in das blasse, mondbeschienene Gesicht schaute, glitt plötzlich ein Ausdruck leidenschaftlicher Trauer über seine Züge.
»Keinem darf ich sagen, was mich quält!« wiederholte er mit gedämpfter Stimme – »ach, die Toten stehen manchmal auf und machen die Ungläubigen gläubig. Dieselben Worte, die Sie eben aussprachen, sagte mir einst meine teure Mutter, als der Arzt ihr hinter meinem Rücken mitgeteilt hatte, daß es unabweisbar zu Ende gehe mit ihrem Leben. Eine Stunde später gestand sie mir doch freiwillig alles und alles, was sie quälte – ich war ihr einziger Sohn! Sie haben genau die gleiche Stimme wie meine Mutter, die ich heute noch ebenso tief betrauere, wie an dem Tage, der sie von mir nahm! Können Sie nicht Vertrauen zu mir fassen, liebe gnädige Frau? Vielleicht sind Sie auch eine Mutter, vielleicht haben Sie daheim ein liebes Kind zurückgelassen, nach dem Sie sich sehnen –«
Sie preßte beide Hände gegen ihre Schläfe und blickte abermals mit weit offenen, angstvollen Augen den Fremden an, der ihr bitteres, heimliches Weh erraten hatte. »Sie mögen recht haben – oder auch nicht –« sagte sie sehr langsam, als müsse sie jedes ihrer Worte abwägen, und dabei wich sie seinem ernsten, erstaunten Blicke aus. »Ich will nicht darüber reden – jetzt nicht; wir sind einander noch viel zu fremd. Bitte, lassen Sie uns gehen, ich möchte nun zurück ins Dorf.«
Schweigend schritt er voran, und ebenso folgte sie ihm. Das Mondlicht schien hell durch die Zweige und erleuchtete ihnen die Zickzackwindungen des Waldpfades, der Wind strich frisch durch die Abendluft, und in den Tannenwipfeln sauste und knarrte es leise. Nun ward das dumpfe Rauschen des Fexbaches wieder vernehmlich, und jetzt wichen die Baumstämme auseinander: da unten im geschützten Thalgrunde, vom mächtigen, eisgekrönten Piz la Margna bewacht, lag das freundliche Dorf mit seinen lichtblinkenden Fenstern.
Vor der Brücke über den Fexbach kehrte sich Bürklin zu seiner Begleiterin um und reichte ihr wieder die Hand, weil das letzte Stückchen des Felsweges sehr steil abwärts fiel. Er meinte im Mondlichte Thränenspuren auf ihren Wangen zu entdecken. »Zürnen Sie mir nicht, sondern lassen Sie mich Ihnen beistehen, soweit es in meinem Können liegt,« bat er nochmals voll Mitleid; denn sie wendete ihm ein erschreckend vergrämtes Antlitz zu.
»Wer weiß, ob Sie mich Ihrer Güte für wert hielten, wenn Sie alles verständen, was mich niederdrückt – es ist kein Verlaß auf die Männer,« entgegnete sie herbe ausweichend, und als sie längere Zeit vergeblich auf eine Erwiderung gewartet hatte, fuhr sie fort: »Und doch, Herr Doktor, möchte ich Sie wohl um eine Freundlichkeit bitten, aber Sie müssen ehrlich ›nein‹ sagen, falls es Ihnen irgendwie unangenehm sein sollte, meine Bitte zu erfüllen. Würden Sie sich den Zwang anthun, mittags und abends gemeinsam mit mir unten im Speisezimmer zu essen? Alle Mahlzeiten so ganz allein einzunehmen – das bin ich gar zu wenig gewöhnt von Zuhause her –«
Sie brach ab, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie ihre Stimme wieder so weit beherrschen konnte, um Steffen Bürklin für die freimütige Gewährung ihrer Bitte zu danken.
So endete Frau Katharinens erster Tag in der selbstgewählten Verbannung.
Abends, ehe sie sich schlafen legte, suchte sie noch über eine Stunde lang planlos in ihren drei Kommodenschubfächern und dem halbgeleerten Reisekoffer. Ja, sie durchblätterte jedes einzelne ihrer Bücher und ihre Schreibmappe, ob sich nicht doch vielleicht eines von Kettys Bildern hinein verirrt haben möchte. Bei dieser vergeblichen Arbeit fiel ihr ein Schächtelchen in die Hände: ihr Trauring lag darin. Sie wollte ihn achtlos beiseite schieben, aber nur einmal mußte sie ihn über ihren Ringfinger gleiten lassen; ihre Hand war sicherlich in der letzten Zeit viel magerer geworden. Nein, er paßte noch fest und gut, und in Katharinens Herzen regte sich ein Gefühl zwischen Angst und Sehnsucht, als der breite Goldreif wieder an der altgewohnten Stelle blinkte. – Was that sie denn? – – Wurden ihre felsenfesten Entschlüsse so rasch wankend?
Sie streifte den Ring hastig vom Finger, barg ihn in seiner Schachtel und schob dieselbe in den hintersten Winkel des Faches. Dann schloß sie zu und lag bis weit über Mitternacht wachend im Bette, die Hand leer und das Herz voll von bitterem Heimweh und noch viel bittrerem Trotze!