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Drittes Capitel.
Was Gustav Wald sagte und was Hannah dachte.


Der Pfarrer hatte, als das Dampfschiff gekommen und angehalten, sich umsonst gefreut. Aber ein Schürger hatte vom Landungsplatz am Ufer wenigstens den Koffer und die Hutschachtel Engelbert's gebracht, mit der Nachricht, der Herr werde zu Fuß nachfolgen. Gustav Wald war ein abgesagter Feind vom Warten. Deshalb ging er unruhig im Hause umher. Es war beinahe Abend geworden und Engelbert noch immer nicht da. Hannah schob und rumorte oben in dem Quartiere, welches für Engelbert hergerichtet war; es war ein freundliches Giebelzimmer, nebst einem Schlafzimmerchen, so groß wie ein Alkoven. Der Pfarrer ging hinauf, ob denn noch nicht Alles in Ordnung sei.

Wo der leichtsinnige Mensch nur bleibt! rief er aus, während Hannah ihren unbefriedigten Thätigkeitsdurst, den das Warten geschärft hatte, zu stillen suchte und sich abmühte, eine eingelegte altfränkische Commode vor sich herzuschieben, um sie an eine andere Wand zu rücken.

Um Gotteswillen, lassen Sie doch die Commode, wo sie stand, Hannah! sagte der Pfarrer; sie stand ja dort vortrefflich!

Hannah war anderer Meinung.

Sie verengte dort das ganze Zimmer, sagte sie und schob weiter, daß die klaren Schweißtropfen ihr auf die Stirn traten.

Gustav Wald schüttelte den Kopf.

Aber, fuhr er fort, warum ziehen Sie denn nicht wenigstens erst die drei Schubladen aus dem schweren Kasten, um sich's leicht zu machen? Und Platen's Vers recitirend:

 … Doch dem Himmel sei's geklagt,
Daß dem weiblichen Geschlechte die Vernunft er hat versagt –

machte er sich augenblicklich selbst ans Werk und zog eine Lade nach der andern heraus. Ueber dem Lärm, der durch diese Arbeit in dem Giebelzimmer entstand, hatte weder Gustav Wald noch Hannah vernommen, daß das Gartenthor sich geöffnet hatte, und daß zwei Personen langsam schreitend über den kiesigen Pfad bis in die Veranda gekommen waren.

Hannah, rief der Pfarrer plötzlich, ich höre Stimmen unten!

Richtig! sagte sie aufhorchend, da ist er, es ist Ihres Bruders Stimme!

Gustav eilte hinaus und die Treppe hinab; Hannah folgte ihm etwas langsamer und mit beiden Händen ihren Scheitel glättend.

Draußen unter der Veranda angekommen, erhob Gustav seine Arme, um seinen Bruder zu umschließen; aber betroffen ließ er sie sinken, als er sich plötzlich vor einer eleganten jungen Dame befand, die sich auf einen der Gartenstühle niedergelassen hatte. Diese völlig unerwartete Erscheinung versetzte ihn in ein solches Erstaunen, daß er mit seinen großen blauen Augen die Fremde anschaute, ohne sie zu grüßen; als er nach einer Pause dies rasch nachholte und mit einem verlegenen Ah und einer tiefen Verbeugung sein schwarzes Käppchen abzog, hatte es etwas so Komisches, daß Engelbert in ein lautes Lachen ausgebrochen sein würde, wären nicht eben alle seine Gedanken von etwas Anderm in Anspruch genommen gewesen. Dieses war das Bestreben, seiner Schutzbefohlenen jede Verlegenheit bei dieser Begegnung zu ersparen. Er konnte es nicht, wenn er sie feierlich vorstellte; er konnte sie nicht vorstellen, er wußte ja selbst nicht das Mindeste von ihr; es blieb ihm nichts übrig, als rasch über alles Andere hinwegzugehen und sich darauf zu beschränken, sogleich Hülfeleistungen für die Leidende zu verlangen.

Lieber Bruder, sagte er deshalb, aber mit flammendrothem Gesichte – das Fräulein bedarf augenblicklicher Hülfe – ah, Hannah, guten Abend, Hannah, o, seien Sie so gut, das Fräulein hat sich arg den Fuß verstaucht – es ist nöthig, daß augenblicklich etwas geschieht, kalte Aufschläge, oder was sonst Linderung geben kann.

Ich bedarf am meisten der Ruhe, versetzte die Fremde, und wenn Sie mir nur die vergönnten … weiter möchte ich Ihnen keine Last machen!

Gustav Wald war augenblicklich die Zuvorkommenheit selbst; Hannah mußte die Fremde führen und ins Haus bringen, damit sie sich auf dem Sopha in des Pfarrers Wohnstube ausruhe; dann war er im nächsten Augenblicke zum Thor hinaus, um in eigener Person das Orakel des Dorfes herbeizuholen, eine alte Frau, welche sich auf die Behandlung von verstauchten und ausgerenkten Gliedern besser als die gelehrtesten Doctoren verstand, wie so manche jener naturalistischen Heilkünstler und Heilkünstlerinnen, die es auf dem Lande gibt, und von deren Anlage man nicht weiß, ist es Instinct oder Eingebung. Dann kam er zurück, das Dorfgenie hinter sich, und erst als er sie zur Fremden geführt und nachdem er Hannah mit Tüchern und Schalen frischen Wassers laufen sehen, kam er zurück zu Engelbert, umhalste ihn, rieb die Hände, schenkte die Gläser voll und rief:

Ergo bibamus! Menschenkind, wie hast du auf dich warten lassen! Wer ist diese Person?

Ich weiß nichts davon. Da oben bei der Klause stand sie und konnte nicht weiter, weil sie sich den Fuß verstaucht hatte. Sie war ganz allein, weit und breit kein Mensch in der Nähe! Hätte ich ihr nicht den Arm gegeben und sie heruntergeführt, sie hätte am Ende die Nacht da oben zubringen müssen mit ihrem kranken Fuße!

Woher kommt sie denn?

Ich weiß nicht!

Wohin will sie denn?

Ich weiß nicht!

Wie heißt sie denn?

Ich sage dir, ich weiß keine Silbe von ihr!

Ach, das ist ja eine merkwürdige Geschichte! sagte Gustav Wald und sah, das ergriffene Glas auf halbem Wege zwischen Tisch und Mund haltend, verwundert seinen Bruder an.

Ich habe sie auch nach allem Dem nicht gefragt, fuhr Engelbert fort.

Ja so – nun, dann wird sie es der Hannah sagen. – Also – willkommen, mein Junge! nun stoß' an und trink'! Gott sei gedankt, daß du wohlbehalten da bist! – Er ist gut, der Walportsheimer, nicht?

Mir ist ohnehin heiß genug, sagte Engelbert, seine Mütze abwerfend und seinen Rockkragen zurückschlagend.

Engelbert mußte aber doch trinken, und dann mußte er erzählen, wie es ihm ergangen, wie er gereist sei, wie lange er bei dem Bruder bleiben könne; und dann mußte er Gustav's Erlebnisse anhören, mußte jedes kleine Ereigniß des Landpfarrerlebens, und was immer die Einförmigkeit desselben mit Freude oder Leid unterbrochen, der Reihe nach sich mittheilen lassen. Der Pfarrer erzählte das Alles mit dem heitersten Humor. Daß Engelbert ihm nur mit geteilter Aufmerksamkeit zuhörte, entging ihm in seiner Freude, endlich den Bruder bei sich zu haben.

Wie wohnst du doch schön, glücklicher Mensch! sagte Engelbert endlich, als Gustav zu plaudern aufhörte.

Du nennst mich glücklich? versetzte Gustav – du, vor dem die Welt offen liegt, während ich hier festsitze, im Winter eingeschneit und im Sommer wie ein gefangener Indianer, der in der Sonne festgebunden ist, damit sie ihn röste; denn ich sage dir sie brennt auf die schwarzen Schieferfelsen hier wie die Hölle.

Das ist für einen Pfarrer ein Glück; desto leichter hältst du deine Heerde fromm, wenn du ihr handgreiflich zeigen kannst, wie die Hölle brennt!

Gustav lachte.

Du hast Alles, was ein weiser Mensch vom Leben verlangen kann, fuhr Engelbert fort. Sorgenlosigkeit, ein reizendes kleines Haus, Ruhe und Stille; und doch wieder Leben und Bewegung, die da unten auf dem Strome an dir vorüberrauschen und dich nie fühlen lassen, daß du einsam bist, weil du jeden Augenblick dich hinein begeben kannst. Dazu rings um dich her diese Gegend, die ein Paradies ist …

Früher schien dir die Gegend viel zu düster, zu eng zu einem Paradiese – kommt das etwa, weil du soeben eine Eva hereingeführt hast? sagte neckend der Pfarrer. Am Ende soll ich dir jetzt noch ein mal meine Pfründe abtreten, alter Kanonikus!

Nein, das sollst du nicht, antwortete Engelbert, gerührt seinen Bruder anblickend, und wollte fortfahren, als Hannah aus der Hausthür trat.

Nun, wer ist sie, Hannah? fragte der Pfarrer.

Wie heißt sie? fragte Engelbert.

Woher kommt sie? fragte Gustav Wald.

Hannah sah bald den Pfarrer, bald Engelbert an.

Ja weiß ich das? antwortete die Haushälterin endlich.

Sie wissen es nicht, Hannah?

Wenn das Ihr Herr Bruder nicht weiß …

Er weiß keine Silbe davon, versetzte Gustav Wald.

Hannah warf einen ganz eigenthümlichen Blick auf Engelbert. Was sie bei diesen Fragen der Beiden dachte, verrieth sie mit keinem Laute, aber desto deutlicher verrieth sie auf andere Art, daß dieser Gedanke ungefähr so lautete:

Der Herr Bruder ist im tiefen Irrthum befangen, wenn er glaubt, die Hannah ließe sich so leicht ein X für ein U machen!

Um diesen Satz den beiden Brüdern klar zu machen, äußerte sie nämlich auch nicht einen Ton der Verwunderung über den auffallenden Umstand, den Gustav Wald zu behaupten so gutmüthig war; auch nicht ein leisestes Zeichen, daß sie ihrerseits neugierig nach Dem sei, was die Brüder so eifrig zu wissen verlangten; sie sagte nur trocken:

Die Fremde hat sich nicht blos den Fuß verstaucht, sondern verrenkt; von dem Gehen darauf ist es sehr schlimm geworden; die Mutter Dorothee hat ihn zwar wieder eingerenkt, aber sie sagt, er werde sehr anschwellen, und wenigstens acht Tage lang müsse die Dame ruhig liegen bleiben!

Dann müssen wir ihr Engelbert's Giebelzimmer einräumen und Engelbert in meine Bibliothek einquartieren.

Wenn Sie meinen, Herr Pfarrer!

Nun freilich, was ist anders zu thun?

Eine kleine Erörterung über die zu treffenden Veränderungen folgte nun. Engelbert wollte Hannah, die er nicht in der günstigsten Stimmung erblickte, versöhnen, indem er seinerseits auf alle Bequemlichkeiten verzichtete und durchaus auf dem Sopha in seines Bruders Wohnzimmer zu schlafen verlangte. Aber Hannah hörte nicht auf ihn. Er mußte sich gefallen lassen, was Hannah über sein Nachtlager beschloß.

Hannah ging wieder, um Alles in Ordnung zu bringen und die Fremde oben in das Giebelzimmer einzuführen. Die Brüder blieben in der Veranda zurück; sie ergingen sich eine Weile in Vermuthungen über das junge Mädchen; aber da ihnen jeder Anhaltspunkt fehlte, so mußten sie Alles von den Mittheilungen erwarten, welche die Fremde sicherlich am andern Tage selbst geben werde. Gustav drängte seinen Bruder, Erfrischungen zu sich zu nehmen. Bis tief in die Nacht saßen sie dann noch zusammen; die Sterne glänzten durch das Gegitter der Laube, von unten her tönte das Rauschen des Stroms herauf, welches die Stille der Nacht vernehmlich machte; der Mond stieg empor und goß sein mildes Licht auf die Stirnen der zwei sich gegenüber sitzenden Brüder; was Wunder, daß die lange Getrennten die Stunden vorüberfliehen ließen, bis die letzten Gläser geleert waren und Engelbert's Lider vor Müdigkeit niedersanken.

Der Pfarrer brachte seinen Gast in die Bibliothek. Dann kam er allein zurück, um das Windlicht, das noch draußen stand, hereinzuholen. Er fand Hannah beschäftigt, das Eßgeschirr und das Tischtuch abzuräumen.

Nun, Hannah, er sieht prächtig aus, mein Bruder, nicht wahr? sagte Gustav, die Hände reibend.

Hm … ja … ich habe nicht danach gesehen!

Er ist stärker geworden! Er war ein dünnes Kerlchen, als er das letzte mal hier war; aber er ist viel stärker geworden.

So?

»Hm!« »So!« Warum sind Sie so kurz angebunden, Hannah? Was haben Sie? sagte Gustav Wald – Sie haben etwas!

Habe ich wieder etwas? versetzte die Haushälterin ironisch, mit gezwungenem Lachen.

Nun, heraus damit, Hannah – es drückt Ihnen ja doch das Herz ab! – Sind Sie verdrießlich über die Last, die ihnen die Fremde ins Haus bringt?

Ueber die Last? Nein, wahrhaftig nicht!

Nun, worüber denn?

Ach, lassen sie mich still darüber sein, Herr Pastor – was kann es nützen? – Wenn Sie's nicht selbst merken, so ist's meine Sache auch nicht; ich habe noch nie mich in anderer Leute Sachen gemischt, das werden Sie mir nicht nachsagen können, Herr Pastor; und wenn's auch Ihr Unglück werden sollte, die Geschichte, und wenn auch das hochwürdige Vicariat sich hineinmischen thäte und mich auffodern wollte, zu reden, ich thäte mir doch lieber die Zunge abbeißen, als daß ich was Anderes sagte, als: hochwürdiges Vicariat, würde ich sagen, die Sache geht mich ganz und gar nichts an, und was den Herr Pastor betrifft, so ist er ein ganz tugendhafter Mann, ein kreuzbraver Mann, in dem auch nicht ein Tropfen bösen Blutes ist, das ist er, redlich und fromm vor dem Herrn und ein getreuer Hirt, hochwürdiges Vicariat; aber zu gut ist er, und wer ihn will, der hat ihn, weil er gar so gutmüthig ist und ein wahres Kind, was die böse Welt angeht; und zu nächsten Michaelis, wenn's die Zielzeit ist, es sind gerade sieben Jahre, daß ich in der Pastorat gewesen bin, vier bei dem seligen Herrn Pastor und drei bei dem jetzigen, immer recht und schlecht, und fürs Hauswesen habe ich immer gesorgt nach dem besten Können und Wissen, und wenn auch zuweilen das eingemachte … Hannah fuhr bei dieser Stelle ihrer Rede mit der Schürze nach den Augen – wenn auch das eingemachte Kraut und das Pökelfleisch schon im März alle war und gar nichts mehr übrig, so … so …

Hannah brach bei diesen Worten in ein so furchtbares Schluchzen aus, daß sie nicht weiter konnte, sondern sich übermannt von ihrem Weh in einen Stuhl warf und einen Strom von Thränen vergoß.

Lieber Himmel, was hat denn die alte Jungfer? fragte sich der Pfarrer zu Tode erschrocken.

Um Gotteswillen, was schwatzten Sie da, Hannah, vom Vicariat, von Michaeli, von Pökelfleisch

In eine Pastorat! In eine Pastorat! Wenn's nur nicht in eine Pastorat gewesen wäre!

Hannah – wollen Sie mir jetzt sagen oder nicht, was Sie haben?

O, ich habe nichts, gar nichts, Herr Pastor – aber der Herr Pastor haben etwas – einen Skandal haben der Herr Pastor, und den haben Sie in Ihrem eigenen Hause, mit Ihrem eigenen Bruder!

Mit meinem Bruder? Ich bin nicht um ein Haar klüger, als ich's vorhin war, ehe Sie in dieses unsinnige Flennen ausgebrochen sind!

Das ist's ja eben, daß Sie nicht klüger werden – daß Sie Alles glauben, was die Menschen Ihnen weiß machen – ja, und das hat der saubere Herr Engelbert auch wohl gewußt …

Hannah! sagte mit einem so scharfen Ernst der Pfarrer, daß die Haushälterin wohl wußte, sie war an den Grenzen Dessen angekommen, was sie auf die Langmüthigkeit ihres milden Hausherrn hin wagen durfte – Hannah, sagte er, kein Wort wider meinen Bruder! Sagen Sie mir, was Sie wollen, oder gehen Sie zu Bett!

Ja, sagen will ich's Ihnen, denn das ist meine Pflicht und Schuldigkeit, daß ich's Ihnen sage, einem so guten Herrn, und der keinem Kinde was zu Leide thut. Sehen Sie, Herr Pastor, daß Ihr Bruder Ihnen so etwas weiß macht, das ist Unrecht von dem Herrn Engelbert, und daß er Ihnen solch eine Person ins Haus bringt, solch eine Person, die mit einem jungen Herrn daher gegangen kommt, ja, über Land läuft …

Hannah!

Ueber Land läuft, habe ich gesagt; denn warum? hat sie sich nicht den Fuß verrenkt, weil sie gelaufen ist, über Land mit dem jungen Herrn? – O, Herr Pastor, glauben Sie denn wirklich, der Herr Engelbert weiß nicht, woher sie kommt, wohin sie geht, wie sie heißt, und was sie hier sucht?! Die feinsten Kleidungsstücke hat die Person, ein Kleid von ungebleichter Seide und eine emaillirte goldene Uhr am Gürtel, und oben, wie sie in das Giebelzimmer gekommen ist, da hat sie aus einer Tasche im Kleid eine volle Börse hervorgezogen und nur so, als wenn's unnützes Zeug wäre, in die Ecke auf den Tisch geworfen … und Gold, lauter Goldstücke waren darin, ich hab's wol schimmern sehen durch die grünseidenen Maschen … und solche Damen, Herr Pastor, die findet man nicht oben mutterseelenallein auf dem Felde, an der alten Klause, und weit und breit ist kein Mensch, der zu ihr gehört, und kein Gepäck auch nicht bei der Hand – nein, Herr Pastor, ich will viel glauben – aber dieses, nein, das glaube ich nicht! Mir ist da oben niemals in meinem Leben nicht so etwas aufgestoßen …

Aber, Hannah, was glauben Sie denn? unterbrach sie Gustav Wald, sich übermannt von allem diesem in einen der beiseite geschobenen Gartenstühle niedersetzend – was glauben Sie denn, wenn Sie nicht glauben, was mein Bruder sagt?

Hannah zuckte die Achseln.

Das ist mein Lebtage nicht eine Glaubenssache, daß ich hiervon etwas sollte glauben müssen, von dieser Person da, und das müssen der Herr Pastor selbst ausmachen mit Ihrem Bruder, wie's zugegangen ist, daß er die Person so mit sich bringt in ein anständiges und unbescholtenes Pfarrhaus, wo die bösen Zungen doch so laut und giftig sind in der Welt, und wo ein armes Mädchen wie ich, die nichts hat als ihren guten Ruf und ihre Ehre und Reputation, nun keinen Tag und keine Stunde länger bleiben kann, als es die Zielzeit ist …

Hannah, gehen Sie jetzt zu Bett! Sie sind eine Thörin! Aber ich will mit meinem Bruder reden.

Mit dieser ernsten Weisung schloß Gustav Wald den Redestrom seiner Dienerin.

Diese schwieg in der That vor dem gebieterischen Tone des Pfarrers und verschwand mit dem klappernden Geräthe im Innern des Hauses.

Gustav Wald aber blieb noch lange, ohne sich zu regen, draußen unter der Veranda.

War es wahr, was Hannah sagte? Es wäre entsetzlich gewesen für den armen Landpfarrer, der mit so reiner und uneigennütziger Liebe an seinem Bruder hing, und der sich dafür so belohnt gesehen hätte, durch eine wahrhaft rohe Rücksichtslosigkeit! Und leider, leider, war es ohne Widerspruch von der allertraurigsten Wahrscheinlichkeit, was Hannah zu verstehen gegeben. Wie sollte ein so elegantes junges Mädchen, dem man auf hundert Schritte weit die feine Salondame ansah, da oben auf die verlassene Haide gekommen sein! Wohin hätte sie da gewollt, ohne Weg und Steg zu kennen, ohne Begleitung und ohne Führer! Und wozu hätte sie, wenn es wirklich so gewesen, Engelbert alle und jede Auskunft vorenthalten! Gewiß, es war ein Vorwand von Engelbert, der, sich schämend oder nicht geübt genug im Lügen, vorgezogen hatte, seinem Bruder einfach zu sagen, er wisse nichts, statt ihm falsche Vorspiegelungen zu machen! Die Fremde war – nein, eine leichtsinnige Person, die Engelbert mit sich führte, war sie sicher nicht – den Gedanken warf Gustav Wald weit von sich fort – Engelbert war kein sittenloser, verdorbener Mensch geworden in der großen Stadt … das glauben zu müssen, hätte dem Bruder eine Wunde in die Seele gedrückt, von welcher sein kindliches Gemüth nie mehr genesen wäre – er hätte sein Leben lang in Sack und Asche trauern müssen, und es wäre ihm gewesen, als hätte er selbst nicht mehr die freie und klare Stirn am Altar emporheben, als hätte er nie mehr von der Kanzel herab in den Gemüthern seiner Heerde mit tiefer Rührung und priesterlicher Wärme jenes heilige Feuer des Geistes schüren und aufflammen lassen dürfen, welches die Herzen reinigt und die Schlacken verzehrt!

Nein, Gustav Wald machte sich eine andere Erklärung, um sich die Beziehungen zwischen Engelbert und der Fremden zu deuten. Er setzte sich einen ganzen Roman zusammen, einen Roman, wie er sich vorstellte, daß Romane seien, denn er hatte nie selbst einen gelesen. Sie war die Tochter eines reichen Bankiers oder eines adelstolzen Grafen; bei einer Landpartie, welche Engelbert mit einigen Freunden gemacht, war plötzlich ein schnaubendes »Roß« in tollen Sätzen dahergesprengt gekommen, ein unglückliches Etwas, das mit dem Fuße im Bügel hangen geblieben, nach sich schleifend. Engelbert hatte allein den Muth gehabt, dem rasenden Thiere sich in den Weg zu werfen. Er hatte die Unglückliche gerettet. Vielleicht war es auch ein Wagen gewesen, mit dem die »Rosse« durchgegangen, dicht an einem Abgrunde her; vielleicht auch war es eine Wasserpartie gewesen mit einem umgeschlagenen Kahne und keinem anderen Retter, der hinuntertauchte und die Ertrinkende emporholte, als Engelbert, in der Nähe.

Das war der Inhalt des ersten Bandes des Romans, den Gustav Wald dichtete; der zweite enthielt einen ergreifend schönen und zärtlichen Briefwechsel; der dritte Band aber brachte die Katastrophe: wie die Liebenden, von einem unerbittlichen Vater, einem abscheulichen, verhärteten Bösewicht mit einem alten Stammbaum an der Stelle, wo bei andern Menschen die Gefühle wurzeln, in der rührendsten Scene ertappt, sich zur Flucht entschließen. Die Entführung gelingt, und der Held bringt die Heldin in ein reizend gelegenes, rebenumgrüntes kleines Pfarrhaus, das in einem schönen, von der Welt abgeschiedenen Thale liegt, wo ein gutmüthiger Pfarrer, des Helden Bruder, die glücklichen Liebenden durch den Segen der Kirche vereint.

Das waren die Vorstellungen, an welchen Gustav Wald's ängstlich bewegte Seele endlich haften blieb. Und um so fester ließ er seine Gedanken daran haften, weil er so am leichtesten die Gründe fand, deren er bedurfte, um die Sorgen seiner Seele zu bemeistern, die Gründe, welche seinen Bruder entschuldigten.

Nur Eines blieb aber immer entsetzlich für Gustav Wald. Das war die Rücksichtslosigkeit, womit Engelbert seine Geliebte zu seinem Bruder brachte und dessen Würde compromittirte!

Denn seine Geliebte war sie, das sah jetzt selbst Gustav Wald klar und deutlich ein – Engelbert war ja den ganzen Abend so zerstreut gewesen und so ganz anders, als Gustav sich ihn gedacht, – so viel theilnahmloser, so viel gleichgültiger für Alles, was sein gutmüthiger Bruder ihm vorgeplaudert und erzählt!

Das Windlicht, das noch auf dem Tische stand, war längst verflackert und abgebrannt; der Mond war jenseit der Berge im Westen niedergegangen. Gustav Wald saß bekümmerten Herzens noch immer in der Laube. Endlich fühlte er den kalten Zug der Nachtluft, die durch das Rheinthal scharf daherstrich.

Ich muß ihm morgen ins Gewissen reden! sagte der Pfarrer, und dann stand er mit einem tiefen und schmerzlichen Seufzer auf und begab sich zur Ruhe.

Als er durch den Hausgang an der offenen Küchenthür vorüberschritt, sah er noch Licht darin; Hannah war noch immer auf. Sie saß, den Arm auf den Anrichtetisch gestützt, den Kopf darauf gelehnt.

Herr Pastor! sagte sie leise, als sie seinen Schritt hörte.

Was ist's, Hannah?

Die alte Dorothee ist vorhin noch ein mal da gewesen, um nach der Fremden zu sehen; sie hat mir erzählt, daß um die Abendzeit unten am Rhein ein Wagen, mit zwei Extrapostpferden bespannt, vorübergefahren ist, und ein ältlicher Herr hat darin gesessen, der hat anhalten lassen und ist ausgestiegen und zu den Schürgern gegangen und hat sie gefragt, ob sie nicht eine junge Dame in einem grünseidenen Hute und einer grünen Mantille hätten vorübergehen sehen, und wie die Leute gesagt haben nein, die hätten sie nicht gesehen, denn daß sie noch von oben herunterkommen werde mit dem Herrn Engelbert, das wußten sie ja nicht – da hat der fremde Herr etwas in den Bart gemurmelt, was sie nicht verstanden haben, und ist wieder in seinen Wagen hinein, ist er, und ist weiter gerollt, nach oben zu; aber so verstört hat er ausgesehen und …

Nun, da haben wir's! rief Gustav Wald aus, dem eine Centnerlast vom Herzen fiel – weshalb haben Sie mir das nicht gleich gesagt?

Weil wir darum nicht klüger sind als zuvor, Herr Pastor, und weil ich nichts daraus abnehmen kann, als daß sie sich da oben an der Klause ein Rendezvous gegeben haben, wie man's nennen thut …

Gustav Wald wandte ihr den Rücken, und mit wahrer Herzensangst vor den Schlangen des Verdachts, welche Hannah aufs neue in ihm aufwecken wollte, entfloh er in seine stille Schlafkammer.



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