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Der Tag brach an. Es war ein wunderbar schöner Herbstmorgen; auf den Gebirgszügen im Osten lag ein zarter, durchsichtiger Duft, während über dem Rheinthal im Westen die grauen Nebel wallten. Die Sonne erhob sich, ihre ersten Strahlen zitterten über die Höhen her, die ganze Landschaft ergrünte und erglänzte und der Himmel zeigte sich krystallklar in seiner reinen Bläue. Kein menschliches Wesen war sichtbar auf den Fluren. Die schönste Stunde des Tages gehört nicht dem Menschen, sondern den flüchtigen Wesen, die sich zitternd verkriechen, wenn er erwacht. Das Reh schritt gesenkten Kopfes, sich lässig in den Hüften wiegend, über die Stoppelfelder dem Kleeacker zu, während windschnellen Fußes, wie davongekugelt, eine Wachtel durch die nahe Furche läuft; den Feldweg entlang, schiefer Haltung, denn die Füße der einen Seite bewegen sich im Fahrgeleise – wandert ein feister Dachs seine Straße; eilfertig, wie sie alle, wie die Feldmaus, die vor ihm in ihr Loch schlüpft, wie die Hummel, die in tollen Kreisen, als ob sie schwindlig wäre, ihre plumpe kleine Persönlichkeit umherwirft. Müssen sie doch alle eilen, ihr kleines Tagewerk zu vollenden; wenn der Mensch an das seine geht – dann müssen sie das ihre verlassen – dann hört für sie der Friede auf! Nur der Hase streift in seinem bodenlosen Leichtsinn solche Bedenken und die Warnungen der Erfahrung ab; auf dem Grasanger haben sich ihrer ein halbes Dutzend zusammengefunden, und dies bange Volk, das sonst vor jeder Gefahr pfeilschnell die Flucht ergreift, überläßt sich jetzt, wo es sich sicher glaubt, dem zügellosesten Muthwillen. Der älteste, ein an Jahren und Erfahrung gereiftes Individuum, turnt vor, die andern eifern ihm nach und suchen ihn zu überholen; sie stehen bald auf den Hinterbeinen, bald auf dem Kopfe, und wenn ihr Vater Jahn einen Purzelbaum schlägt, schlagen sie drei, und wenn er einen Sprung macht, springen sie doppelt so weit; das junge Hasengeschlecht hat den Standpunkt seiner Alten vollständig überwunden!
Sie haben gut spielen heute – es stört sie Niemand. Kein Pferd schnaubt der frischen Morgenluft den Dampf seiner Nüstern entgegen, kein Ackerer zieht mit der Pflugschar heran – ja, das helle Meßglöckchen tönt heute nicht vom Thurme der Dorfkirche, über den Fußpfad kommt nicht die gewohnte Gruppe flachshaariger Schulkinder mit Buch und Schiefertafel geschritten wie sonst, singend, lachend, mit den nackten Füßen den Staub des Weges aufwühlend, wie es des Dorfbuben Leidenschaft ist! Es ist so still auf der weiten Flur, wie am ersten Morgen der Schöpfung – aber es ist eine räthselhafte, beängstigende Stille!
Die Sonne ist höher emporgekommen. Es beginnt warm zu werden. In der Ferne fängt die Luft an zu zittern und zu flimmern, als ob sie aus einem unaussprechlich feinen Seidengewebe bestände. Da hebt sich ein dicker weißer Rauch aus einer Gruppe von Bäumen und Dächern hervor. Er steigt gerade empor in die helle Luft und wird dichter und dichter: eine graue, immer dunkler wogende Masse, ein sich ringelndes, feuerspeiendes Ungethüm. Die Funken beginnen zu sprühen, knistern, ein blaßrothes, von der hellen Morgenluft unterdrücktes Scheinen und Wogen blitzt auf – es sind die durchbrechenden Flammen, die Lohe schlägt über den Dächern zusammen und bis hinauf an die dürren Schindeln des kleinen Dorfthurms leckt die Feuerzunge.
Aber Niemand stürzt herbei, zu retten und zu löschen; keine Hand erhebt sich, die Hütte des Armen und seine Habe dem Untergange zu entreißen. Dagegen wird eine Reiterschar sichtbar, die unter den Baumgruppen des brennenden Dorfes her über das Feld reitet und die Dächer, welche ihr Schutz während der Nacht gewährten, muthwillig entzündet zurückläßt. An ihrer Spitze reitet Lambert. Es sind die Franzosen, die Kämpen der Gleichheit und Brüderlichkeit, die über die deutsche Erde daherziehen und die Fruchtäcker zerstampfen lassen vom Hufe ihrer Pferde.
Lambert wollte sich auf das Corps zurückziehen, von welchem er zum Recognosciren ausgesandt worden, und seinem General Rapport abstatten. Doch hatte er kaum eine Stunde Wegs hinter sich, als er auf die Spitze der ganzen französischen Heersäule stieß, welcher er angehörte und die ihm entgegenkam. Es war Befehl zum Vorrücken gegeben worden; das ganze Heer war auf dem Marsch nach Süden zu; Lambert mußte sich mit seinen Schwadronen anschließen und auf die augenblickliche Ausführung seines Racheplans verzichten.
Das furchtzitternde Land, welches die Franzosen durch diese Bewegung hinter sich ließen, athmete wieder auf. Aber nur wenige Tage dauerte die Freude. Nachdem Jourdan mit der Sambre- und Maas-Armee den Main erreicht, wandte sich sein Kriegsglück. Die Truppen des Kaisers gingen bei Aschaffenburg und Offenbach über den Main. Am 12. October schlug sich Clerfayt mit den Franzosen an der Nidda, die Barkohusaren und die Blankensteiner gingen über den Fluß und stürmten vor, die Franzosen wichen, die Avantgarden unter Kray und Haddik drangen bis an die Sieg vor. Wie eine verwüstungsschwangre Woge flutete nun das Feindesheer zurück, über den Landstrich, in welchem der Schauplatz unsrer Erzählung liegt. Die rohesten Ausschweifungen bezeichneten seinen Weg. Die jammervollen Octobertage des Jahres 1795 leben noch in den Erinnerungen alter Männer, die Zügellosigkeit der flüchtigen Feinde kannte kein Maß mehr, Blut und Flammen bezeichneten den Weg des weichenden Heeres, und der Engel des Zornes schien seine volle Schale ausgegossen zu haben über das unglückliche Land.
Verschont von allen jenen Greueln, in einer Landschaft, deren glückliche Entfernung von den Hauptstraßen sie frei gehalten hat von dem Strome der Feinde, erhebt sich ein stattliches Herrenhaus. Es ist Nacht, dunkle, von keinem Stern erhellte Nacht, sonst würden wir es auf der Stelle erkannt haben, an seinen Giebeln, zu denen hocharmige Pappeln emporlangen, an seinen Essen, seinem Storchnest oben – es ist Haus Schwalborn.
Durch die Allee vom Dorfe her wandeln zwei Gestalten dem Schlosse zu, beide in Mäntel gehüllt, beide rasch und verschwiegen daherschreitend. Es ist ein Mann und eine weibliche Gestalt, die am Arme des Erstern hängt und ihn zur Eile beflügelt, indem sie ihn fortdrängt. Als sie den Graben erreicht haben, der das Herrenhaus umgibt, sinkt leise eine Zugbrücke nieder – ein verrostetes, lange nicht gebrauchtes Befestigungsstück, das jedoch jetzt in weiser Voraussicht möglicher Streifcorps der Feinde von dem Verwalter wieder in Stand gesetzt worden ist und das Herr Tafelmacher seit seinem neulichen unglücklichen Ausfluge keinen Abend versäumt aufzuziehen. Die beiden Gestalten schreiten über die Brücke und den Hof und verschwinden durch eine Nebenthür im Innern des Gebäudes.
Herr Tafelmacher, der die Brücke wieder aufgezogen hat, folgt ihnen kopfschüttelnd nach und spricht, während auch er in das Gebäude schlüpft, um in sein Kämmerlein zurückzukehren:
O tempora, o mores! führt das Pfäfflein dem jungen Herrn die Mädchen zu – wer hätte das von ihm gedacht!
Die beiden Andern hatten unterdeß den Hausflur durcheilt und betraten ein großes Zimmer im Erdgeschoß, in welchem ein Nachtlicht brannte, bei dessen Schimmer man einen Soldaten in weißer Uniform gewahr wurde, der in einem Lehnstuhl saß und eingeschlafen war.
Das Mädchen stutzte und blieb erschrocken stehen.
Kommen Sie nur – es ist sein Bursche und solch ein Oesterreicher hat einen gesunden Schlaf; wir haben uns nur zu hüten, daß das Oeffnen der Thüren meine Schwägerin und meinen Bruder nicht erweckt!
Die Stimme, welche flüsternd diese Worte sprach, war die des guten Domherrn Desibodus Ehrembrecht.
Der Domherr schritt mit seiner Begleiterin auf den Zehen weiter und öffnete dann die nächste Thür. Ein hellerer Lichtschimmer quoll den Kommenden daraus entgegen und überstrahlte das bleiche, in allen Zügen gespannte Antlitz Cölestinens. Ihr Mund öffnete sich zu einem leisen Schrei, als sie die Schwelle überschritt. Ihr entgegen eilte eine hohe männliche Gestalt, verbundenen Kopfes, den linken Arm in einer seidenen Binde tragend, – eben so viel Spannung in den gebräunten Gesichtszügen verrathend – es war Karl von Schwalborn.
Er umschlang sie mit dem rechten Arme, der ihm freigeblieben, er drückte sie an seine Brust, er preßte seine Lippen auf ihre Stirn – sie schmiegte sich zitternd, athemlos an ihn – sie hatte keinen Laut des Entzückens – hätte sie einen gehabt, er würde wie ein Ausruf des Schmerzes gelautet haben – ihr Gefühl der Freude war so hoch gespannt, daß es an den Schmerz grenzte!
Karl zog Cölestinen auf das Sopha neben sich; der alte gute Desibod zerdrückte eine Thräne und begrub sich dann still in einen Lehnstuhl im fernsten Winkel des Gemachs, wo der Schimmer des Lichtes zu völliger Dämmerung wurde und wo die jungen Leute den Vermittler ihres Wiedersehens bald völlig vergaßen. Denn das war der mildherzige Domherr, der jetzt wieder unter dem väterlichen Dache wohnte und in Folge versöhnlichen Entgegenkommens von Seiten seiner Schwägerin allen Hader vergessen hatte, welcher ihn von der Familie seines Bruders getrennt. Seit einem Jahre schon lebte er wieder in Schwalborn.
Vor zwei Tagen war Karl hier eingetroffen. Karl, der jetzt zum Rittmeister vorgerückt war, diente nämlich in dem Corps Haddik's und hatte bei der Avantgarde gestanden, als diese an der Nidda auf die Feinde traf. In dem Gefechte, welches sich entsponnen, war er zweimal verwundet worden. Zuerst hatte ihn eine Karabinerkugel leicht oberhalb der Schläfe gestreift und dann ein Säbelhieb seinen linken Oberarm getroffen. Weil ihm die Verwundungen unbedeutend schienen, hatte er sich nicht abhalten lassen, an der Verfolgung der weichenden Colonnen Jourdan's Theil zu nehmen. Während des Halts jedoch, der an der Sieg gemacht wurde, hatte sich das Wundfieber so gesteigert, daß Karl sich unfähig fühlte, weiter seinem Dienst obzuliegen. Bei der Beschaffenheit der grauenhaften Mordhöhlen, welche die Verwundeten und Kranken der Heere in jenen Tagen aufnahmen, schauderte er vor dem Gedanken, sich einem Lazareth anzuvertrauen, und zog es vor auf einige Wochen Urlaub zu nehmen, um unter das väterliche Dach heimkehren zu können, welches ja ohnehin jetzt so nahe war. So langte er denn eines schönen Abends unverhofft, unerwartet auf dem Hofe seiner Aeltern an, die froh und erschrocken dem verwundeten Reiter entgegeneilten. Für seine Pflege und Heilung wurde alles Mögliche aufgeboten; doch zeigte sich das Wundfieber hartnäckig, und schlechter Verband und Vernachlässigung hatte die Wunden selbst in einen fast bedenklichen Zustand gebracht. Karl wollte sich nicht an das Bett fesseln lassen. Auf eine Chaise longue gestreckt, gab er sich allen den kleinen Zuvorkommenheiten und gutgemeinten Mitteln und sorglichen Rathschlägen hin, womit ihn die Liebe der Seinen umgab und bestürmte, um zur Erleichterung seines Zustandes beizutragen. Marianne, die als junge Frau mit einer stillen Anmuth und Ruhe sich bewegte, welche einen anziehenden Contrast mit ihrem mädchenhaften kleinen Uebermuth von ehemals bildete, überwachte Alles, was zur Erquickung und Nahrung des Kranken nöthig war. Gnaden Mama, jetzt um ein Bedeutendes gealtert und durch Gicht an ihren Lehnstuhl gefesselt, besorgte den Verband und zupfte Charpie. Sie hatte ihre Freude daran, daß die österreichische Disciplin ihrem Sohne einen so stattlichen Zopf geflochten. Der Domherr ließ sich die Unterhaltung seines theuern Neffen angelegen sein, er plauderte, er las ihm vor und ergab sich mit rührender Resignation in den vollständig veränderten, ja verwilderten Geschmack seines geliebten Zöglings, der mit einer spöttischen Verachtung die alten Lieblingsautoren, an denen Ehrembrecht's ganzes Herz hing, von sich abwies. Auch die hübsche, blühende, gutmüthige Physiognomie des Marquis de la Roche zeigte sich am Krankenlager Karl's voll inniger Teilnahme, voll des lebhaftesten Wunsches, sich ebenfalls nützlich machen zu können, und voll der brennendsten Verlegenheit, durchaus nicht zu wissen, wie dies zu bewerkstelligen sei. Der Marquis Polydore de la Roche, der Schwager Karl's, hatte wenig von den glänzenden Eigenschaften, welche seine Schicksalsgenossen auf deutschem Boden entwickelten: er war weder anmaßend noch impertinent, noch ein Wüstling, wie die andern Emigranten, er war ein in hohem Grade gebildeter Mann, und zu vollständiger Liebenswürdigkeit mangelte ihm gar nichts als etwas weniger aristocratischer Vorurtheile.
Aber wir haben einen von Denen, die voll rührender Sorgfalt Karl's Lager umgaben, nicht genannt, den, der am wenigsten verdient übersehen zu werden. Und wie könnte man das auch? Wessen Blicke blieben, wenn er diese Familiengruppe betrachtet, nicht haften auf der stattlichen Greisengestalt, den hellen Zügen voll Wohlwollen und Offenheit, den runden blauen Augen, in denen Innigkeit und eine wehmüthige Freude sich spiegeln? Wer fühlte sich nicht unter allen diesen charakteristischen, so verschieden und doch zu so echtem Schrot und Korn ausgeprägten Gestalten am meisten angezogen von der Physiognomie des trefflichen Hausherrn, des gnädigen Karl Borromäus Guntram Vogt zu Schwalborn und Erbherrn auf Flittersdorf? Im grauen Rock mit dem hohen Kragen und breiten Aufschlägen, in den kurzen blaumanchesternen Beinkleidern sitzt er da, am Fußende der Lagerstatt, auf welcher sein Sohn ruht; ein Ausdruck unaussprechlicher Befriedigung und Dankesfreude liegt in seinen Zügen und spielt um die klare Stirn des Greisen und die Schläfen, an deren Haar die Jahre gerauft haben, bis jene hoch und diese nackt geworden. Der Meerschaum ist ihm ausgegangen und ruht zwischen den gefalteten Händen im Schooße, – er spricht wenig, aber in seinem Auge steht Alles geschrieben, was er sagen könnte an diesem Tage, die ganze Beredsamkeit eines goldenen treuen Vaterherzens. Sein Sohn ist aus einer siegreichen Schlacht heimgekehrt, zwei Wunden sind ein ehrenvolles Zeichen, daß er ein echter Schwalborn – und doch bedrohen sie sein Leben nicht, doch kann der alte Freiherr ohne Sorge in die gebräunten männlichen Züge dessen blicken, der sein Eins und sein Alles ist – in diese Züge, die seiner Seele ein Labsal sind und die ihm so schön scheinen wie die Züge eines kriegerischen Erzengels! Und, um sein weiches Herz überströmen zu lassen von Dankbarkeit gegen Gott – sein Sohn hat auch die Kunde gebracht, daß Alles sich zum Guten wendet, daß die Franzosen auf allen Punkten weichen, daß sie bei Neuwied, bei Bonn über den Rhein sich zurückgezogen haben, daß bald auch ihre letzten Corps sich auf das jenseitige Rheinufer werden werfen müssen und daß die siegreichen Oesterreicher unter Clerfayt schon zum Entsatze von Mainz sich wenden. Die siegreichen Oesterreicher! – ja, das hatte Guntram immer gesagt, daß sie siegen würden – er kannte sie ja, seine alten kaiserlichen Truppen – er wußte es, daß der Sieg doch endlich ihren Fahnen folgen werde – mochten hundertmal die Preußen verzagt und muthlos mit den Sansculotten Frieden machen, noch wehte der Doppeladler im Felde! der Doppeladler hatte glorreich Guntram's Prophezeiungen gerechtfertigt, am Himmel seiner Hoffnungen und seiner Zuversicht stand dieser Doppelaar von Oesterreich wie ein leuchtendes Gestirn der Rettung und des Friedens!
In diesem Kreise also war Karl aufgenommen, und gewiß, er konnte nicht klagen über die Liebe und Herzlichkeit, die ohne Trübung aus Aller Augen ihn anblickte. Aber es war eine Lücke für ihn in diesem Kreise. Mit den alten Umgebungen kehrten die alten Gefühle zu ihm zurück. In das Leben und Dichten und Trachten seiner ersten Jugend sich zurückversetzend, wie er in den Schauplatz derselben zurückversetzt war, sehnte er sich nach dem Angelpunkte jener Gefühle seiner ersten Jugend, nach Cölestinen. Diese Sehnsucht wuchs mit jeder Stunde. An das Lagerleben und alle seine Roheiten gewöhnt, angewidert von der Brutalität, von dem Thier im Menschen, das der Krieg aus Denen, welche seine Feld- und Lagergefährten waren, hervorlockte, fand er die milde elegische Gestalt Cölestinens, wie sie vor seiner Phantasie stand, unaussprechlich anziehend. Wir suchen ja die Poesie des Lebens am liebsten in Zuständen und Charakteren, welche mit den unsern in directem Widerspruch stehen. Der Krieg hatte in Karl ein unauslöschliches Verlangen nach den tiefern Befriedigungen erweckt, welche nur ein innerliches Leben, ein geistig bewegter Verkehr gewährt. Das träumerische Versenken in die stillen Abgründe des Gemüths, dem er ehemals sich hingegeben hatte, das hatte das frische Leben, die männliche Thätigkeit ihm im rechten Lichte gezeigt. Die Reaction dagegen war es gewesen, was ihn in Wien leichtsinnig gemacht. Jetzt war er zum richtigen Standpunkt gekommen. Was er im Uebermuth seiner Wiener Tage kränklich und weichlich und kraftlos gescholten, das erschien ihm jetzt, wo er seit Monden auf dem blutigen Pfade der Kraft wandelte, in einem ganz andern Lichte. Er hatte das Leben nun von seinen verschiedensten Seiten kennen gelernt; je weiter der Horizont seiner Anschauungen sich gespannt, desto enger hatte sich der Kreis seiner Ansprüche an das Leben zusammengezogen. Jede Illusion, die verschwunden, hatte eine Entsagung mehr zurückgelassen. Das Ideal eines glücklichen Daseins war für ihn der ruhige und umfriedete Zustand eines Mannes von harmonischer Bildung geworden, der dem Cultus der Schönheit lebt und diese Schönheit überall zu fühlen und zu verehren weiß, wo und wie sie sich offenbare – in Religion und Kunst, in der Natur und in der Geschichte. Das Streben nach einem idealen, den wirklichen Zuständen nicht bescheertem Glück, die Leidenschaft im Suchen des Unerreichbaren, der ganze Rausch jugendlicher Begehrlichkeit, welche das schönste Stück der Welt für sich zu erobern gedenkt, – das Alles war verflüchtigt und zu Boden gesunken in diesem von der Natur zu Maß und weiser eigener Beschränkung angelegten Charakter. So hatte das Leben und die ganze Richtung, welche es seinem Innern gegeben, Karl zu Cölestinen zurückgeführt – zu jener weichen, tiefen und stillen Seele, welche in die volle Friedensharmonie, der sein Leben gleichen sollte, wie ein süßer melancholischer Klang sich einfügte, der von himmlischen Empfindungen und dem Wunder der Unendlichkeit sprach. In dieser Stimmung war Karl in dem Augenblick, in welchem wir ihn wiederfinden, in ihr hatte er seine Correspondenz mit Cölestinen schon seit längerer Zeit voll Wärme und Eifers geführt, und jetzt eröffnete er dem Domherrn, seinem alten Vertrauten, sobald er einen Augenblick erwischte, ihn allein zu sprechen, den festen Willen, Cölestinen wiederzusehen.
Der Domherr erschrak heftig. Er hatte Karl's erste Liebe längst verflüchtigt und verweht geglaubt. Aber Karl bestand auf seinem Entschlusse und der verzweifelnde Desibod mußte sich dazu verstehen, Cölestinen zu einer heimlichen Zusammenkunft abzuholen, um nur den wundkranken Neffen selbst von einer lebensgefährlichen Wanderung trotz Fieber und Nachtluft abzuhalten.
So saßen sich denn Karl und Cölestine nach vielen Jahren wieder Aug in Aug gegenüber. Sie blickte ihn an mit dem Ausdruck vergötternder Bewunderung und tiefen Zagens. Ihr Herz hatte gezittert vor diesem Augenblick, wie sie ihn auch seit Jahren ersehnt. Jetzt, wo er gekommen, war es ihr gewesen, als sei es die schwerste Stunde ihres Lebens. Ein entschlossenerer, in größern Umrissen angelegter Charakter als der ihrige würde vielleicht, stark im Bewußtsein seiner Liebe, nur ungetrübte Glückseligkeit empfunden haben. Cölestine aber zitterte: wie wird er mich finden, wie werde ich ihm erscheinen, nachdem fünf Jahre die Blüte meiner ersten Jugend verwehten; welche Bilder von Frauenschönheit werden sich ihm eingeprägt haben und die Geliebte seiner Jugend verdunkeln?
Aber Cölestinens ängstliche Zweifel schwanden bald. Karl's stürmische Freude verbreitete eine unaussprechliche Seligkeit in ihrem Herzen. Er war zum Manne gereift und hatte doch alle Wärme des Jünglings für sie heimgebracht; er hatte eine Unendlichkeit an Schätzen der Erfahrung und des Nachdenkens gewonnen und nichts verloren von seiner keuschen Herzensreinheit.
Welches Glück konnte dem ihren gleich kommen?
Sie plauderten die Stunden der Nacht dahin, als ob es kein Ding wie die Zeit gebe. Der Domherr war längst eingeschlafen – die Hähne begannen den Morgen anzukrähen – und sie hatten noch nicht die Hälfte von dem sich mitgetheilt, was das Allerdringendste war, und was sie sich durchaus gleich erzählen mußten; die Morgenröthe dämmerte ins Zimmer und sie waren noch lange nicht am Ende. Da erwachte der Domherr. Er trieb zum Abschied: aber es gelang ihm nur, Karl in die Trennung von seiner Geliebten einwilligen zu machen, indem er versprach, daß er sie am folgenden Abend, wie am vorigen, in das Krankenzimmer seines Neffen führen wolle.
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