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Eilende Wolken, Segler der Lüfte,
Wer mit euch wanderte, mit euch schiffte –
ruft Maria Stuart aus und hat dabei nicht geahnt, daß ein Jahrhundert kommen würde, wo sogar ein anspruchsloser Landpfarrer mit einer an apostolische Armuth mahnenden Dotirung sich vergönnen werde, was einst selbst den Königinnen verwehrt war. Gustav Wald hatte sich von den eilenden Wolken des Dampfers dahinführen lassen, und so kam es, daß er schon am Tage nach seiner Abreise die Stadt erreicht hatte, welche das Ziel seiner Fahrt bildete. In einer andern Gemüthsstimmung, als die seine war, hätte er in einem solchen Mittelpunkt eines großartigen Verkehrs hundert Eindrücke auf sich wirken lassen, während jetzt sein Auge kalt über die Häuserreihen, die großen Monumente und die bunte Menge, welche die Straßen belebte, hinwegglitt.
Am Morgen nach seiner Ankunft sehen wir ihn raschen Schrittes, einem Lohndiener folgend, einer der neuen Vorstädte, in welcher die Karlsstraße liegen sollte, zuwandern. Diese war bald erreicht. Im Hause Nummer 16 wurde er zwei Treppen hinaufgewiesen; dort oben fand er eine Klingel, unter welcher eine Blechplatte den Namen »Frau Emma Gebhardi« zeigte.
Er zog die Schelle an und eine Magd öffnete ihm. Er ließ sich melden. Das Mädchen kam bald zurück. Frau Gebhardi war zu Hause – Frau Gebhardi trat bereits selbst, von zwei fürchterlich aufgeregten zottigen kleinen Hunden, die den Fremden anbellten, umsprungen, auf den schmalen Corridor, um ihn zu empfangen. Es war eine etwas corpulente Dame in mittlern Jahren, deren Züge jedoch die Spuren frühen Alters zeigten. Sie war nicht rasch, nicht laut, nicht übermäßig lebendig, wie Gustav sie zu finden erwartet hatte. Das Leben mußte einem solchen Wesen einen Dämpfer aufgesetzt haben, wenn es ihr, wie Gustav nach Dem, was er über sie in dem Tagebuch gelesen, annahm, überhaupt je eigen gewesen. Die lebhafte Emma, die einst sich nur ihrer Natur hingegeben und deren Grundsatz es gewesen war, sich von den Wellen des Lebens tragen zu lassen, schien jetzt ernst und grämlich und nervenreizbar geworden.
Das Zimmer, in welches sie Gustav führte, war freundlich, geräumig und sehr anständig eingerichtet; aber es fehlte ihm die Behaglichkeit, welche einzeln lebende Frauen den Räumen zu geben wissen, in denen sich ihr stilles Leben abspinnt. Es schien der Bewohnerin an Sinn für alle die kleinen Zierden oder an Geduld für die Pflege derselben zu mangeln. Keine Blumen umrankten ihren Sitz am Fenster, kein Vogel im blanken Messingkäfig sang die hell eindringenden Strahlen der Herbstsonne an; mit den Teppichen hatten die Hunde gespielt und sie in Unordnung gebracht; auf dem geöffneten Flügel lag ein Haufe weiblicher Kleidungsstücke durcheinander.
Sie also sind Pfarrer Wald, sagte sie, Gustav einen Stuhl ihrem Sitze gegenüber hinrückend – es ist mir angenehm, Sie kennen zu lernen. Sie werden mit einem Auftrag Ihres Bruders zu mir kommen …
Ich komme aus eigenem Antrieb, fiel Gustav ein, um ein unseliges Misverständniß aufzuklären.
Ein Misverständniß ist ein etwas seltsames Wort, Herr Pfarrer, für ein Betragen wie das des Herrn Bruders gegen meine Tochter; aber die Männer sind nun einmal stark darin, für ihre Handlungen eigenthümlich milde Ausdrücke zu finden. Die Sache selbst aber, das muß ich Ihnen schon sagen, hat meiner armen Agathe beinahe das Herz gebrochen!
Also habe ich doch recht geschlossen! fiel Gustav Wald lebhaft ein; so wissen Sie doch von ihr, so hat sie sich doch zu Ihnen begeben …
Allerdings, fiel Frau Gebhardi mit mütterlichem Stolze ein, allerdings weiß ich von ihr; wem hätte sie anders ihr Leid klagen können, als mir – und rund heraus, Herr Pfarrer, wie ich immer und mein Leben lang es gewesen bin, das Betragen Ihres Bruders ist unverantwortlich. Ist das je erhört – geheirathet hat er das arme Geschöpf, ohne sich viel um ihre Herkunft und ihre frühern Verhältnisse zu kümmern – dann aber fängt er an, hinter ihrem Rücken den Spion zu machen, und bekommt nun richtig heraus – aber weiß der Himmel, aus welchen saubern Quellen – wessen Kind Agathe ist; da wird dann der saubere Streich mit der Zeitung gespielt – die Agathe hat es wol erfahren, denn als sie von der Auffoderung, meine Adresse anzugeben, mit einer alten Bekannten von mir, der Tänzerin Christine, die jetzt da draußen als Weißnähterin lebt, gesprochen hat, da hat diese ihr Zeitungsblatt herbeigeholt, und darin hat kein Wort von der Auffoderung gestanden, und in den andern Zeitungen auch nicht, und die Agathe hat gemeint, eine Ohnmacht zu bekommen, wie sie so entdeckt hat, welchen abscheulichen Streich ihr Mann ihr spielen konnte – der Monsieur Engelbert aber hat sie nun da sitzen lassen und ist auf und davon gegangen – und weshalb? – Blos weil er herausbekommen hat, daß seine Frau die Tochter einer ehemaligen Komödiantin und Theatergarderobière ist, als ob das nicht auch ehrliche Leute wären und als ob ich mein Kind nicht in allen Ehren erzogen hätte, wie die beste Mutter es nur thun kann, und mich abgeplagt und abgesorgt ihretwegen und es mir manche schlaflose Nacht kosten lassen …
Aber ich bitte Sie, verehrte Frau … fiel Gustav Wald ein.
Die Dame jedoch, deren blasses Gesicht sich bei ihrer steigenden Gereiztheit immer höher röthete, ließ ihn nicht zu Worte kommen und fuhr fort:
Der Mann meiner ältesten Tochter, der Belgenau, war auch ein Narr und hat seine Frau beinahe an den Rand des Grabes gebracht, als er gehört hatte, das Kind sei bei einer so abscheulichen Creatur, wie Ihre gehorsame Dienerin ist, aufgewachsen – aber er hat sie doch zu lieb gehabt, um nicht ihretwegen seine lächerlichen Scrupel zu überwinden, und das hat sie denn auch bald gesehen, und sie sind dazumal ganz einträchtiglich aus Italien zurückgekommen, er von seiner Marotte und sie von ihrem Brustleiden curirt; jetzt leben sie vergnügt zusammen in seinem Schlesien drin – dieser Herr Engelbert Wald aber, nehmen Sie's nicht ungütig, das ist ein entsetzlicher Mensch, und da kann von keinem Verzeihen mehr die Rede sein; denn wer so gegen seine Frau handelt, der liebt sie nicht und hat sie nicht geliebt, und da mein' ich halt, Herr Pfarrer, wo keine Liebe ist, da soll auch keine Ehe sein, und die Leutchen, die einmal so auseinander gekommen sind, soll man nicht mit Raisonnements wieder zusammenspannen, denn es thut dann doch all sein Lebtag nicht gut – sehen Sie, das ist mein Gedanke, und damit halt' ich nicht hinter dem Berge, hab's auch nie gethan, und die Agathe denkt gerade so wie ich; ein resolutes Geschöpf ist sie immer gewesen …
Ich hoffe, Ihre Tochter hat keine voreiligen Entschlüsse gefaßt – unterbrach Gustav Wald hier mit lauter Stimme ihren Redestrom.
Voreilige Entschlüsse? Ich möcht' halt wissen, was Sie so nennen, Herr Pfarrer – sie hat weiter keine Entschlüsse gefaßt, als die Sie wol kennen werden; sie ist eben fortgereist, und der Herr Bruder wird sie sobald wol nicht wiedersehen.
Das wolle Gott nicht! rief Gustav aus, dann werden Beide das Opfer eines – ich muß das Wort wiederholen – unglückseligen Mißverständnisses! Ich sehe Sie gereizt, weil Sie dem Ganzen eine Deutung geben, die für Sie persönlich eine höchst verletzende ist; aber ich versichere Ihnen, verehrte Frau, daß Sie sich darin völlig täuschen. Die Sache liegt durchaus anders, als Sie wähnen – Engelbert hat Agathe in tiefster Verzweiflung verlassen, weil er geglaubt hat, daß Agathe Ihre älteste Tochter Paula sei, und weil er sie für die geschiedene Frau des Grafen Belgenau hielt!
Frau Gebhardi blickte ihn mit großen, verwunderten Augen an.
Da bin ich doch neugierig, wie das zugegangen sein soll! Das ist ja vollständig verrückt!
Und doch ist es nicht anders, erwiderte Gustav Wald und erzählte nun von dem Tagebuch, welches in Engelbert's Hände gefallen und das den unglückseligen Irrthum hervorgebracht hatte.
Aber mein Gott, sagte die Dame, als er zu Ende war, Sie selbst, Herr Pfarrer, scheinen doch ganz gut unterrichtet, wer Agathe und wer meine älteste Tochter ist; weshalb haben Sie denn Ihrem Bruder nicht seinen einfältigen Staar gestochen, und weshalb kommt er nun nicht selbst, sein Unrecht wieder gut zu machen?
Ich bin allerdings unterrichtet, denn Agathe hat mir alle möglichen Aufklärungen, die ich verlangen mußte, ehe ich sie mit meinem Bruder traute, gegeben; aber sie hat sie mir unter dem Siegel der Beichte gegeben, da sie nun einmal für die erste Zeit ihrer Verbindung meinen Bruder durchaus im Dunkel über ihre frühern Verhältnisse lassen wollte. Sie sehen also, daß meine Lippen verschlossen waren!
Die Frau sah ihn noch immer mit höchster Verwunderung an.
Und deshalb – sagte sie endlich – haben Sie Ihren Bruder bei der tollen Idee gelassen, Agathe sei meine älteste Tochter und die geschiedene Frau eines schlesischen Grafen?
Ich durfte mit keiner Silbe ihm sagen, daß es anders sei; ich mußte ihn bei der verzweiflungsvollen Voraussetzung lassen, daß sein Verhältniß zu Agathe nicht einmal eine Ehe gewesen; denn unser katholisches Glaubensbekenntniß betrachtet diese Dinge nicht so wie Ihr Bekenntniß – daß ist Ihnen nicht neu – Engelbert hat ein tief religiöses Gemüth, er ist eine edle, reine Natur, und die Gedanken, welche jetzt schmerzlich seine Brust beklemmen, sind etwas Entsetzliches für ihn. Ich mußte ihn diesem Schmerz zum Raube sehen, ohne den Balsam in seine Wunde gießen zu dürfen, den ich doch in Händen hielt; die Erklärung, welche Alles zu einem guten Ende wenden konnte, lag zehn mal auf meiner Lippe, aber ich durfte die Erklärung nicht geben. Es war nur ein Wort, das meinen Bruder aus dem Abgrunde des Elends emporgerissen und mächtiger, als je eine Zauberformel war, ihn auf die Höhe unsaglicher Freude getragen hätte. Aber ich durfte nicht!
In den verwunderten Mienen, womit Agathens Mutter diesen Worten Gustav Wald's zuhörte, trat mehr und mehr ein Ausdruck hervor, welcher unverkennbar der des Unglaubens war.
Also statt Ihrem Bruder rasch die Wahrheit zu sagen, damit er sein Betragen wieder gutmachen könne, zogen Sie vor, zu schweigen und ihn bei einem Irrthum zu lassen, an dem meines Kindes und auch Ihres eigenen Bruders Glück und Leben zu Grunde gehen konnte?
Ich sagte Ihnen, was meine Lippen versiegelt hielt! Glauben Sie, es hätte mir nicht beinahe das Herz abgestoßen?
Wahrhaftig, das ist mir zu bunt, fuhr Frau Gebhardi heraus; wenn Sie so einem Menschen mit einem Worte zu seiner Rettung beispringen können, da möcht' ich doch wissen, was Ihnen das Recht gibt, zu schweigen!
Zu reden wäre ein Verbrechen für mich gewesen!
I nun, so begehen Sie Ihr Verbrechen, wenn es eine gar so gute Handlung ist, Ihr »Verbrechen«!
Das sind Grundsätze, bei denen die ganze menschliche Gesellschaft zu Grunde gehen würde, versetzte Gustav Wald, verdutzt über diese Naivetät der Frau.
Frau Gebhardi schüttelte den Kopf.
Aber es war ja nichts als ein einfältiges Misverständniß, sagte sie ironisch. Wenn man Jemand an einem bloßen Irrthum zu Grunde gehen sieht, so darf man ihn doch belehren, ja ich mein' halt nach meinem ungelehrten Verstande, Herr Pfarrer, man müßt' das thun, und da bocksteif dabei zu stehn und das Maul zu halten, das nehmen's mir nicht übel, sei ein Betragen, welches sich weder gegen Gott noch die Menschen verantworten läßt!
Gustav Wald lächelte schmerzlich.
Eine heilige Pflicht geht allem Andern vor, sagte er; wir müssen sie zu üben wissen, und sähen wir darüber neben uns unser Liebstes auf Erden zu Grunde gehen; wie wir ja auch keinen Augenblick zögern dürfen, uns selbst mit Allem, was wir haben, ihr zum Opfer zu bringen.
Frau Gebhardi hörte diese Worte nur mit halbem Ohre an. Sie schien sich über die Sache so ihre eigenen Gedanken zu machen. Der Herr Pfarrer, so mochten diese Gedanken lauten, ist ein braver Mann und will die Sache aufs beste in Ordnung bringen; er ist klug genug, vor allen Dingen mich zu versöhnen; denn er sieht wohl ein, daß das Betragen des Monsieur Engelbert für mich hauptsächlich demüthigend und beleidigend ist. Da kommt es denn darauf an, mir einzureden, dieser Monsieur Engelbert sei gar nicht auf und davon gegangen, weil er ausspionirt, daß seine Agathe sich früher mit einer Mama Komödiantin in der Welt herumgetrieben; sondern es muß mir ein X für ein U gemacht werden, und ich soll glauben, das Ganze sei ein großes Misverständniß. Der Herr Engelbert habe ein Tagebuch gefunden u. s. w. u. s. w. Der saubere Herr Schwiegersohn hat sich zu der Spiegelfechterei nicht hergeben wollen, und der Herr Pfarrer hat daher neben seiner schönen Geschichte von dem Misverständniß und dem Tagebuch auch noch einen Grund auf die Füße stellen müssen, weshalb nun der Monsieur Engelbert nicht gleich selbst mitgekommen ist, um sich sein Misverständniß und sein Betragen von Agathe verzeihen zu lassen. Da meint er mich einfältige Gans denn mit einem hübschen Stücklein aus seiner Theologie blenden zu können … Da soll ich an ihr Beichtsiegel glauben, oder wie er's nennt – du liebe Zeit – wenn die Menschen bei ihrer Schlauheit nur daran denken wollten, daß ein Anderer sich eben auch seine Gedanken macht! Aber ich will's ihm schon zeigen, daß die Emma nicht sobald aufs Maul geschlagen ist!
Gustav Wald blickte unterdeß schweigend auf die Frau, welche ihm gegenübersaß. Sein Blick nahm dabei etwas von tiefem Ernste, ja beinahe wehmüthig Sinnendes an. In welche fremde Welt war er hier gerathen! Er fühlte mehr und mehr, daß zwischen ihm und dieser Frau keine Verständigung möglich sei. Er ahnte, daß seine einfach aufrichtige Sprache hier nicht einmal Glauben fand. Er war hülflos solchem Mistrauen gegenüber. Zum Diplomaten war er nicht geboren. Er hatte immer, oft nur zu vorschnell, das Spiel sogleich aufgegeben, wenn das Leben ihn in Verhältnisse gebracht, wo er ahnte, daß irgend Etwas, was einer Intrigue ähnlich sah, herbeigezogen werden solle. Davor hatte er eine angeborene Angst, ein innerliches Entsetzen; wie Jedermann seine Idiosynkrasie hat, hatte Gustav Wald sie vor Intriguen. Zugleich aber wuchs seine Sorge über den Ausgang dieser Unterredung und das Ergebniß, welches sie für seinen Bruder und für Agathe haben werde. – Er fuhr endlich mit der Hand über seine Stirn und seine Augen, und wie sich sammelnd, sagte er:
Ich habe Ihnen jetzt Alles mitgetheilt; ich bitte Sie nun, mir zu sagen, wo Agathe ist, damit sie möglichst bald über dies Alles aufgeklärt werde und zu meinem Bruder zurückkehre.
Frau Gebhardi blickte wie überrascht auf.
Und das, glauben Sie, sei nun so mir nichts dir nichts in Ordnung gebracht?
Wenn ich mit Ihrer Tochter reden kann – sicherlich, mit wenigen Worten!
Sie haben einen guten Glauben – nun ja freilich, das ist Ihre Profession, Herr Pfarrer!
Sie haben sich persönlich zu sehr verletzt gefühlt von meinem Bruder, als daß ich Ihnen nicht eine gereizte Sprache verzeihen müßte, antwortete Gustav – aber lassen Sie uns bei der Sache bleiben.
Nun ja, die Sache ist, daß Agathe ihre festen Entschlüsse gefaßt hat, Entschlüsse, welche zu sehr meine Billigung haben, als daß ich etwas thun würde, um meine Tochter von der Ausführung zurückzuhalten.
So sagen Sie mir endlich, wo Agathe ist, damit ich selbst sie sprechen kann.
Agathe will weder von Ihnen noch von Ihrem Bruder aufgesucht sein.
Diese Antwort geben Sie mir; sie kommt nicht aus der Seele Ihres Kindes!
Und wenn ich Ihnen nun sage, daß dies doch der Fall ist – daß ich ihr versprochen habe, ihren Aufenthalt nicht zu verrathen, wenn der Herr Engelbert etwa als reuiger Sünder ihn wissen wolle?
So werden Sie ihn mir jetzt doch ohne allen Anstand sagen, jetzt, wo Sie hören, daß die Sache einen ganz andern Charakter hat, als Sie annehmen durften, bevor ich Ihnen meine Mittheilungen machte!
Frau Gebhardi zuckte die Achseln.
Glauben Sie, unsereins könne nicht auch schweigen, antwortete sie mit bitterm Lächeln, wenn es »Pflicht« ist?
Was ist hier Ihre Pflicht?
O, was die Pflicht einer Mutter ist, das versteh' ich sehr wohl, Herr Pfarrer, und brauche darüber keine Belehrung. Ich hab's der Agathe gelobt und werde es halten! …
Niemand zweifelt, daß Sie die Pflichten einer Mutter kennen, fiel Gustav rasch ein, um sie an einer Stelle zu beruhigen, wo sie so verwundbar schien – aber gerade deshalb werden Sie eilen, den Schmerz, dem Ihre Tochter so gut wie mein Bruder zur Beute geworden ist, zu enden, weil ja jetzt ein Wort von Ihnen ihn enden kann!
Frau Gebhardi schüttelte abermals den Kopf.
Das ist eine naive Voraussetzung von Ihnen, mein Herr Pfarrer. – Ein Wort soll den Schmerz eines so tief verletzten Frauenherzens enden können? Ein Wort soll wieder gutmachen, was so viel Mistrauen, Rücksichtslosigkeit, Lieblosigkeit gesündigt haben? Was doch ein Mann nicht Alles von einer Frau verlangt und voraussetzt!
Ich setze nichts als Mann von einer Frau voraus, erwiderte Gustav Wald lebhaft, sondern ich setze voraus, daß Agathe als Christin ihre Pflicht erfüllt, sobald sie den wahren Stand der Dinge erfährt. Es gibt Lebenskreise, Frau Gebhardi, fuhr er in dem apostolischen Eifer, der ihn erfaßte, hier mit der Wahrheit das falsche Raisonnement persönlich verletzter Gefühle niederzukämpfen, und mit lauterer Stimme fort – es gibt Lebenskreise, worin Ansichten herrschen mögen, welche in solchen Fällen das sogenannte Recht des Herzens und der Gefühle über die einfache Pflicht und über die schlichten Gesetze stellen. Ich aber sage Ihnen, daß diese Ansichten grundfalsch, verderblich, ja nichtswürdig sind. Ziehen Sie nicht Ihre Tochter auf eine Bahn, welche Sie selbst gewandelt und die in ein Labyrinth führt, in dem die Eingebungen des Gefühls kein Ariadnefaden sind, sondern sich nur zu oft als ein wirrer Knäuel zeigen, aus dem man nicht mehr klug wird, wenn ein Moment der Entscheidung da ist, wenn es den großen Entschluß zu fassen gilt, ob wir den Schritt rechtshin oder linkshin wenden sollen. Agathe ist Engelbert's Weib. Sie hat ihm Treue am Altar gelobt. Sie muß dieses Gelöbniß halten – sie wird es mit Freuden, wenn ich sie auffodere, es zu thun, und ihr sage, daß nichts Trennendes zwischen Beiden steht als ein Irrthum!
Gustav's Worte, mit so reinem Eifer sie auch gesprochen sein mochten, waren nicht geeignet, auf Frau Gebhardi persönlich versöhnend zu wirken.
Es ist besser, daß wir dieses Gespräch abbrechen, versetzte sie kalt. Ich sehe nicht ein, wozu es führen soll. Ich kann von meinen Worten nicht abgehen.
So geben Sie mir wenigstens ein paar Zeilen für meinen Bruder mit, worin Sie ihm sagen, daß Agathe nicht Ihre älteste, sondern Ihre zweite Tochter ist. Das ist das Wesentlichste, das Uebrige wird sich dann finden, Engelbert wird dann schon selbst sein Weib wiederzufinden wissen!
Das werd' ich nicht, antwortete mit einem gewissen triumphirenden Trotze die Frau. Laborirt der Herr Engelbert wirklich an einem solchen Irrthum, nun, dann lassen Sie ihn in Gottes Namen dabei, und es ist ja desto besser, er macht dann keine vergeblichen Schritte, meine Tochter wiederzufinden und zu versöhnen. Beide suchen sich dann zu vergessen und schlagen ihren eigenen Weg durch das Leben ein. Das ist das einzige Vernünftige, was sie thun können. Diese ganze Partie ist von vornherein eine unglückliche Geschichte gewesen –- ich kenne Ihren Herrn Bruder nicht, aber ich muß Ihnen gestehen, wenn er ein Mensch ist, dem Agathe sich scheuen mußte, offen und vertrauensvoll Alles mitzutheilen, was ein anderes junges Mädchen ihrem Bräutigam oder ihrem Manne mittheilt – dann ist er auch kein Mensch, der für ein so edles, kindlich reines Geschöpf wie meine Agathe paßt! – Das habe ich mir gleich im ersten Augenblicke gesagt, als mir Agathe dazumal von ihrem Abenteuer schrieb und mir ihre Liebe gestand und leidenschaftlich meine Einwilligung zur Heirath abverlangte. Aber du liebe Zeit, was sollte ich machen? Das Kind war nun einmal ganz weg in den Monsieur Engelbert und setzte mir mit stürmischen Bitten zu, und ein schwaches Mutterherz hat man auch; aber mit Widerstreben und böser Ahnung habe ich ihr die Einwilligung für mich und auch für ihren Vater, der noch immer in Spanien oder Algier oder Gott weiß wo ist, gegeben – und jetzt haben wir denn die Bescherung! Da ist denn weiter nichts zu thun, als sich darein zu fügen und zu denken, daß es Gottes Wille ist, wider den man nicht ankämpfen soll – es nützt da doch Alles nichts, trotz Quälerei und Plackerei heilt man nicht wieder, was einmal zerrissen und zerbrochen ist!
Sie betrachten also Agathens Betragen, ihren verhängnißvollen Entschluß, meinem Bruder ein räthselhaftes Wesen bleiben zu wollen und ihm alle ihre frühern Verhältnisse zu verschweigen, als eine Schuld Engelbert's? fiel Gustav Wald endlich ein, als Frau Gebhardi Athem schöpfte.
Nun sicherlich – als was anders? Denn ich wüßte nicht, wer sonst es gewesen wäre, der dem armen Ding durch sein Benehmen den Mund verschlossen hielt!
Ich will bei Ihnen nicht Ihre Tochter anklagen, antwortete Gustav. Agathe hat ja selbst auch zu schmerzlich jetzt dafür gebüßt. Sie hat jetzt sicher längst eingesehen, daß es nie gut thut, sich seine Verhältnisse ganz auf die eigene Art und Weise einrichten zu wollen und ganz anders, als alle Welt es macht … Wollen Sie aber durchaus einem Andern die Schuld an Allem aufbürden, so würden Sie gerechter sein, wenn Sie dieselbe nicht auf Ihren jüngsten, sondern einen guten Theil davon auf Ihren ältern Schwiegersohn legten, dessen Betragen gegen Ihre älteste Tochter auf Agathe einen so tiefen Eindruck gemacht hat …
Ach, reden Sie mir nicht von dem Belgenau, ich habe Ihnen ja gesagt, was ich von ihm denke …
Nun wohl, reden wir nicht von ihm, sondern von uns – Sie werden mir jetzt sagen, wo Agathe ist?
Sie kennen meine Entschlüsse darüber. Und noch ein mal – ich sehe nicht ein, Herr Pfarrer, wozu wir dieses Gespräch verlängern sollen.
Frau Gebhardi stand auf.
Aber Sie werden wenigstens nicht bei Ihrem Entschlusse bleiben, Engelbert in seinem Irrthum zu lassen – Sie werden an ihn schreiben!
Ich fühle durchaus keinen Beruf, mich mit ihm in Correspondenz zu setzen und mich ihm als Schwiegermutter aufzudrängen. Ist er so stolz, daß meine Tochter nicht wagen durfte, ihm von der Schwiegermutter zu erzählen, so bin ich zu stolz, mich ihm als solche zu präsentiren. Wenn Sie billig sind, müssen Sie selbst mir darin Recht geben. – Ich empfehle mich Ihnen, Herr Pfarrer. Ich hoffe, was uns angeht, so scheiden wir in Frieden.
Frau Gebhardi machte eine Verbeugung und verschwand im Nebenzimmer.
Gustav Wald sah eine Weile mit seinen blauen Augen verwundert die Thür an, hinter welcher Engelbert's Schwiegermutter den kindlich klaren und aufrichtigen Blicken dieser Augen entschwunden war.
Was für eine Frau! rief er aus. – O, wäret Ihr bei mir, sagte er dann mit einem Anflug bittern Humors und sich zum Gehen wendend – wäret ihr bei mir, all ihr Neologen, die ihr gegen das Cölibat eifert! Wahrhaftig, ihr würdet mit mir ausrufen: Gesegnet seist du, großer Gregor der Siebente!
Er verließ das Haus und suchte sich zu seinem Gasthofe zurecht zu finden. Seine Mission war gescheitert. Gebeugt und niedergeschlagen wanderte er durch die volkreichen Straßen. Es scheint, sagte er sich, ich habe dafür gestraft werden sollen, daß ich so oft schon die Vernunft gelästert habe. Ich habe mit der Unvernunft in Person eine Verhandlung gehabt – und die Strafe ist schwer und bitter! Aber vielleicht mußte sie so schmerzlich sein, um mich einmal gründlich zu heilen. Denn geheilt auf immer, das bin ich – ja, gütiger Gott, zu dir freilich gelangen wir nicht auf dem Wege der Vernunft – aber für unsere irdische Laufbahn hast du sie uns als die alma mater unsers Lebens, als die Mutter gesunder Gedanken und Entschlüsse gegeben; an ihrer Milch soll sich unser Geist nähren, an ihrer Hand sollen wir durch das Leben schreiten, an ihrer Brust Trost suchen in jeglichem Kummer – verflucht die Hand, welche sich wider sie, die schlichte, einfache, sorgliche, bürgerlich stille Frau erhebt, die ja ohnehin so viele treulose Kinder hat!
In seinem Gasthof angekommen, rüstete sich Gustav sogleich zur Abreise. Zu bleiben, noch eine Unterredung mit Agathens Mutter zu suchen, um sie umzustimmen, schien ihm völlig überflüssig. Diese Frau sah nun einmal das Ganze vom Standpunkt des lieben Ich aus an. Schon Das, was ihre älteste Tochter erlebt hatte, mochte tief ihr Selbstgefühl verwundet haben; aber damals hatte sie es verschmerzen müssen; jetzt, wo, wie sie glaubte und sich nicht ausreden ließ, etwas Aehnliches, nur noch auffallender und in höherm Maße, sich wiederholte, war ihre Geduld zu Ende, das gekränkte Ehrgefühl war unversöhnlich geworden.
Was aber war nun zu thun? Was Agathe selbst betraf, so nahm er als das Wahrscheinlichste an, daß sie entweder nach Ungarn auf die Besitzungen ihres Vaters oder nach Schlesien zu ihrer Schwester sich gewendet habe. Daß sie sich noch bei ihrer Mutter aufhalte, mit der sie doch offenbar über ihre Lage und Alles, was vorgefallen, sich besprochen haben mußte, fiel ihm nicht ein, er glaubte es wenigstens nicht; denn Frau Gebhardi hatte es ja in Abrede gestellt, und es gehörte zu Gustav Wald's charakteristischen Eigenthümlichkeiten, nie vorauszusetzen, daß man ihn täuschen wolle. Agathe nun aufzusuchen, dazu fehlten ihm die Zeit und die Mittel.
Aber auch einen andern Ausweg, um nur wenigstens mit einer Beruhigung für Engelbert zurückzukehren, konnte er nicht ergreifen. Es hätte nahe gelegen, sich nach dem bisherigen Aufenthaltsort Engelbert's zu wenden, um dort die alte Collegin der Frau Gebhardi, an deren Vertraulichkeit mit Agathe Engelbert so großen Anstoß genommen, aufzusuchen. Sicherlich hätte diese Frau sich bewegen lassen, Engelbert aufzuklären und, wenn sie im Stande dazu war, was sich annehmen ließ, auch Eröffnungen über den jetzigen Aufenthalt Agathens zu machen. Aber Gustav Wald konnte sich den großen Umweg nicht erlauben. Das Ende der Woche kam heran, er mußte heimeilen, um am Sonntage seine Amtspflichten zu üben und seine Gemeinde nicht ohne Gottesdienst zu lassen. Darum erlaubte er sich nur ein paar Gänge durch die Stadt, um ihre gepriesensten Merkwürdigkeiten anzusehen und bei deren Anblick die Last seines Kummers und seiner Sorge zu vergessen.
Das Letztere gelang ihm in sehr geringem Maße. Er sah Paläste, königliche Prunkräume, Monumente, Gemälde, Marmorstatuen; er trat in Hallen, wo eine Welt der Schönheit ihn umringte. Aber diese Schönheit hatte jetzt keine Sprache für ihn, wie es die Schönheit einer stillen Abendlandschaft oder einer sternenhellen Nacht für ihn gehabt haben würde.
Den Menschen ist wol die Gabe verliehen, einen Strahl der ewigen Schönheit oder des Ideals zu fesseln und in Werken ihrer Hände zur Gestalt werden zu lassen; aber die Macht dieser Schöpfungen bleibt immer eine gebrochene und halbe. Liegt irgend ein trüber Hauch, ein Schmerz oder eine Sorge über dem Spiegel des Gemüths, so fängt dieser die Strahlen jener Schöpfungen nicht auf, und die Beredtsamkeit derselben bleibt unvernommen. Nur eine Offenbarung der ewigen Schönheit, wie sie in der Natur oder in großen und göttlichen Gedanken liegt, übt jene Macht, nur eine unmittelbare Mahnung des Unendlichen löscht die Schriftzeichen des Schmerzes von dem Spiegel unserer Seele fort, und erst wenn dieses geschehen, beginnt die Kunst der Menschen wieder ihre Rechte auszuüben.
Es ist eben Alles in der Welt für die Glücklichen eingerichtet, sagte Gustav sich; uns Andern aber – »was ist uns Hecuba!«
Als Gustav Wald dagegen erst auf der Rückreise draußen war und auf den Eisenschienen dahinrasselnd über weite Landstrecken fortgezogen ward, wurde ihm wohler zu Muthe. Es liegt eine Anregung in dieser Art zu reisen, welche nach und nach den unberechenbarsten Einfluß auf den Charakter der Menschen und Völker üben wird. Die Schnelligkeit ist ja nur ein anderer Ausdruck für Kraft; eine ungeheuere Kraftentwickelung spielt seit Jahren jetzt in unserm tagtäglichen Leben eine mächtige Rolle; wir geben uns ihr hin, sie schleudert uns Hunderte von Meilen weit, bald hin, bald zurück, sie gibt unsern Bewegungen Energie, unserer persönlichen Thätigkeit einen weitreichenden Umfang – es ist nicht anders möglich, als daß dies Alles den Völkern einen Impuls und einen Schwung verleiht, der ihnen zum Ersatz für alle die Energie wird, die man sich verflüchtigen sah, seitdem das kriegerische Element in der modernen Staatengenossenschaft zu erlöschen begonnen hat.
Die Wirkungen einer Eisenbahnfahrt durch schöne, gesegnete Fluren und Länderstrecken bei heiterm Herbstwetter blieben wie gesagt bei Gustav Wald nicht aus; eine gewisse Zuversicht, daß es ihm bald gelingen müsse, in den Wirrwarr irrender Gemüther, welche ja durch weiter nichts als durch Misverständniß und durch falsche Voraussetzungen getrennt gehalten wurden, Licht und Klarheit zu bringen, bemächtigte sich seiner, und getrost bestieg er, als er endlich wieder am Ufer des heimatlichen Stroms angekommen war, das Dampfboot, das ihn in sein stilles Dorf zurückführen sollte.
Aber je näher und näher er diesem kam, desto schwerer fiel ihm der Gedanke an die Zeit, welche noch vergehen werde, bis ihm eine glückliche Vermittelung und Verständigung zwischen Agathe und Engelbert gelungen sei, aufs Herz; mit desto größerer Angst dachte er an das Wiedersehen mit seinem Bruder. Er hatte keinen Trost für diesen heimzubringen, wie er es zuversichtlich bei seiner Abreise gelobt. Und daß er Engelbert gestehen mußte, seine Absicht sei fürs erste völlig gescheitert – wie tief mußte das den Letztern in allen seinen Kummer, in seine hoffnungslos verzweifelten Vorstellungen zurückwerfen! Gustav sollte noch ein mal den Schmerz erleben, das mit ansehen zu müssen und – stumm dabei zu bleiben! Er sollte auch dann stumm bleiben, wenn er Engelbert etwa vorschnelle, verhängnißvolle Entschlüsse fassen sehen würde, wie es nur zu möglich, ja wahrscheinlich war, daß Engelbert sie ergreifen würde! Er sollte den rettenden Arm nicht ausstrecken, auch wenn er sein Liebstes auf Erden zu seinen Füßen in dem dunkeln Strome seines Verhängnisses untersinken sah!
Der Abend kam heran, und während Gustav sich ausmalte, wie er seinen Bruder wiederfinden werde, wurde es dunkler und dunkler; die Gegenstände rings um ihn her verschwammen in Dämmerung, das belebte Verdeck des Dampfbootes wurde von den Reisenden verlassen, und Gustav Wald saß vereinsamt auf der Bank, die am Bord des Schiffes hinlief. Seine dunkle Gestalt lehnte sich hinüber und blickte in das schäumende und tobende Gewässer, das unter ihm in der Tiefe aufgewühlt wurde. Unbeachtet, ungesehen schwebte die schwarze Priestergestalt über diesem aufkochenden Wogenschwall fort, wie ein stummer Geist über dem rauschenden Leben der Menschen, das ihm auch so wie Schaum an den Blicken vorüberrauschen mag, dahinschwebt.
Und wie einem Geiste war ja Gustav Wald auch zu Muthe, wie einem Schutzgeiste zu Muthe sein muß, der den Menschen, dessen Hut ihm anvertraut ist, umgibt, der seine keimenden Entschlüsse und seine Handlungen erblickt, und der mit Schmerz seine Lippen versiegelt fühlt, wenn er seinen Schützling durch diese Entschlüsse und durch diese Handlungen sich ins Verderben stürzen sieht; dessen Auge das kommende Unheil erblickt und der doch nicht einen Laut hat, um den irrenden Sterblichen zu warnen, zurückzuhalten, zu belehren.
Das Schiff war endlich dem Dorfe Gustav Wald's gegenüber angekommen; die Räder hielten ihren Schlag ein, ein Nachen kam heran, und unser Reisender stieg hinein, um sich an sein heimatliches Gestade rudern zu lassen. Vom Rhein aus konnte er die dunkeln Umrisse seiner Wohnung, nur eben erkennbar, durch die Nacht schimmern sehen. Aus dem Fenster seines Wohnzimmers fiel heller Lichtschein.
Des rückkehrenden Pfarrers Herz klopfte laut beim Anblicke dieses Lichts, neben dem er jetzt im Geiste seinen Bruder erblickte, wie der Lampenschimmer auf seine blassen Züge, das sinnende, in schmerzliche Gedanken verlorene Haupt fiel, welches sich über irgend ein Buch bückte, ohne etwas Anderes darin zu sehen, als wirre Zeichen, von denen seine kummerbeladene Seele wol weit entfernt war.
O Mensch, sagte Gustav Wald sich – wie bist du von Anfang und von Urbeginn an dem Schmerze eigen! Wenn ihn das Schicksal dir nicht sendet, so schaffst du dir ihn aus selbstgewobenen Fäden; du spinnst dich ein in ein luftiges Gewebe aus falschen Voraussetzungen und irrenden Gedanken, die deine Qual bilden; du hüllst dich darein wie die Raupe, die sich entfalten will, in ihr Gespinnst, als fühltest du, daß das Gewebe des Schmerzes dich umgeben müsse, damit eine höhere Entfaltung auch deiner Seele möglich werde. – Und wie Engelbert, muß auch ich meinen Schmerz tragen – muß der moralischen Folter entgegen, die mich erwartet. Wohlan denn – sieh ihr getrost und muthig ins Angesicht! Danke dem Herrn, daß er dir einmal in deinem Leben eine Gelegenheit gewährt, dich als seinen getreuen Knecht zu erproben! Was hast du bis heute denn auch Schweres gethan in deinem Berufe? Welche große Aufopferung hast du ihm je gebracht? Keine. Du dankst deinem Berufe ein ruhiges, friedliches Sein – aber seine Pflichten haben dich nie schwer gedrückt! Hier ist eine Pflicht, die groß und schwer, die auf deinen Schultern wuchtet, als sei es Etwas, das die Kräfte des Menschen übersteigt. Aber der Glaube kann Berge versetzen, der männliche, gottergebene Wille kann Berge tragen. Du sollst schweigen – das ist Alles! Aber haben nicht die Märtyrer geschwiegen, die man auf den glühenden Rost legte, damit sie den Mund öffneten und die Heidengötter anriefen? Und du solltest zagen, wo deine Prüfung so unendlich leichter ist, wo es sich nur um einen Schmerz handelt, dessen Ende sich nach Tagen berechnen läßt?
Gustav Wald hatte das Dampfboot verlassen. Während er den Weg zu seinem Hause, der durch die unregelmäßig umherliegenden Häuser und Hütten des Dorfs sich in die Höhe wand, emporstieg, rechnete er sich die Tage aus, welche noch allerhöchstens verfließen würden, bis es gelungen sein mußte, seinem Bruder Licht zu verschaffen; und dann überdachte er alles Das, was er bis dahin würde an Beredtsamkeit, an Trostgründen, an zerstreuenden Gedanken aufbringen können, um seinem Bruder über diese Tage hinweg zu helfen; wobei denn freilich an der Seele Gustav Wald's mehr transscendentale Gedanken und Aussprüche großer Weisen und Autoren vorübergingen, als Argumente, die sich seinem Nachsinnen aufgedrängt hätten infolge tiefer Kenntniß eines menschlichen Herzens, das in seiner Liebe tödtlich verwundet ist!
Gustav Wald war bis in seinen Garten gekommen; trotz alles Dessen, was er sich vorgesagt und vorgenommen, war sein Schritt unsicher und langsam, als er den nächtig dunkeln Mittelpfad unter den Obstbaumkronen daherwandelte. Seine Bewegung war so groß, daß er, an seiner Hausthür angekommen, still stand, um tief und schmerzlich aufzuathmen. Er streckte die Hand nach dem Schlosse aus, um zu öffnen, aber er ließ den Arm wieder wie matt und erschöpft niedersinken.
O Herr, stehe mir bei in dieser schweren Stunde! seufzte er.
Gustav Wald trat zugleich leise ein paar Schritte zur Seite; er war unter die Veranda getreten, wo das erleuchtete Fenster sich befand, das er schon vom Rheine her hatte schimmern sehen. Er wollte einen Blick hineinwerfen, um zuerst seinen Bruder zu beobachten. Die Vorhänge im Innern seines Wohnzimmers waren nicht niedergelassen, und seine Blicke konnten frei den Raum überschauen.
Aber was diese Blicke wahrnahmen, war ein Schauspiel, welches Gustav Wald so wenig erwartet hatte, daß ihm vor Ueberraschung einen Augenblick der Athem still stand.
Träumst du? fragte er sich und fuhr dann mit der Hand über die Augen – nein, du bist so wach wie je, und doch ist dies ein Traumbild – das schönste, das allerglückseligste, das du dir seit vielen Tagen hast ausmalen können!
In dem Sopha an der Wand, welche Gustav Wald gerade gegenüber lag, erblickte er eine jugendliche weibliche Gestalt; sie hatte die Hand auf die Sophalehne gelegt und nach derselben Richtung hin den Kopf gewendet, sodaß nur das Profil zu sehen war; ihre Hand hielt eine andere Hand gefaßt, und dies war die Engelbert's, der neben dem Sopha saß und eifrig mit ihr redete, leuchtenden Auges und mit strahlenden, wunderbar bewegten Zügen. Dem Paar gegenüber an der andern Seite des Tisches saß eine dritte Gestalt; es war ein ältlicher Herr in bequemer Haustracht, der sich ruhig in Gustav Wald's Lehnstuhl schaukelte und still den Dampf einer Cigarre von sich blies.
Agathe! Agathe hier! sagte der Pfarrer endlich leise – und er fühlte sich versucht, auf die Knie zu fallen und dem Himmel ein Dankgebet zu senden für diesen unerwarteten, überraschenden, glückseligen Anblick!
Aber Agathe wandte den Kopf, ihre Augen schienen ihn zu entdecken, auf ihm zu ruhen – doch nein, sie streiften vorüber, sie suchten die Augen des Fremden im Lehnstuhl, mit dem Agathe jetzt redete, worauf sie lebhaft aufsprang, die Arme um den Hals desselben schlang und zärtlich ihre Wange an sein gebräuntes, bärtiges Gesicht drückte.
Gustav Wald aber war vom Fenster zurückgetreten, er eilte jetzt ins Haus, in das Zimmer – ein Freudenruf schallte ihm entgegen, als er so plötzlich auf der Schwelle erschien.
Gustav – der geistliche Herr – der Bruder! rief es, und Gustav fühlte seine beiden Hände von zwei weichen schmalen Frauenhänden erfaßt und beinahe mit leidenschaftlicher Innigkeit gedrückt. –
O wie gut, daß Sie kommen, daß auch Sie jetzt da sind! sagte Agathe, und in den Augen, welche sie mit unbeschreiblichem Ausdruck zu ihm aufschlug, glänzten helle Perlen.
Sie, Agathe?! Und hier finde ich Sie, die ich vergebens in der Ferne suchte …
Und hier ist auch mein Vater, mein lieber, theurer Vater! antwortete Agathe, den Fremden Gustav vorstellend.
Nun begreife ich, sagte Gustav Wald – Ihr Vater ist's, mit dem Sie gekommen sind – der Alles gut gemacht hat …
O nein, so ist's gar nicht zugegangen – sagte lachend Baron Deakovar, während Engelbert, ihn unterbrechend und nun seinerseits der Rechte Gustav's sich bemächtigend, rief:
Nein, so ist's nicht zugegangen – der Alles gut gemacht hat, das ist Niemand anders als du selbst, Niemand als mein guter Bruder!
Ich? fragte Gustav, erstaunt Engelbert anblickend.
Sie sind es – antwortete Agathe statt Engelbert's – Sie haben mich nicht vergebens in der Ferne gesucht, wie Sie glauben; Sie haben mich gefunden, Gustav, ich habe jedes Ihrer Worte gehört, das Sie zu meiner Mutter sprachen, und jedes Ihrer Worte hat den Weg zu meinem Herzen gefunden.
O mein Gott! sagte Gustav, zum Himmel aufblickend – du sendest mir eine große Freude in dieser Stunde, eine größere, als ich jemals verdient habe zu empfangen.
Zu meiner Mutter hatte ich mich mit meinem Kummer und meinem Leid über Engelbert's Verschwinden geflüchtet – erzählte nun Agathe. Schon früher hatte ich ja nur zu deutlich wahrzunehmen geglaubt, daß Engelbert keine rechte Liebe mehr für mich habe, daß er in einem kurzen Rausche mir die Hand gereicht, der ach! nur zu rasch verschwunden. Wie konnte ich sonst mir deuten, daß er so gleichgültig wurde gegen Alles, was mich betraf, daß er auch nicht die leiseste Neugier mehr zeigte, zu erfahren, woher ihm denn seine arme kleine Frau gekommen und was und wo sie früher in der Welt gewesen – ja nicht einmal ihn ein klein wenig eifersüchtig zu machen gelang mir, als ich den alten Hausfreund meines Vaters von Paris her, Graf S., dazu gebrauchen wollte …
Und auch etwa den liebenswürdigen Herrn, dem du ein Rendezvous in den Parkanlagen gabst? fragte Engelbert mit zärtlichem Vorwurf.
Auch den hast du gesehen, böser Mensch? Das war ein armer Schelm, den das Schicksal viel umhergeschleudert hat, ein ehemaliger Souffleur bei einer Truppe, welcher meine Mutter angehörte – er begegnete mir und weshalb sollte ich nicht theilnehmend mich nach seinen Schicksalen erkundigen? Aber laß mich fortfahren, deinem Bruder zu erzählen: Als ich nun neulich plötzlich diesen bösen Engel in einen wahren kleinen Dämon verwandelt sah, der einen Tag lang wie eine Pulvermine umherging, von der man fürchten muß, daß sie im nächsten Augenblick Tod und Verderben sprühen wird – ja, als er dann gar auf einmal verschwand und ich nun noch obendrein erfahren mußte, welchen bösen, bösen Streich er mir mit dem Zeitungsblatt gespielt: da schien mir Alles klar und Alles zu Ende! Das Herz wollte mir springen vor namenlosem Leid …
Aber um Gottes willen, weshalb sprachst du nicht, Agathe, als du mich so in stiller Verzweiflung umhergehen sahst? fiel hier abermals Engelbert ein.
Was konnte ich dir sagen, wenn du mich nicht liebtest? Der Gedanke war es ja schon solange gewesen, der mich so ängstlich machte, und doppelt meine Lippen versiegelt hielt!
Ich flüchtete mich also mit meinem Leid zu meiner Mutter. In ihren Schoos schüttete ich allen Kummer; mit ihr hatte ich Rath gepflogen und Entschlüsse gefaßt. Als Sie, Gustav, nun zu uns kamen, verbarg ich mich vor Ihnen, denn ich wollte Sie nicht sehen, ich wollte mir den unsaglichen Schmerz einer solchen Unterredung mit Ihnen ersparen – auch meine Mutter wollte mich ihm nicht ausgesetzt wissen, und während ich ins Nebenzimmer eilte, übernahm sie es, für mich zu antworten. – Aber ich hörte und verstand alle Ihre Worte – Sie enthüllten mir den ganzen Grund des Wirrnisses, den unglückseligen Irrthum Engelbert's.
Weshalb denn kamen Sie nicht zu mir? Weshalb ließen mich Sie so trostlos mich entfernen? Das war grausam von Ihnen, Agathe – warf Gustav ein.
O, ich könnte Ihnen sagen, um nicht meine Mutter bloßzustellen, die Ihnen meine Anwesenheit geleugnet hatte – aber ich weiß in der That nicht, ob das der Grund war – ich war so überwältigt, so erschüttert, daß ich in die Knie gesunken vor meinem Stuhle lag, das Gesicht in den Händen bergend und einen Strom von Thränen vergießend. Als meine Mutter zu mir trat, als ich alle meine Fassung wiedergefunden hatte, da waren Sie fort und verschwunden. Ich hatte eine heftige Unterredung mit meiner Mutter, die glaubte, es sei zu meinem Besten, wenn sie mich meinen ersten Entschlüssen trotz Allem treu erhielte; aber ihre Worte vermochten nichts über mich – und wäre alles Andere nicht gewesen, ich fühlte zu tief die Wahrheit Dessen, was Sie, Gustav, gesprochen, indem Sie in all den Wirrwar unserer Seelen wie eine helle Leuchte den Gedanken der Pflicht warfen – der Weg, auf den dieses Licht seinen Schimmer warf, war der, den ich gehen mußte, ohne Rücksicht, ohne einen Augenblick zu zögern – und ich ging ihn, unaufhaltsam – ohne Einwürfe anzuhören. Ich ließ mich von meiner Mutter zur Eisenbahn begleiten; ich hatte fest und sicher darauf gehofft, Sie dort zu finden, aber Sie waren nicht da.
Hätt' ich's geahnt! Ich schweifte müßig unter den Merkwürdigkeiten der Stadt umher und verließ diese erst mit einem spätern Zuge am Abend – fiel Gustav ein.
Sie waren nicht da – so reiste ich allein; Sie erst in der großen Stadt aufsuchen zu lassen, dazu fehlte es mir an Geduld – ich mußte fort, fort zu Engelbert – zu diesem bösen, bösen Manne, der so gründlich abscheuliche Gedanken von seiner unschuldigen Frau hegen konnte!
Sie legte ihre Hand auf Engelbert's Schulter und drückte ihr Gesicht an seine Brust.
Dieser unschuldigen Frau, versetzte Engelbert schmerzlich lächelnd, die seiner treuen Liebe so gründlich mißtrauen konnte!
Nun, wahrhaftig, das ist ja gerad' das Beste bei der Sache, fiel jetzt frohen Herzens Deakovar ein – nun habt's euch alle Beid' nichts vorzuwerfen und müßt euch einand' a Ruh' geben für immer!
Und so kam ich denn hier an, fuhr Agathe fort, vor kaum einer Stunde. Als ich durch das Gartenthor trat, waren es Engelbert's Arme, die mich empfingen, gerade als hätte er mein Kommen geahnt, gewußt – wir brauchten uns nur ins Antlitz zu sehen, um uns ganz wiederzufinden; aber nicht allein ihn fand ich hier, sondern auch meinen lieben, guten Vater, den mir an diesem glücklichen Tage der Himmel ebenfalls wiederschenken wollte! …
Und nun mußte Gustav sich neben Agathe setzen und mußte sich von ihr Alles noch einmal schildern lassen und ihre Klagen vernehmen über seinen bitterbösen Bruder, wie der sie durch sein Benehmen und sein Verschwinden in Angst, Schrecken und Verzweiflung gebracht; und was Alles sie dabei gelitten in dem thörichten Wahn, er liebe sie nicht mehr, und nie, niemals würden sie einander wiedersehen können; und dann von Engelbert mußte Gustav sich erzählen lassen, wie ihm zu Muthe gewesen, als heute der unerwartete Schwiegerpapa vor ihm aufgetaucht und ihn bald mit seinen treuherzigen Worten aus seinem entsetzlichen Irrthum gerissen – und dann wieder klagte sich Agathe an, daß sie ein so thörichtes, unvernünftiges Kind gewesen, daß sie sich immer so vor Engelbert gefürchtet; denn gefürchtet habe sie sich vor ihm – das sei eigentlich die Schuld an Allem – weil er ein gar so ernsthafter Eheherr und ein so hochmüthiger Mensch gewesen, daß ihr immer das Wort auf der Zunge gestockt, wenn sie sich vorgenommen, ihm Alles von ihrer Jugend und von ihrer Mutter zu erzählen; und dann wollte Deakovar von Gustav wissen, wie er die Emma gefunden und wie es ihr gehe und was sie geredet, und so schwirrten die Stimmen in froher Erregung hinüber und herüber, daß es unmöglich wäre, dieser babylonischen Unterhaltung der vier glücklichen Menschen zu folgen.
Und so war denn unter dem Dache des kleinen Pfarrhauses an diesem Abende nur Heiterkeit und Freude; und nur Ein Herz war da, welches noch in ängstlicher Beklommenheit schlug – das war das Herz Hannah's, die nicht wußte, wo ihr der Kopf stand, und die vor lauter Hast und Eile die verkehrtesten Dinge angriff, da sie gar nicht absah, wie sie so viele plötzlich gekommene Gäste leidlich unterbringen und mit Ehren bewirthen sollte. Und doch wie ruhig wäre Hannah gewesen, hätte sie geahnt, wie wenig diese Gäste heute in ihrem Glücke sich um ihre Bewirthung kümmerten!
Am andern Tage reisten Engelbert und Agathe nach ihrem frühern Wohnort ab, um nun vor allen Dingen Engelbert's erzürnten Dienstvorgesetzten zu besänftigen. Es scheint, daß dies gelungen ist, denn wir fanden unlängst den Legationssecretär Wald im amtlichen Theile eines officiellen Blattes erwähnt; es war darin gesagt, daß ihm die Ueberbringung wichtiger Instructionen an die königliche Gesandtschaft zu Wien anvertraut sei – und wir schließen daraus, daß sein eigenmächtiges Durchgehen keine nachtheiligen Folgen für seine amtliche Laufbahn gehabt hat.
Baron Deakovar dagegen blieb einige Tage in dem kleinen Pfarrhause bei Gustav Wald zurück. Die beiden Männer schienen nämlich mit jeder Stunde ein größeres Gefallen aneinander zu finden, und als der Baron endlich seinen vorausgereisten Kindern nachfolgte, schied er nicht, ohne sich von dem Pfarrer das feste Versprechen geben zu lassen, dieser werde ihm nach Ungarn folgen, sobald es Deakovar gelungen, dort in der Nähe seiner Güter eine passende und reichdotirte Pfründe für ihn zu erhalten. Gustav Wald hat mithin die frohe Aussicht, seinen Lebensabend in der Nähe seines Bruders zuzubringen, da es ausgemacht worden ist, daß Engelbert später die ungarische Besitzung seines Schwiegervaters übernehmen soll.
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