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Zehntes Capitel.
Die Zeitungsanzeige.


Gustav Wald hatte diese Erzählung zu Ende gelesen. Ruhig legte er die Blätter aus den Händen.

Das ist eine unangenehme, eine mir widerwärtige Geschichte, sagte er, als wenn ihm darin nicht viel geboten sei, das seine Theilnahme wecke. Eine Geschichte von Menschen, die, wie tief sie auch durch das Leben geschleift werden, doch das Leben nicht kennen, welche es beurtheilen, wie Pensionsfräulein, welche weiche Teppiche unter den Füßen und gepolsterte Sessel als Etwas betrachten, womit der Mensch geboren wird und worauf er nur den Luxus seiner Gefühle zu schaukeln hat, um sagen zu können: ich habe meine Lebensaufgabe erfüllt. Und ihre vornehmen Gefühle sind Dinge wie verzärtelte Möpse, wie dickgefütterte Schooshunde. Keiner von ihnen Allen thut seine Pflicht. Weder gehorcht das Weib ihrem Manne, noch hält der Mann sein Weib aufrecht und sorgt für sie durch Ernst und Zucht.

Ich habe diese Geschichte nicht dem Moralisten und Prediger übergeben, fiel Engelbert ein, sondern dem Bruder …

Nun ja, und dein Bruder wartet auf die Erklärung, weshalb du sie mitgetheilt hast.

Weil sie den Schlüssel zu Allem enthält – weil Agathe Niemand anders ist als Paula – die Paula dieser Blätter.

Ah bah, welcher Gedanke! fiel Gustav, offenbar erschreckend, ihm in die Rede – etwa weil sie nach ihrem Taufschein auch unter vielen andern diesen Namen hat?

Es ist so – versicherte Engelbert halblaut und tonlos – Agathe ist die Heldin dieser Geschichte; sie ist das Weib des schlesischen Grafen, der darin vorkommt, den sie, wie es am Schlusse heißt, verlassen wollte, und ich – ich habe das Weib eines Andern zur Frau!

Engelbert! rief Gustav Wald aufspringend aus – das ist ein entsetzlicher Gedanke – ein verkehrter, sündiger, abscheulicher Gedanke …

O, ereifere dich nicht, Gustav, ich weiß sehr wohl, was ich sage: ich habe das Weib eines Andern zur Frau. Zwar – das kann ich von Agathen voraussetzen, davon bin ich fest überzeugt – zwar wird sie den Plan, der auf der letzten Seite dieser Erzählung angedeutet ist, ganz durchgeführt haben; sie wird sich haben scheiden lassen; aber was hilft das mir, dem Katholiken, für den es keine Scheidung gibt? Sie ist auf ewig für mich verloren … o mein Gott, Gustav, ich bin so unglücklich, so hoffnungslos unglücklich, daß ich wollte, ich läge im Schatten deiner Kirche da oben ellentief unter dem Rasen!

Aber um Gottes willen, Mensch, du schüttest da ein Sturzbad von Entsetzen mir über den Kopf, und du sagst nicht einmal, wie du zu dieser thörichten, aber schrecklichen Annahme kommst?

Engelbert hatte sein Gesicht auf das Polster des Sophas gedrückt. Erst nach einer Pause erhob er seine bleichen Züge wieder und antwortete:

Ich will dir sagen, wie es mir klar wurde! Es war eine Kette von kleinen Anzeichen, von Uebereinstimmungen und von an sich unscheinbaren Dingen, welche sich mir zusammenschlossen zu einem festen Beweise. Wie die junge Frau, welche die Heldin dieser Blätter ist, war Agathe in Ungarn, in Wien, in Paris gewesen; um diese drei Punkte drehten sich immer Agathens Gedanken und Erinnerungen, wenn wir uns zusammen unterhielten. Besonders Ungarns gedachte sie mit einer gewissen Schwärmerei, gerade so, wie die Paula in dem Tagebuch es thut.

Dann hatte sie eine auffallende Eigenschaft, welche mit Erlebnissen, wie die hier geschilderten, ebenfalls in merkwürdiger Harmonie stand; sie war nämlich selten zu bewegen, mit mir das Theater zu besuchen, sie schien ein inneres Widerstreben gegen dasselbe zu hegen; und seltsamerweise verrieth sie doch wieder auf der andern Seite eine ganz vertraute Bekanntschaft mit Allem, was zum Theater gehört, wenn zufällig die Rede darauf kam. Sie kannte alle möglichen ältern und neuern Stücke; sie war in den Mechanismus des Theaters eingeweiht, als hätte sie von Jugend auf von nichts Anderm gehört und vernommen. Die technischen Ausdrücke, die Kunstgriffe und die Zurüstungen, womit man die mancherlei Effecte hervorbringt, waren ihr so geläufig wie einem Requisitenmeister.

Wie du weißt, hat Agathe eine schöne Sopranstimme. Eines Tages bat ich sie, ihr Instrument zu öffnen und mir ein Lied zu singen.

Heute nicht! sagte sie. Auch für die nächsten Tage wird deine Lerche das Trillern einstellen müssen.

Und warum wird dieser lose kleine Vogel Etwas thun, was so sehr wider seine Natur ist?

Weil er Brustschmerzen hat und dann eine Zeit lang nicht singen darf.

Brustschmerzen? Du erschreckst mich, Agathe!

O, das ist nicht der Mühe werth! versetzte sie.

Und in der That, bemerkte ich, du siehst etwas blaß und angegriffen aus – leidest du?

Es ist nichts, gar nichts, lautete ihre Antwort; früher einmal habe ich ernstlicher an Seitenstechen und Brustbeschwerden gelitten; mein Vater wurde besorgt, weil er sagte, es sei ein Familienübel; er machte deshalb eine Reise mit mir in den Süden, an das schöne blaue Mittelländische Meer – da bin ich geheilt worden, und nur von Zeit zu Zeit erinnert mich bei einer Erkältung einmal ein vorübergehender Schmerz daran. Dann aber soll ich nicht singen in den nächsten Tagen: ich habe es meinem Vater versprechen müssen.

Und wo warst du im Süden? fuhr ich fort zu fragen.

Wo?

Kennst du das Land, wo die Citronen blüh'n,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glüh'n?

sang sie nun doch, indem sie schelmisch lachend mir einen leisen Streich auf die Wange versetzte.

Das ist aber doch Alles ein Indicienbeweis, der auf gewaltig schwachen Füßen steht, warf Gustav hier kopfschüttelnd seinem Bruder ein.

Allerdings, versetzte Engelbert; aber diese Indicien waren hinreichend, mir den unseligen Gedanken, daß Agathe und Paula eine und dieselbe Person sind, in die Seele zu werfen, als ich das Tagebuch las. Ich beschloß jetzt erst zu beobachten, zu forschen. Um es zu können, mußte ich zu Unwahrheiten meine Zuflucht nehmen, und that es noch an demselben Tage.

Unser Hoftheater, erzählte ich Agathe mit anscheinender größter Kaltblütigkeit, wird eine wesentliche Bereicherung erhalten. Ein Herr August und ein Fräulein Heliodora sollen engagirt sein, wie ich höre; er für Väterrollen und das Fräulein für Anstandsdamen.

Agathe blickte auf; ich sah ihren Zügen an, daß meine Nachricht ihr unangenehm war.

Also die Heliodora soll auf unserer Bühne den Anstand repräsentiren? sagte sie. In bessern Händen kann er sich nicht befinden.

Kennst du diesen August und das Fräulein? fragte ich.

Ich habe sie früher manchmal gesehen. Soviel ich mich erinnere, war er mir unausstehlich, und sie war damals – eine schlechte »Intrigantin«. Die Bereicherung unsers Theaters ist also keine große.

Ich schwieg, innerlich zu bewegt, um fortfahren zu können. Erst nach einer langen Pause erzählte ich ihr, indem ich mich von ihr abwandte und gleichgültig durch die Fensterscheiben zu blicken schien:

Ich habe am heutigen Morgen ein unangenehmes Geschäft zu erledigen gehabt. Eine junge Dame aus unserm Königreich ist hier im Gasthofe gestorben, und ich hatte ihren Nachlaß zu versiegeln. Sie kam aus Italien, wo sie sich lange ihrer Gesundheit wegen aufgehalten hatte. Sie hieß Sellenstein!

Sellenstein … die ist todt … ist hier gestorben? rief Agathe offenbar bewegt aus.

Kanntest du sie?

Nein, aber ich … hörte viel von ihr! versetzte Agathe, mir ausweichend.

Ich schwieg; ich hätte unmöglich noch ein Wort weiter sagen können, ohne meine furchtbare innere Bewegung zu verrathen. Ich entfernte mich nach einer kurzen Pause, um mit mir allein zu sein. Ich verließ das Haus, um mich ins Freie zu flüchten. Als ich nach einigen Stunden zurückkehrte, war Agathe nicht daheim, sie hatte, sagte ihr Mädchen, einen Brief geschrieben und ihn selbst auf die Post gebracht.

Mein lieber Engelbert, unterbrach Gustav Wald hier die Erzählung seines Bruders – das Alles lautet freilich sehr auffallend und verdächtig, aber es sind doch nur eben immer noch »Inzichten«, die wider Agathen sprechen, und wenn du nur mit einigem Nutzen dein Collegium über den peinlichen Proceß gehört hast, dann mußt du selbst, besser als ich, wissen, wie unzuverlässig und trügerisch solch ein auf Indicien gebauter Beweis ist!

Freilich weiß ich das – und glaubst du nicht, daß ich mir hundert mal dieses, sowie alles Andere vorsagte, was geeignet war, meinen entsetzlichen Argwohn niederzuschlagen? Glaubst du, daß Das, was ich dir eben mittheilte, mir genügt hätte, mich zu überzeugen? O nein, dazu sträubte sich mein Herz viel zu sehr dawider, und zu meiner Ueberzeugung reichte auch das nicht hin, daß nun die seltsamen Begegnungen, von denen ich dir vorhin erzählt habe, eine so hinlängliche und einleuchtende Erklärung bekamen; daß der freche Russe, dessen Betragen mich gereizt hatte, wahrscheinlich Agathe früher bei ihrer Mutter gesehen und wiedererkannt hatte; daß die Weißnäherin, an deren Vertraulichkeit gegen Agathe ich Anstoß genommen, von ihrer Theaterlaufbahn her vielleicht eine alte Bekannte der Mutter gewesen; daß jener unverschämte Franzose, der mir ins Gesicht log, Agathen ebenso wie der Russe, oder vielleicht bei ihrem Vater in Paris kennen gelernt haben mußte. Nein, über dieses Alles hinaus wollte ich eine volle Ueberzeugung, eine feste Gewißheit.

Und die hast du bekommen? fragte Gustav.

Ich habe sie bekommen. Ich sann lange hin und her, wie es zu bewerkstelligen sei. Ich konnte im Gespräche mit meiner Frau, wie zufällig, solcher Verhältnisse erwähnen, wie sie in jenen Blättern geschildert sind, und konnte sie dabei beobachten; aber es war nicht der Weg, zu einer raschen Ueberzeugung zu kommen, wie die peinvolle Lage, in der ich mich befand, es von mir verlangte. Ich traute mir auch nicht die nöthige Ruhe, die Selbstbeherrschung zu, um einen solchen Weg einschlagen zu können; ich vermochte es nicht, auf diese Weise sie zu überlisten, zu belauern. Endlich ergriff ich folgendes Auskunftsmittel. Ich hatte den Redacteur einer weitverbreiteten Zeitung, welche uns täglich gebracht wurde, kennen gelernt. An ihn wandte ich mich mit der Bitte, eine Anzeige, die ich ihm brachte, unter die Inserate, nicht seines Blattes überhaupt, sondern einzig und allein des Exemplars, welches von der Expedition mir ins Haus gesandt wurde, aufnehmen zu lassen; es sei ein verabredeter Scherz, es sei eine Mystification damit beabsichtigt, gab ich bei ihm vor, und deshalb wurde meine Bitte gern gewährt. Die Anzeige lautete ungefähr so:

»Frau Emma Gebhardi, früher Schauspielerin und Garderobiere am Theater zu P., wird inständig gebeten, ihre Adresse unter den Buchstaben E. A. 9. der Expedition dieses Blattes einsenden zu wollen, worauf die letztere ihr einen Gegenstand von bedeutendem Werthe für sie, der verloren geglaubt wurde, aber sich wiedergefunden hat und vom Finder bei der Expedition dieses Blattes deponirt ist, übersenden wird. Zugleich wird Jedermann, welcher den jetzigen Aufenthalt von Frau Gebhardi kennen sollte, höflichst ersucht, ihre Adresse unter den oben angegebenen Buchstaben der Expedition dieses Blattes mittheilen zu wollen.«

Das also war die Anzeige, welche ich ganz allein in Ein Exemplar der Zeitung aufnehmen und dann dieses Exemplar wie gewöhnlich am frühen Morgen mir ins Haus tragen ließ. Meine einzige Sorge war jetzt nur, daß Agathe die Anzeige nicht lesen würde, wenn sie das Blatt in die Hand nahm; denn nach Frauenart las sie zuerst die vermischten Nachrichten, dann das Feuilleton und die telegraphischen Depeschen – das Uebrige ließ sie sich von mir mittheilen. Ihr kaltblütig von jener Anzeige erzählen konnte ich nicht – meine Stimme hätte dabei gezittert, mein ganzes Wesen mich verrathen. Ich mußte mich damit begnügen, ihr das Blatt so auf den Frühstücktisch zu legen, daß ihr Auge auf die Anzeige fallen würde. Ich setzte mich ihr gegenüber und beobachtete ihre Blicke, wie sie über die großen enggedruckten Columnen glitten. Meine Kriegslist schien vergebens angewendet; sie nahm das Blatt und suchte arglos auf einer andern Seite die Theaterreferate im Feuilleton. Ich mußte irgend etwas vorbringen, um ihre Aufmerksamkeit auf die Anzeigen zu lenken.

Thu mir den Gefallen, Agathe, sagte ich deshalb, möglichst mich beherrschend, um kaltblütig zu erscheinen, – die Anzeigen zu überblicken, besonders jenen moralischen Theil des Blattes, wo der Redlichkeit schon ein irdischer Lohn verheißen wird, vorausgesetzt, daß sie einen entlaufenen Schooshund oder ein Portemonnaie mit einigen Kassenscheinen dem Eigenthümer zurückbringt.

Weshalb? fragte Agathe, ihre Augen auf die letzte Seite des Blattes zurücklenkend.

Ich habe gestern einen goldenen Uhrschlüssel gefunden, auf der Promenade.

Ich finde nichts Derartiges, antwortete Agathe lesend – nichts als heirathslustige Männer, welche bei der Wahl einer Lebensgefährtin weniger auf Bildung und graziöses Wesen als auf ein Vermögen von 8-10 000 Thalern sehen – Haushälterinnen, deren sämmtliche Tugenden nur ein mäßiges Salaire beanspruchen, und Kaufleute, die ein 40 Procent eintragendes Geschäft aufs edelmüthigste mit einem Compagnon theilen wollen, wenn er – – –

Nun, wenn er?

Agathe antwortete nicht; ihre Blicke waren auf meine Anzeige gefallen. Sie wechselte leicht die Farbe; ihre Miene sagte mir Alles!

Mit anscheinender Ruhe reichte sie mir sodann das Blatt hin.

Lies selbst, sagte sie; ich finde nichts.

Meine Hand zitterte, als ich das Blatt nahm; ich zwang mich, ruhig zu scheinen. Noch konnte ich ihr ja Unrecht thun. Noch hatte ich ja den letzten Beweis nicht in Händen. Aber auch der sollte mir früh genug werden; noch bevor die Morgenstunden verflossen waren, erhielt ich von meinem Bekannten, dem Redacteur, einen L. A. 9. gezeichneten Brief übersandt, der vor einer Weile auf der Expedition abgegeben worden. Als ich ihn erbrach, fand ich darin die Worte: »Die gewünschte Adresse ist: Frau Emma Gebhardi, Karlsstraße Nr. 116 zu M***.«

Diese Worte waren von der Hand Agathens geschrieben! Sie kannte natürlich die Adresse – ihrer Mutter! Und was ich beabsichtigt, war geschehen. Agathe hatte die Adresse eingesandt, ohne zu ahnen, daß sie damit mir den Schlüssel zu ihrem Geheimniß übersende!

Engelbert schwieg. Auch Gustav Wald blieb eine Weile stumm und in Gedanken versunken.

Und als du auf diese diplomatische Weise dir Licht verschafft hattest? fragte Gustav endlich.

Frage mich nicht nach Dem, was ich begann in den ersten Stunden nach dieser Entdeckung. Ich mag nicht daran denken; wozu auch sollte ich dir schildern, was in mir vorging? Es litt mich nicht mehr in ihrer Nähe. Wie ein verlorener Mensch irrte ich umher. Ich verwünschte die Stunde, in welcher ich geboren war, um einen solchen entsetzlichen Schmerz zu erleben. Ja, ich hatte zuweilen Mühe, mich aufrecht zu erhalten wider Versuchungen düsterster Art, die mir zuflüsterten, mein fieberndes Gehirn, meine pochenden Schläfe zu kühlen in der Tiefe irgend eines Gewässers. Ich fühlte, daß ich etwas thun, einen Entschluß fassen müsse, um mich zu retten. Aber was sollte ich thun? Ich dachte an dich. Ich machte mich auf und – kam hierher!

Und diesen Entschluß faßtest du, bevor du offen mit Agathe geredet?

Wozu? Was sollte ich lange mit ihr reden? Was hätte sie mir sagen können? Weshalb zu meinem Schmerz noch eine schreckliche herzzerreißende Scene fügen, die mir mein ganzes Elend erst recht zum Bewußtsein gebracht hätte? Agathe und ich sind geschieden für immer. Die Zeit offener und rückhaltsloser Unterredungen ist für uns vorüber. Aufklärungen brauche ich nicht mehr – es liegt Alles – Alles nur zu klar vor meinen Augen! Agathe hat den Entschluß ausgeführt, von dem die letzte Seite dieses Tagebuchs hier redet; ihr schlesischer Graf hat die Probe nicht bestanden, auf welche sie ihn stellen wollte; sie hat sich von ihm scheiden lassen; später dann, von einer Neigung zu mir erfaßt, ist sie der Versuchung erlegen, mir eine Vergangenheit zu verschweigen, welche auf ewig zwischen ihr und mir, dem Katholiken, eine unübersteigliche Scheidewand errichten mußte.

Und trotz des entsetzlichen Leides, das sie mir jetzt dadurch angethan hat, kann ich sie ja nicht einmal wegen einer solchen Handlungsweise verdammen. Sie hält ja Das, was mich von ihr trennt, für eine irrige Lehre unsers Bekenntnisses, für ein Vorurtheil, einen Aberglauben – sie hält einen solchen Bund für erlaubt …

Gustav Wald unterbrach hier seinen Bruder, indem er kopfschüttelnd lebhaft ausrief:

Ich würde sie aber wegen ihres Handelns entschieden für strafbar halten, und weil ich sie verdammen müßte, deshalb glaube ich an deine ganze Geschichte nicht!

Wie, du glaubst nicht …

Ich glaube nicht, daß Agathe so handeln könnte, ich bin überzeugt, daß sie es nicht könnte, nein, nun und nimmermehr – ich möchte meine Seele zum Pfande setzen, daß es nicht so ist – Engelbert, ermanne dich und beherrsche die entsetzliche Leidenschaft, von der ich zu meiner tiefen Trauer dich unterjocht sehe; bete zu Gott, daß er dein Inneres erleuchte, und dann frage dich, denke, grüble und prüfe, ob dieses ganze Verhältniß nicht eine ganz andere Deutung erhalten könne!

Eine andere Deutung! fuhr Engelbert auf – o, dann erkläre mir, wozu Agathe diese ganze rätselhafte, unerhörte, nie zwischen Mann und Frau vorgekommene, nie dagewesene Verschwiegenheit über ihre Vergangenheit nöthig hatte!

Gustav Wald war in die Mitte des Zimmers getreten; er stand, die Arme untergeschlagen, die Augen auf seinen Bruder mit dem Ausdruck des wehmüthigsten Mitleids gerichtet. Aber nicht blos der Ausdruck des Mitleids lag in diesen edeln, männlichen, jetzt mehr als gewöhnlich bleichen Zügen. Es war, als ob sie etwas von einem innern Kampfe verriethen, oder nicht eigentlich von einem Kampfe mehr, sondern von einem schmerzlichen innern Ueberwinden, das gegen den Preis einer blutenden Herzenswunde errungen werden mußte.

Nun, wiederholte Engelbert, bitter auflachend – erkläre mir das, und ich will deinen leeren, inhaltslosen Trostsprüchen glauben!

Das kann ich nicht – ich kann es nicht erklären, antwortete Gustav Wald; und wenn Engelbert auch noch außer für sein Unglück Sinne, wenn er Aufmerksamkeit für seinen Bruder gehabt hätte, so hätte er wahrnehmen können, daß bei jenen Worten die Wimpern Gustav Wald's ein feuchtes Schimmern annahmen.

Aber einen Rath kann ich dir geben, fuhr Gustav nach einer Pause fort.

Der ist?

Festiglich auf Gott zu vertrauen, dein Herz zur Ruhe zu zwingen, wie ein Mann, der seinem Herzen muß gebieten können.

Das ist leicht gesagt, gebiete deinem Herzen, wenn man wie du nie dem seinen zu gebieten gebraucht hat, antwortete Engelbert tonlos.

Es war ein eigenthümliches schmerzliches Lächeln, das bei diesen Worten Engelbert's um die Lippen seines Bruders zuckte, ein eigenthümlicher Blick, der auf die blassen, in dem grünumschirmten Lampenlichte doppelt abgehärmt aussehenden Züge des jungen Mannes niederleuchtete. Es war, als ob der Schmerz so gut seine Hierarchie hätte wie die Würde, und als ob das Bewußtsein dessen von der Stirn des Pfarrers hoch hinabblickte auf den Schmerz des jüngern Bruders.

Nimm, fuhr dann Gustav Wald fort, zu Hülfe, was dir Hülfe gewähren kann, um nur über die nächsten Tage hinwegzukommen. Bete, arbeite, betäube dich – trage dein Leid in Demuth und sage dir, daß du selbst einen Theil davon verschuldet hast; nimm es in Demuth als eine Strafe hin …

Und was hätte ich verschuldet?

Was ich unterdessen sogleich gut zu machen eilen werde – du hast nicht offen mit Agathe geredet – ich werde ihr schreiben!

Dann wirst du, wenn sie dir antwortet, ihr Geständniß Schwarz auf Weiß bekommen, versetzte Engelbert achselzuckend – was ist damit gewonnen?

Vielleicht werde ich das, vielleicht aber auch Eröffnungen, Erklärungen erhalten. O mein Gott, wie lassen sich alle Verhältnisse in der Welt überschauen und vorher denken – welchen wunderbaren Wendungen sind die Schicksale der Menschen nicht unterworfen! Wie thöricht ist es, ohne Untersuchung eine Sache als festgestellt zu betrachten und sich nun der Verzweiflung über sie hinzugeben!

Thu, was du willst, was deine thörichten Hoffnungen dir zu thun rathen, antwortete Engelbert; aber glaube nicht, daß du mich verführen werdest, einen trügerischen Trost daraus zu entnehmen und mich dann nach dem Verlauf weniger Tage, wenn die Täuschungen zerrinnen, doppelt unglücklich zu fühlen.

Nun, dann – dann suche dir einen andern Trost, sagte Gustav Wald, und seine Stimme zitterte merklich, wie er sprach und seinem Bruder aufgeregt die Rechte hinstreckte – du weißt, was du mir bist, Engelbert – du weißt, wie sehr dein Schmerz immer der meine ist – aber du siehst, daß dein Unglück mich dennoch gefaßt und aufrecht dastehen läßt; o, ich wollte, du sähest das, du schöpftest Fassung aus meiner Fassung – o mein Gott … was rede ich! –

Gustav wandte sich ab und schritt rasch im Zimmer auf und nieder; Engelbert wurde von seinem ganzen Benehmen einen Augenblick lang frappirt, aber er wandte seine Augen bald wieder von ihm ab und versank in eine Art apathischen Brütens.

Die Brüder trennten sich endlich. Engelbert versprach auf das Zureden des Pfarrers, daß er sich zur Ruhe begeben wolle. Gustav begleitete ihn in seine Schlafkammer, und nachdem er ihm gute Nacht gesagt, kehrte er in sein Wohnzimmer zurück. Er ging hier lange sinnend, das Haupt zur Erde gebeugt, auf und ab; seine Lippen murmelten von Zeit zu Zeit leise Worte; dann richtete Gustav Wald sich auf – er schien zu einem Entschlusse gekommen und jetzt eine Last von seinen kräftigen Schultern wie fortschütteln zu wollen; und nun trug er die Lampe auf seinen Schreibtisch und setzte sich hin, um an Agathe zu schreiben.

Er war etwa zur Hälfte fertig, als er die Hausthür aufgehen und den Schritt eines Fremden draußen auf der Hausflur vernahm. In der Sorge, daß irgend ein Kranker noch so spät ihn verlange und er den Brief werde unvollendet liegen lassen müssen, horchte er auf. Hannah wechselte draußen ein paar Worte mit dem Fremden; dann kam sie rasch herbeigeschlürft und trat in des Pfarrers Zimmer.

Was ist's, Hannah? Werde ich zu einem Kranken gerufen?

Es wird noch ein Brief gebracht, antwortete die Haushälterin; der Niklas ist heute Abend drüben gewesen, und wie er am Postbureau vorübergegangen ist, da hat der Schreiber in der Thür gestanden und hat ihn herbeigewinkt, es sei ein Brief da, worauf »Eilig« geschrieben stehe, drum möcht' er den Brief für den Herrn Pfarrer noch heute Abend mitnehmen.

Gustav Wald hatte den Brief bereits genommen, während Hannah noch sprach. Es war ein großes Siegel mit einem königlichen Wappen darauf; der Pfarrer erbrach ihn hastig und las die folgende Mittheilung:

»Hochwürdiger Herr!

Eben im Begriff, eine Reise auf meine Güter anzutreten, wo meine Anwesenheit dringend nöthig ist, sehe ich mich in meiner Absicht durch das plötzliche und unerklärliche Verschwinden Ihres Herrn Bruders, der während meiner Abwesenheit die laufenden Geschäfte zu erledigen hat, behindert. Da auch Frau Wald ebenso plötzlich, und ohne das Ziel ihrer Reise anzugeben, gestern von hier abgereist ist, bin ich gezwungen, Ew. Hochwürden um die gefällige Angabe zu bitten, ob Ihnen das Reiseziel, respective der jetzige Aufenthalt Ihres Herrn Bruders bekannt ist, wie ich Ihnen denn auch äußerst verpflichtet sein würde, wenn Sie im Stande sein sollten, durch eine gütige Mittheilung mich über das befremdende Benehmen Ihres Bruders aufzuklären.

Ich bin u. s. w.

Baron R.,
Geheimer Legationsrath und bevollmächtigter
Minister am königlich ***schen Hofe.«

O mein Gott! sagte Gustav Wald erschrocken – Agathe ist abgereist – und wo nun sie finden? Das ist entsetzlich. Sie ist abgereist, sie ist fort – und wie lange kann es währen, bis sie gefunden ist! Engelbert bleibt bis dahin unter der Wucht seines ganzen Schmerzes: ich muß ihn hier in seinem Kummer, in seinem herzzerreißenden Jammer vor mir verkommen sehen – und kann und darf ihm nicht helfen! Herr im Himmel, du legst mir eine schwere Prüfung auf! – Pein ohne Gleichen! Ein Wort von meinen Lippen – und all sein Gram wäre verscheucht; ein Wort von mir, und er fiele mir jubelnd um den Hals; ich hätte ihm das Leben neu geschenkt, sein schmerzdurchfurchtes Antlitz leuchtete auf in heller Freude, er eilte, die Verlassene zu suchen, zwei Menschenleben wären dem Glücke wiedergeschenkt … o Gott, das Alles, Alles könnte ein einziges Wort von mir bewirken! Aber ein Siegel liegt auf meinen Lippen – ich darf es nicht aussprechen, dieses Wort, und sähe ich meinen einzigen Bruder, mein Alles, was ich habe, besitze, liebe auf dieser Welt, zu meinen Füßen vor Schmerz vergehen!

Der Pfarrer rang die Hände, während er diese Worte für sich hin sprach; seine Brust hob sich unter ihrer Last.

Weiche von mir, Dämon, der mir zuflüstert: Sei kein Sklave des Buchstabens – der Buchstabe tödtet, tödte nicht auch du mit dem Buchstaben – nein, nein, weiche von hinnen – ich will dich nicht hören – ich will nichts Anderes hören, nichts Anderes denken, nichts Anderes sehen als meine Pflicht, meine heilige – schwere Pflicht! Gott wird uns beistehen – ihm und mir, und …

Gustav Wald sprang plötzlich auf, und seine gefalteten Hände erhebend, rief er emporblickend aus:

Wahrhaftig, seine Hand ist ja schützend über uns; o ich blinder Thor, dem dies nicht alsogleich sich zeigte! Unsere einzige Rettung ist jetzt Agathens Mutter – sie wird wissen, wo ihre Tochter ist, sein kann, sie muß den Schleier lüften – und gerade Das, was Engelbert ersonnen, um Agathen eine Schlinge zu legen, mußte dahin führen, den Aufenthaltsort dieser Frau ihm zu offenbaren, ihre Adresse ihm zu verschaffen! Seltsame, wahrhaft wunderbare Fügung!

Und nun auf! Ich will mich selbst aufmachen! Wer mag sich auf Briefe verlassen! Bis der Sonntag mich hier verlangt, kann ich zurück sein; aber mit dem ersten Schiffe, das der Morgen bringt, muß ich reisen. Also ans Werk – augenblicklich gerüstet!

Gustav Wald eilte hinaus und gab Hannah, die noch in der Küche beschäftigt war, mit bewegter Stimme den allerüberraschendsten Befehl, den sie je aus dem Munde ihres Hausherrn vernommen.

Packen, einpacken, Hannah, meine Kleider, meine Wäsche, noch heute Abend muß Alles in Ordnung sein, morgen mit dem Frühesten muß ich fort!

Fort! jetzt, wo der Herr Bruder eben gekommen ist – fort? Und wohin denn, Herr Pastor?

Gustav Wald sah sie ernst lächelnd an.

Was würdest du sagen, dachte er, wenn ich dir gestände, daß dein ehrwürdiger Hausherr in solcher Reisehast und solchem Eifer ist, um sich in das Gewühl einer großen Stadt zu stürzen und dort – eine Schauspielerin aufzusuchen!

Wohin? wiederholte Hannah.

Hannah, das ist ein Beichtgeheimniß!

Als Engelbert am andern Morgen in das Wohnzimmer seines Bruders herunterkam, fand er neben der Frühstücktasse ein Billet mit folgenden Worten liegen:

»Bleibe hier, bis ich zurückkehre; ich kehre nicht ohne Trost! Denk an das:

Et hoc olim meminisse juvabit.

Dein Bruder Gustav.

Nachschrift. Schreibe augenblicklich an deinen Gesandten, ich bitte dich darum! Du siehst aus dem Briefe desselben, wie nöthig es ist!«

Neben dem Billet fand Engelbert den Brief des Barons R. Die Nachricht, daß Agathe plötzlich abgereist sei, bewegte ihn eigenthümlich. Er sagte sich, es sei am besten so, er nannte es ein Glück, daß sie in die unvermeidliche Trennung, wie dieser Schritt zeige, so entschlossen und rasch sich selbst gefügt habe – in tiefster Seele aber war die Nachricht ihm etwas unendlich Schmerzliches, als ob nun für immer und unwiderruflich sein Lebensglück zu Ende!

Er verargte zudem seinem Bruder, daß dieser ihn in der traurigsten Stunde seines Lebens verlassen hatte, um Hoffnungen zu verfolgen, welche Engelbert so ganz und gar nicht zu theilen vermochte. Es war eine schwere Aufgabe für ihn, so ganz allein und auf sich gewiesen die nächsten Tage in der einsamen Pfarrei zuzubringen! Aber was war zu thun? Er mußte sich in Geduld ergeben, und bevor er irgend einen Entschluß faßte, wollte er ausharren und auf seines Bruders Rückkehr warten.



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