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Seitdem Engelbert diesen Ruf der Sorge und des Schmerzes ausgestoßen hatte, mochten acht bis zehn Tage verflossen sein. Die Reben am Rhein, deren Blüte den Liebesfrühling in Engelbert's und Agathens Herzen durchduftet hatte, trugen jetzt volle, von der Herbstsonne angeglühte Trauben zwischen rothen und gelben Blättern. Gelbe und rothe Blätter lagen auch bereits nach jeder Nacht über die Pfade des kleinen Pfarrhausgartens gestreut; die Abende waren kühl und eine scharfe Luft zog eisig, sobald die Nacht sich nahte, durch das Seitenflußthal, in welchem unser malerisches Dorf sich eingenistet hatte. Der Pfarrer stand nicht mehr so oft wie früher in dem Ausschnitt der Veranda vor seinem Studirzimmer; aber wenn ein schöner sonniger Tag ihn dahin führte, dann erblickte sein Auge mit doppelter Schärfe und Klarheit die Laubbüschel auf den fernen Bäumen, die Schieferlagen an den gegenüberstehenden Bergwänden und die einzelnen Mauerstücke an der zertrümmerten Burg oben in der Höhe über ihm; doppelt so laut schlug der Klang der plätschernden Ruder an sein Ohr, welche unten auf dem Strome die leichten Nachen hinüber- und herüberbewegten; und wenn die Dampfschiffe dahergebraust kamen, dann war es ein Rauschen und Schäumen, daß man glauben mußte, man stehe selbst auf dem Radkasten – so rein, hell und durchsichtig war die Luft geworden.
Beim schönsten Wetter bereitete man sich zur Lese vor; mit heiterm Muthe, denn das Jahr war so ergiebig gewesen, wie man sich am Rhein bereits ganz abgewöhnt hat, es noch zu hoffen und zu erwarten. Gustav Wald hatte Hannah mit einem hülfreichen Geiste, der ihr in Gestalt eines Buben von funfzehn Jahren zur Hand zu gehen pflegte, in seinen eigenen Weinberg geschickt, um darin die Lese zu beginnen; auch in andern Weinbergen war man bereits beschäftigt, und auf den Halden schimmerten die weißen Kopftücher der Winzerinnen durch's Grün.
Gustav Wald verließ sein einsames stilles Haus, um seinen Nachmittagsspaziergang zu machen. Auf sein spanisches Rohr gestützt, stieg er in das Thal hinab und richtete, als er über das trockene Bett des Bachs gekommen, seine Schritte dem steilen Pfade zu, der jenseits zur Burgruine hinaufführte; das Dorf schien wie ausgestorben; nur hier und da vor den Thüren der Hütten wälzte sich eine kleine Heerde blondköpfiger Jungen und Mädchen im Sande, die, zum Hüten der Häuser daheim gelassen, sich zwischen Hühnern und kleinen Ferkeln mit ganz gleichartigem Geschmack derselben Art von Vergnügung, an dem trockenen und staubigen Busen der lieben Mutter Erde, hingaben. Wenn sie den Pfarrer erblickten, rafften sie sich lachend und schreiend auf und liefen, über eine gackernde Henne oder ein umgefallenes und weinendes Familienmitglied von zartestem Alter stolpernd, herbei, um dem geistlichen Herrn die Obedienz durch Kußhand und Knix zu machen.
Gustav Wald hatte sich endlich diesen Ehrenbezeigungen entzogen und die letzten Häuser des Dorfes hinter sich. Der Pfad, den er langsam erstieg, machte eine Wendung durch Gebüsch und führte dann auf einen Bergvorsprung, wo eine Bank angebracht war, welche unter einem Crucifix zum Ruhen einlud und zugleich einen freien und schönen Ueberblick über die Mauermassen und Steinprofile der Burg gewährte, die jetzt nahe und imposant vor dem Wanderer emporstieg. Der Pfarrer setzte sich zum Ausruhen auf diese Bank. Im Schatten des großen Christusbildes, vor sich die merkwürdigen und malerischen Ruinen einer großen Vergangenheit, rings um sich her die unbeschreiblich schönen, vom Abendsonnenlicht überfluteten Scenerien der Natur, die in ihrem herbstlich bunten Schmucke nur desto zauberischer die Blicke und alle Regungen des Gemüths fesselte, fühlte Gustav sich recht eigentlich wunderbar bewegt und in Gedanken gewiegt. Natur – Religion – Geschichte – sie traten alle drei an diesem einsamen Orte gleich nah an ihn heran; sie standen vor dem träumerischen und contemplativen Geiste Gustav Wald's wie das heilige Dreieck, durch welches das Auge Gottes blickt.
Aber das Gemüth des Pfarrers war nicht mehr frei und unabhängig in seinem Denken, wie es einst gewesen; es hatte sich gewöhnt, immer wieder nach einer bestimmten Richtung hin seinen Flug zu wenden. Seine Gedanken waren wie ein Flug losgelassener Tauben, die in weiten Kreisen durch die Lüfte ziehen und dann plötzlich eine Wendung nehmen, immer dieselbe Wendung, zum schützenden heimatlichen Dach. So konnten auch Gustav Wald's Gedanken kühn und frei durch die höchsten Aetherlüfte der Speculation schwimmen; aber nicht lange währte es, und sie waren auf dem alten Wege; sie suchten eine bestimmte Anwendung auf ein individuelles Schicksal auf; sie verlangten gemessen und nach ihrem Werthe geschätzt zu werden, je nachdem sie paßten oder nicht paßten zu den Verhältnissen, der Lage, dem Charakter Engelbert's!
Die Liebe zu dem Bruder hatte dem Gemüthe des Pfarrers etwas von der Eigenschaft der weiblichen Natur gegeben; sie verführte ihn, das Allgemeine und Abstracte nur durch das Medium persönlicher Gefühle, der Theilnahme an einem persönlichen Schicksal zu erblicken.
Wie mag es ihm gehen, diesem übermüthigen, verwöhnten Menschen? sagte er sich auch heute wieder. Anfangs waren seine Briefe voll Jubels über sein junges Eheglück; jetzt erhalte ich seit Wochen, seit Monaten keine Zeile mehr von ihm. Er wird mich eben vergessen haben über aller seiner Glückseligkeit. Seltsam, wie ein solcher besonnener, ruhiger, still urtheilender Mensch sich plötzlich kopfüber in ein Wagniß stürzen kann, ohne daß es ihm mehr schadet als dem Betrunkenen, der in einen Abgrund stürzt: während es Einem graust und schwindelt, klettert er lachend wieder daraus empor! Es ist, als müßten wir Alle einmal im Leben dem Leichtsinn seinen Tribut zahlen, oder als sollte unserer hochweisen Vernunft eine Lehre gegeben werden, daß sie sehr Unrecht hat, mit übermüthigem Naserümpfen auf die Unvernunft herabzublicken. Ja wahrhaftig, die Vernunft ist eine jener falschen Gottheiten, die der Mensch sich selbst macht, um sie anzubeten, und die der Herr im ersten Gebote verpönt hat. Vernunft! Nichts predigt sie – wohin man auch auf dieser Erde schauen mag. Weder predigt, was mich hier umgibt, die Natur, Vernunft – sie hat rückhaltlos sich dem Fatalismus in die Arme geworfen, und, wahrhaftig, sie steht sich wohl dabei! Wem der Anblick alles des klugen, vernunftregierten Menschenwesens das Herz schwer macht, der hat zuletzt ja kein anderes Mittel, sich zu trösten, als in die unvernünftige Natur hinaus zu flüchten, die in ihrer Schönheit prangt und gedeiht und in lustiger Gedankenlosigkeit ins Blaue hinein wächst und wuchert. Noch predigt Vernunft, was dort vor mir sich erhebt, jener zertrümmerte Bau der Geschichte – wie viel Klugheit, politische Durchtriebenheit und Ueberlegung hat dazu gehört, ein Geschlecht zu gründen, das sich ein solches herrschsüchtiges Gehäuse aufbauen konnte! Und wie liegt es gebrochen da, zerrissen und zertrümmert, ein Spott der Wetter, die Stein nach Stein zerbröckeln! Wahrhaftig, man könnte sich verlocken lassen, zu sagen: nicht die Vernunft, nein, das Höchste ist der Wahnsinn; der heilige Wahnsinn des Feuereifers, der dem Tode trotzt um einer Wahrheit willen, welche die Welt gar nicht geschenkt haben, gar nicht anhören will; der heilige Wahnsinn des Dichters, der auf das Leben verzichtet, um Träumen und Schatten nachzujagen; der heilige Wahnsinn der Natur, die rastlos Tausende von Sonnen und Sternenwelten uns über das Haupt fortschleudert in unaufhörlichem Kreislauf durch die Unendlichkeit, ohne daß nur eine Menschenseele ahnen kann, wozu! Und doch sind Apostel, Dichter, Sternenwelt die erhabensten Erscheinungen, welche wir kennen! –
Gustav Wald hatte in Gedanken dieser Art verloren eine geraume Zeit dagesessen, und da die Sonne hinter dem Bergrücken am westlichen Horizont niederzusinken begann, stand er jetzt rasch auf, um seinen Spaziergang fortzusetzen. Es war eigentlich bereits zu spät geworden, die Höhe zu erreichen, wenn er vor Einbrechen der Nacht wieder daheim sein wollte. Und doch lockte ihn die Burg da oben hinauf; denn die sinkende Sonne hüllte, während das Thal unten bereits in tiefem Schatten lag, die Thürme und Zinnen in ein eigenthümlich rosiges und magisches Licht, das anzog und reizte wie Poesie.
Gustav Wald zog seine bescheidene silberne Uhr, um mit sich zu Rache zu gehen; aber seine Blicke wurden von dem Zifferblatte abgezogen durch das Rauschen eines Dampfbootes, welches mit dem blauen Wimpel am halben Maste plötzlich um den Bergvorsprung her den Strom herunter gebraust kam und bald darauf seine Schaufelräder anhielt. Ein Kahn hatte sich auf das Signal hin genähert und legte sich bald hernach an die Schiffstreppe; ein Reisender verließ das Verdeck und stieg ins Boot, und dieser Reisende – Gustav Wald's Herz begann rascher zu schlagen, obwol er seiner Sache keineswegs sicher war – dieser Reisende hatte in Haltung und Gestalt Etwas, was dem Pfarrer eingab, es könne, es müsse Engelbert sein. Es war jedenfalls genug, um ihn die weitere Wanderung aufgeben und schnellen Schrittes und bewegt den Rückweg antreten zu lassen.
Den Abhang hinunter zu schreiten, bedurfte es kurzer Zeit. Gustav Wald war, ehe zehn Minuten verflossen, an dem kleinen Gitter vor seinem Garten. Hinüberblickend sah er vor der verschlossenen Hausthür einen Mann auf einem Reisekoffer sitzen; der Fremde zeichnete gebückt Figuren in den Sand und schien still zu harren, bis Jemand komme, ihm zu öffnen. Jetzt erhob er, bei den nahenden Schritten des Pfarrers, das Gesicht, und in der That, es war Niemand anders als Engelbert selbst!
Engelbert! rief Wald laut und freudig aus. – Unverhoffter Gast! Woher des Weges?
Engelbert schien die Aufregung des Bruders nicht zu theilen. Es lag eine kalte Ruhe in dem Tone, mit welchem er ein: Guten Abend, Gustav – sprach, während er dem Bruder die Hand hinstreckte.
Und du hast hier auf einem Koffer vor der verschlossenen Thür hocken müssen – armer Schelm – wart, wart, ich habe den Schlüssel, Hannah ist im Weingarten, und ich war auf meinem Nachmittagspaziergange, als ich das Boot vom Dampfschiffe abstoßen sah – ich hatte eine Ahnung, daß es Niemand anders sei, als mein diplomatischer Herr Bruder, dem sein ganzes Eheglück jetzt so theuer geworden scheint, daß er Tinte und Feder und geschriebenen Noten nichts mehr davon anvertraut, aber hoffentlich desto mehr jetzt in mündlichen Communicationen davon seinem alten Alliirten mittheilen wird. – In der That, du hast mich unverantwortlich lange nichts von dir hören lassen …
Gustav Wald unterbrach sich hier, indem er mit einem kräftigen Ruck den Koffer Engelbert's über die Schwelle schleifte und in den Hausflur zog. Dann öffnete er die Thür zu seinem Wohnzimmer, ließ seinen Bruder eintreten, versicherte, daß Hannah im nächsten Augenblicke zurück sein müsse und ihm Erfrischungen herbeischaffen werde, und eilte unruhig geschäftig umher, um selbst zu sehen, was er in Küche und Keller finde, und um für Beleuchtungsanstalten zu sorgen, da es in seinem, von der Veranda draußen beschatteten Zimmer schon sehr dunkel war.
Engelbert war währenddessen sehr einsilbig; er stand mit dem Rücken an eins der Fenster gelehnt, und über alle die Dinge, von denen Gustav sprach, daß er sie suchen und zur Erfrischung oder Bequemlichkeit seines Bruders herbeischaffen wolle, äußerte er nichts; weder daß er etwas wolle, noch auch ein Wort, um seinen Bruder abzuhalten, sich so viele Mühe zu machen. Es war, als ob es ihm lieb sei, daß Gustav durch seine Unruhe verhindert wurde, sich gleich mit ihm selbst zu beschäftigen.
Endlich hatte der Pfarrer Allerlei zusammengeschleppt, Dinge, von denen er gewiß war, daß bei ihrem Anblick Hannah die Hände über dem Kopfe zusammenschlagen würde; denn das Brot gehörte sicherlich zu dem, das erst in der folgenden Woche angeschnitten werden sollte, die Butter sicherlich zu der, welche nicht zum Essen, sondern zum Kochen hingestellt war, und die Schnitte kalten Fleisches waren ganz gewiß bestimmt, die Grundlagen des morgenden Diners in Gestalt eines Ragouts zu bilden, während zu einem Imbiß roher Schinken in Fülle vorhanden war. Aber Gustav Wald kümmerte sich in seiner Freude sehr wenig um ökonomische Unterscheidungen so subtiler Art und Hannah's auf einige Tage hinaus über den Haufen geworfene Hausordnung. Vergnügt setzte er sich endlich in das Sopha.
Nun setz dich her und iß und trink!
Ich danke dir, Gustav.
Wie, du willst nichts zu dir nehmen?
Ich habe auf dem Dampfboot gegessen.
Nun, so trink!
Engelbert machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.
Aber – sagte Gustav Wald mit einer Art naiven Erstaunens – wenn du weder einen Bissen essen, noch einen Tropfen trinken willst – weshalb hast du mich denn Alles herbeischleppen lassen? Du bist doch ein merkwürdiger Egoist!
Nein, Gustav, das bin ich nicht! antwortete Engelbert mit einem eigenthümlichen Tone von stillem Ernst, der Gustav Wald an seinem Bruder etwas so Neues war, daß der Pfarrer den Schirm von der vor ihm stehenden, eben erst entzündeten Lampe zurückschlug, damit sie Engelbert's Gesicht beleuchte.
Was ist dir, mein Junge? fragte er dann erschrocken. Bist du krank? Du siehst nicht aus, wie du solltest!
Nein, ich bin ebenso wenig krank wie ein Egoist, antwortete Engelbert; laß den Lampenschirm nieder und starre mich nicht so an.
Gustav Wald that, wie sein Bruder verlangte; die Hand, welche er ausstreckte, um den Schirm niederzulegen, war zitternd bewegt.
Du hast einen großen Schmerz erlitten, Engelbert, sagte er nach einer stummen Pause. Willst du ihn mir nicht anvertrauen?
Dazu allein bin ich gekommen! versetzte Engelbert; aber ohne fortzufahren, begann er langsam in dem kleinen Gemache auf- und abzuschreiten. Gustav Wald folgte mit den großen blauen Augen jeder Bewegung des Bruders; jede Fiber seines Gesichts war in Spannung; aber er wartete stumm, bis Engelbert selbst den Mund öffnen würde, um ihm seinen Kummer mitzutheilen.
Dieser warf sich endlich neben ihn auf das Sopha; er stützte den Arm auf die Lehne und verbarg sein Gesicht mit der Hand.
Die Hausthür wurde geöffnet.
Da ist Hannah, sagte der Pfarrer; ich will gehen und ihr die nöthigen Anweisungen zu deiner Einquartierung geben; nachher sind wir ungestört.
Er ging hinaus. Als er nach zehn Minuten zurückkehrte, fand er seinen Bruder in derselben Stellung.
Willst du jetzt reden, Engelbert? Ich habe Hannah gesagt, daß sie uns in Ruhe läßt.
Wenn du mich nicht wieder einen Egoisten nennst, weil ich dich in einen Schmerz, in ein Unglück einweihe, an dem du doch nichts bessern kannst! Denn um ein unrettbares Unglück, einen Schmerz, für den es keine Heilung gibt, handelt es sich – Gustav, ich bin der unglücklichste Mensch auf Erden!
Gustav Wald gehörte nicht zu den Menschen, die ihr Gefühl durch lebhafte äußere Zeichen und Geberden an den Tag legen. Er schloß seinen Bruder nicht an sein Herz, er zeigte ihm kein feuchtes Auge, aber unwillkürlich hob sich seine Rechte und streckte sich nach dem Bruder hin und legte sich schwer und warm auf dessen Schulter, während seine Augen an Engelbert's Munde hingen.
Ich will dir Alles der Reihe nach erzählen, hob dieser nach einer Pause an; und dann begann er ausführlich Gustav alles Das zu berichten, was zuerst nach und nach in seine Seele Sorge, Beklommenheit und endlich unerträgliche Spannung geworfen.
Gustav unterbrach ihn erst da, als Engelbert ihm auseinandersetzte, weshalb er es für das beste Mittel gehalten, Agathens Vertrauen zu erwecken, wenn er den Anschein annehme, daß er gar nicht nach diesem Vertrauen geize.
Das mochte dir allerdings der beste Weg, zum Frieden zu kommen, scheinen, sagte Gustav Wald nachdenklich. Und doch war es ein falscher Weg!
Und weshalb?
Weil deine Zärtlichkeit für Agathe sie in dem Glauben erhalten mußte, es sei gar nicht nöthig, dir Enthüllungen zu machen, du seiest auch ohne diese an ihrer Seite glücklich. Hättest du ihr Kälte und Kummer gezeigt, so hätte sie dir Alles offen gestanden, um deinen Kummer zu heilen und dein Herz wieder an sich zu fesseln – davon bin ich überzeugt, Engelbert.
Gustav Wald sprach diese Worte mit einer eigenthümlichen Bestimmtheit aus. Aber Engelbert entging dieser Ton von Zuversicht in den Worten seines Bruders.
Du irrst, Gustav, sagte er; sie konnte mir nichts gestehen – es war nicht möglich, daß sie es mir gestand. O, alles Das, was sie wie in übermüthigem Scherz, wie im bloßen Muthwillen ihres Witzes hier in den ersten Tagen, nachdem ich sie gefunden, vorbrachte, um meinen Fragen nach ihren Verhältnissen auszuweichen – es war die schlaueste, überlegteste Berechnung – o mein Gott, es ist entsetzlich, wohin sie mich gebracht hat!
Engelbert bedeckte wieder sein Gesicht mit der Hand und schwieg eine Weile.
Dann erzählte er die Scene mit der Weißnäherin und den Schritt, den er bei ihr gethan.
Und wer war denn eigentlich diese Weißnäherin? fragte der Pfarrer. War sie immer Arbeiterin, immer in deinem jetzigen Wohnort ansässig gewesen?
Nein, antwortete Engelbert. Sie war eine ehemalige Tänzerin; sie hatte auf mehren Theatern im Corps de ballet gedient; sie war endlich genöthigt gewesen, diesem elastischen Berufe zu entsagen, weil sie bei einem verunglückten Pas gestürzt war, sich ein Leids angethan hatte und nun nicht mehr kunstgerecht pirouettiren konnte, wie früher. Das hörte ich, als ich einem Aufwärter den Auftrag gegeben, sich nach ihr zu erkundigen, und obendrein, daß sie den schlechtesten Ruf habe.
Engelbert schwieg. Sein Bruder stand auf und ging eine Weile nachdenklich und unruhig im Zimmer umher, die Arme untergeschlagen und sich bald mit dem Rücken an die Fensterbrüstung, bald an irgend ein Möbel lehnend. Engelbert's Erzählung machte nicht die Wirkung auf ihn, welche jener erwartet hatte. Gustav Wald war von den Mittheilungen seines Bruders offenbar mehr in Unruhe oder wie in eine persönliche Verlegenheit gesetzt, als in tiefes, erschrockenes Mitleid.
Es kann doch das Alles Hirngespinnst sein, sagte der Pfarrer endlich gelassen. Ein geschwätziger Franzose hat so lebhaft mit Agathe gesprochen, als seien sie alte Bekannte, und hinterher haben sie versichert, daß sie keine alten Bekannten seien; dabei ist denn doch nichts Wunderliches. Das Zusammentreffen mit dem Landstreicher in dem Schloßpark hätte dir Agathe vielleicht selbst aufgeklärt, wenn du sie gefragt hättest; dann hat ein zudringliches Weib sich neben deine gutmüthige Frau auf das Sopha gesetzt und diese hat es geschehen lassen – das ist doch im Grunde Alles, und wahrhaftig, es ist sehr wenig, um darüber in Verzweiflung zu gerathen.
Leider ist es durchaus nicht Alles, antwortete Engelbert mit einem unbeschreiblich bittern Lächeln. Es ist nichts als die Einleitung meiner Geschichte.
Nur die Einleitung? sagte Gustav Wald und warf sich auf einen Stuhl, der Engelbert gegenüber am Tische stand. Nun, was ist denn der Kern?
Engelbert zog eine Brieftasche hervor. Er öffnete sie langsam und nahm ein Heft sehr feiner und sehr engbeschriebener Blätter heraus. Das Heft verbreitete einen Moschusduft durch das ganze kleine Wohnzimmer des Pfarrers. Engelbert legte es vor sich auf den Tisch.
Was ist das? Bekenntnisse einer schönen Seele? Ihr Tagebuch, welches du erwischt und sehr ehemännisch ihr fortgenommen hast? fragte der Pfarrer.
Das nicht; aber freilich das Tagebuch einer Frau. Es ist auf eine seltsame Art, durch eine wahre Schickung in meine Hände gefallen, versetzte Engelbert.
Ich war am Morgen nach dem Tage, an welchem ich bei der Weißnäherin gewesen, auf dem Bureau unserer Gesandtschaft, als bei meinem Chef die Meldung einlief, daß in dem ersten Gasthof der Stadt am vorigen Abend eine junge Dame, aus einer Stadt in Norddeutschland gebürtig, gestorben sei. Sie war aus Italien gekommen, wo sie sich seit mehren Wintern aufgehalten hatte, um Heilung für ein schlimmes Brustleiden zu finden. Diese Hoffnung war nicht erfüllt worden; nur von einer Kammerfrau begleitet, war sie zurückgekehrt, kam auf der Reise in ihre Heimat in unsere Stadt und war durch einen plötzlichen Blutsturz gezwungen, hier im Gasthofe zu bleiben. Am vorigen Tage nun war sie ihrem Uebel erlegen. Da sie Unterthanin unserer Regierung gewesen, so lag uns, der Gesandtschaft, ob, die nöthigen Schritte zu thun, um ihre Verwandten zu benachrichtigen und ihren Nachlaß zu sichern. Ich erhielt demnach von meinem Chef den Auftrag, mich in die Wohnung der Verstorbenen zu begeben und die Versiegelung ihrer Sachen vorzunehmen. Um dies auszuführen, eilte ich in den Gasthof. Da galt es zuerst einen heftigen Streit zwischen der Kammerfrau und dem Wirthe zu schlichten, der natürlich die übertriebensten Foderungen wegen des ihm an seinen Sachen durch eine Leiche erwachsenen Schadens machte; der Mann behauptete, daß nun alles Mögliche in den von der Verstorbenen bewohnten Zimmern für ihn unbrauchbar geworden, und berechnete entsetzliche Summen, gab sich jedoch endlich auf mein ernstes Zureden mit dem vierten Theile zufrieden. Dann ließ ich in dem Zimmer, worin die Leiche lag, von der Kammerfrau Schreibtisch und Commoden ausräumen und allen Nachlaß vor meinen Augen in die Reisekoffer packen. Während dieser Beschäftigung fiel mir ein, daß uns ein Gelaß fehlte, worin die Koffer untergebracht werden konnten, bis sich die Erben legitimirt und darüber verfügt haben würden. Ich sandte deshalb die Kammerfrau fort, um durch sie meinen Chef fragen zu lassen, ob ich den Nachlaß, sobald er von mir verzeichnet und versiegelt worden, auf das Bureau der Gesandtschaft bringen lassen dürfe – ich kannte seine nervösen Apprehensionen und wagte nicht, ihm ohne seine Genehmigung den Nachlaß der Todten ins Haus zu schicken.
Während die Kammerfrau entfernt war, befand ich mich in einem und demselben Raume ganz allein mit der Leiche. Es wurde mir unheimlich zu Muthe. Meine Augen wurden immer und immer aufs neue wider Willen in eine gewisse Ecke gezogen, wo das Bett mit nur halbverhüllenden Vorhängen stand und eine weiße Decke die Formen eines unbeweglich ruhenden Körpers verrieth. Um meine Gedanken abzulenken, sah ich mich nach irgend einer Zerstreuung, nach einem Buche unter den Sachen, die noch uneingepackt dalagen, um; ich wollte mich damit zum Lesen in das Vorzimmer setzen. Mein Auge fiel auf einen kleinen, mit einer silbernen Krampe verschlossenen Band, der auf der Klappe des geöffneten Schreibtisches lag. Ich nahm ihn, setzte mich damit ans Fenster im andern Zimmer und öffnete das Buch. Es war ein Manuscript, es war das Tagebuch der Verstorbenen. Du wirst sagen, ich beging eine Indiscretion, als ich darin las; ja, ich beging sie, aber beinahe gedankenlos; es war der natürliche Trieb, mich zu zerstreuen, der mein Auge auf die Blätter richtete, welche in meine Hände gefallen waren. Ich blickte rasch über eine Reihe von Seiten fort, die nichts, was mir anziehend gewesen wäre, enthielten. Tagebuch-Stimmungen, Ergüsse, Bespiegelungen, weißt du, sind nicht nach meinem Geschmacke; ich bin unduldsam gegen diese empfindsamen Subjectivitäten, worin der Mensch sich Rechenschaft gibt und sich erzählt von sich selbst und sich dadurch in gewisser Weise in zwei Personen zersetzt, die erzählende und die, welcher erzählt wird; als ob ihn das Bedürfniß triebe, sich zu verdoppeln, um nur alle die Eitelkeit zu tragen, die für Einen zu groß wird.
Aber ich kam bald an eine Stelle dieses Tagebuchs, wo die Ergüsse, ich möchte sagen, sich verdichteten zu einer zusammenhängenden Erzählung – zu einer Erzählung, die das Talent der Frauen zu solchen raschen und doch so treffenden Darstellungen menschlicher Schicksale in hohem Maße aufwies, die aber außerdem für mich, nachdem ich die ersten Seiten überflogen, ein so spannendes Interesse entwickelte, daß ich …
Daß du diese Blätter da aus dem Album herauslöstest und in die Tasche stecktest? vollendete Gustav Wald den Satz.
Ich konnte nicht anders! antwortete sein Bruder – diese Blätter berührten mich und mein Schicksal zu nahe, sie gehörten Niemandem auf der Welt, keinem weinenden oder lachenden Erben näher an als mir!
Dir? Und weshalb?
Ja mir, denn sie enthielten die Geschichte – meines Weibes. Da lies sie!
Engelbert schob seinem Bruder das Heft hin. Dieser durchblätterte es oberflächlich, dann stand er auf, und mit einer Fassung, die für Engelbert etwas seltsam Erkältendes hatte, nahm er einen Rauchapparat aus der Ecke und begann nicht eher dem verhängnißvollen Manuscripte seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, als nachdem er den feinen, daraus hervorquellenden Moschusgeruch in Wolken des mächtigern narkotischen Duftes einhüllen konnte.
Die erste Seite des Heftes, auf welche Gustav's Blick sodann fiel, enthielt die Beschreibung einer Fahrt von Terracina nach Neapel; eine Reihe ziemlich schwärmerischer Ausrufungen waren der Campagna felice, dem ersten Anblick des Vesuvs, dem ersten Eintritt in die zauberhafte Stadt gewidmet. Dann fuhr die verstorbene Erzählerin fort, wie im folgenden Abschnitt enthalten ist.