Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Unterdeß eilte Lambert raschen Ganges aus der Wohnung Theroigne's dahin. Er stürmte durch die nächsten Straßen mit einer unbeschreiblichen Angst im Herzen. Die heimliche Mittheilung Theroigne's hatte ihn wie ein Wetterstrahl getroffen.
Man wollte alle Schutzlosen einkerkern und dann massacriren. In welch entsetzlichen Plan hatte Theroigne ihn eingeweiht! Die Hand des Todes schwebte über allen Verdächtigen, allen Aristokraten, über der italienischen Gräfin, der österreichischen Fürstin dann sicherlich auch. Mochte Bianca hundertmal Sängerin der italienischen Oper sein: der Umstand, daß sie Oesterreicherin, daß sie aus Wien gekommen, daß sie sich in Begleitung einer österreichischen Fürstin in Paris aufhielt, war mehr als hinreichend, sie dem mordgierigen Argwohn der Henker Danton's zu denunciren.
Aber woher diese peinliche Sorge um das Schicksal Bianca's in Lambert? Mußte er nicht wünschen, sie untergehen zu sehen, damit sich mit ihr das Andenken an seine Frevelthat auslösche? Nein – durch eine jener wunderbaren Wendungen, welche so oft einen völligen Umschwung im Charakter oder der Stimmung eines Menschen hervorbringen, war Lambert Bianca gegenüber in einen Zustand gerathen, von dem er sich selbst nicht Rechenschaft geben konnte, ob es Haß oder Liebe sei. Wir müssen zur Erklärung um einige Wochen zurückgehen.
Der Leidenschaft für das Drama, die einst Schiller's Räuber in ihm wachgerufen und genährt, war Lambert auch in Paris treu geblieben. Er sah zu seiner großen Freude sein Lieblingsstück auf dem Théâtre du Marais aufführen. Als Robert, chef de brigands, hatte es ein gewisser Lachabaussière ins Französische übersetzt und füllte damit die Theaterkasse. Vor seiner Wiener Reise hatte Lambert übrigens nur das recitirende Schauspiel besucht. Die Oper schien ihm ein Unding und er begriff die Menschen nicht, die sich für eine Oper passionirten, ein Gebräu, wie er es nannte, aus den zwei widerstrebendsten Dingen, der wachen klaräugigen That des Dramas und den einlullenden träumerischen Tönen der Musik: aus dem festgeballten, kernigen dramatischen Gedanken und der zerfließenden, gefühlseligen, weichlichen Tonkunst. Eine Oper, worin die durch die Handlung geweckte Spannung jeden Augenblick durch das Einschieben langer Arien und jener gräßlichen Chorgesänge, die ihm am meisten verhaßt waren, gehöhnt wurde, war ihm eine Folter. Seitdem er von Wien zurückgekommen, war es anders. Er lernte jetzt die Oper lieben. Es gab keinen Ort, wo er besser sich selber fliehen und seine eigenen Gedanken oder die wüste Welt Theroigne's vergessen konnte. Aber er sah jetzt mit einer Art mitleidiger Verachtung auf alle Die herab, welche seine Vorliebe theilten, und er fällte ein hartes Urtheil über eine Gesellschaft, welche die Oper vergöttert, obwol er selbst ihr angehörte. So befand er sich denn eines Abends im Parterre der italienischen Oper, um Cherubini's Werk »Lodoisca« zu sehen, eine Oper, deren Libretto dem berühmten Roman Faublas von dem Girondisten Louvet de Couvray entlehnt war. Bianca hatte in diesem Stück eine Rolle übernommen. Seine Blicke waren von der Bühne abgewendet, als sie auftrat. Die ersten Töne, welche von der großen Aengstlichkeit der Sängerin bedeckt waren und einem andern Organ als dem Bianca's anzugehören schienen, weckten seine Aufmerksamkeit nicht. Sein Auge glitt theilnahmlos über die Gestalt hin; sie trat in diesem Augenblicke den Lampen näher, sie erhob die Stimme, in einem kräftigen Accord fand sie ihr natürliches Organ wieder – und wie ein Wetterstrahl zuckte es durch Lambert's Seele. Sein Herz schlug auf, daß er zu ersticken glaubte, ein kalter Schweiß rieselte über seine Stirn, seine Hand faßte die Lehne der vor ihm stehenden Bank, als ob er sie mit seinen Fingern durchdrücken wolle.
Im ersten Augenblick des Erkennens war es ihm gewesen, als ob Bianca Niemand anders im ganzen Hause ansehe und ansinge wie ihn, als ob sie ihm ihre schmetternden Noten wie eben so viele Flüche ins Gesicht schleudere, als ob sie damit das ganze Publicum zum Zeugen wider ihn aufrufe, als ob sie alle Welt ihn zu vernichten beschwöre! Es gehörte eine Zeit von mehren Minuten dazu, bis er zu der Ueberzeugung gelangte, daß er ja ganz sicher mitten zwischen einer Menge Menschen sitze, von denen Niemand die geringste Neigung an den Tag legte, sich mit ihm zu beschäftigen. Er sammelte sich zu so viel verstellter Ruhe, um einen Nachbar bitten zu können, ihm einen Zettel zu leihen. Es stand bei der Rolle der Sängerin weiter nichts als Mademoiselle Blanche, aber es war völlig genug. Er sah nun mit angestrengtesten Blicken in das Antlitz Bianca's. Es waren dieselben Züge – sie schienen nicht entstellt. Das schöne dunkle, tiefe Auge war ebenso glänzend, wie es vordem in Wien gewesen. Nicht einmal die Haut schien von der furchtbaren Krankheit gelitten zu haben; die Beleuchtung und die Schminke verhüllten ihm wenigstens jede Spur. Die Gestalt schien nur noch hinreißender, voller, schöner geschwungen, wie sie in Wien war; die Erhöhung der Bühne ließ sie größer erscheinen, als sie war; unter den Figuren, welche neben ihr die Scene füllten, stand sie da wie eine mit Schönheit und Anmuth überschüttete Königin unter ihren Dienerinnen.
Es war natürlich, daß im ersten Augenblick der Entdeckung Lambert neben dem Erschrecken auch den höchsten Widerwillen gegen sein Opfer fühlte; dies ging so weit, daß er entschlossen war, Theroigne von ihr zu erzählen und durch diese Bianca aus Paris entfernen zu lassen. Wäre Bianca durch die Krankheit entstellt worden, wie Lambert es vorausgesetzt hatte, so würde er diesen Entschluß auch wahrscheinlich ausgeführt haben. Aber er ließ ihn augenblicklich fallen, als er sich überzeugte, wie Bianca fast ganz unversehrt geblieben. Damit fiel auch ein Stein von seinem Herzen, Jener Groll, welchen man gegen Die hegt, an denen man ein Unrecht begangen hat, mußte in Lambert jetzt um ein Bedeutendes schmelzen. Er fühlte eine gewisse Dankbarkeit gegen Bianca, daß sie noch so schön sei. Auch in ihrem Gesange, den er früher nie vernommen, lag etwas, was ihn versöhnte; nicht der innere Zauber dieser Stimme, den das Publicum so wüthend beklatschte, war es, was zu seinem Herzen sprach: aber der Umstand, daß Bianca eine solche Stimme besaß, eine Stimme, welche, hätte sein Verbrechen auch die furchtbarsten Wirkungen gehabt, ihr als ein nicht zu raubender Trost geblieben wäre. Sie zeigte ihm, daß er jedenfalls ihr nicht Alles genommen haben würde: und darin lag etwas Angenehmes, Beruhigendes, etwas, was ihm ebenfalls eine gewisse Dankbarkeit abzwang.
Als der Vorhang nach dem ersten Acte fiel, entfernte sich Lambert. Der erste Eindruck, welchen Bianca's Erscheinung auf ihn gemacht hatte, war noch so stark, daß er die Flucht vor ihr ergriff. Auch dauerte es mehre Tage, bis er so viel Muth gewonnen hatte, um sich zu entschließen, sie wiederzusehen. Es war eigentlich mehr eine gewisse Frechheit und Ruchlosigkeit, als Muth, was er in sich zusammenraffte.
Was ist im Grund an einem solchen Geschöpf, an einer Theaterprinzessin gelegen? sagte er; sie hat sich als eine Lockspeise der Pfaffen und Aristokraten gebrauchen lassen wollen; du hast mit rascher Entschlossenheit der Reaction das Werkzeug aus den Händen gewunden – das ist Alles. War das Unrecht? – gegen sie? – vielleicht! aber gegen mein Princip gewiß nicht!
Am Abende ging Lambert wieder in die italienische Oper. Er wollte mit der kaltblütigsten Ruhe die Sängerin anhören, ansehen. Doch verbarg er sich unwillkürlich im tiefsten Hintergrunde des Hauses. Dort, sich sicher fühlend, betrachtete er nun Bianca's Spiel, lauschte er ihrem Gesange mit der größten Herzenshärtigkeit, der mitleidlosesten Verachtung eines Menschenschicksals, die er nur in sich selber finden und aufbieten konnte.
Als die Vorstellung, der er diesmal bis zu Ende beiwohnte, vorüber war, gestand er sich, daß Bianca's Stimme neben ihrer Schönheit, ihrer Kraft, ihrem Umfang, auch noch einen ganz eigenthümlichen Zauber habe, von dem er sich keine Rechenschaft geben konnte, aber der ihm in einer besondern Weiche und Milde, auch der kräftigsten Töne, zu liegen schien.
Seltsame Existenz, dachte er, sich zum bloßen Futteral einer dem Publicum verkauften Stimme herzugeben. Es wäre mir lieber, könnte ich die Stimme hören, ohne das Futteral. Schön ist es freilich!
Lambert fehlte keinen Abend mehr, wenn Bianca auftrat. Er wurde nach und nach auch klar darüber, worin der besondere Zauber liege, welchen ihre Stimme auf ihn übte. Es war eine ganz unbeschreibliche Gefühlsinnigkeit, ein unnennbarer Seelenschwung in ihrem Gesange. Dies hatte sie auch zum Liebling des Publicums gemacht, das nach und nach anfing, sie der Prima Donna, der berühmten Dugazon, vorzuziehen und das sie in ersten Rollen sehen wollte. Sie selbst hatte dies jedoch abgelehnt, hörte Lambert von seinen Nachbarn im Parterre.
Nach und nach hatte der Gesang Bianca's auf Lambert einen Einfluß zu üben begonnen, dem er sich nicht mehr zu entziehen vermochte. Wenn er den Kopf voll wirrer Gedanken, die Brust voll Fanatismus, das Herz voll Muth, den Strom der Revolution weiter rasen zu lassen – den Strom, der doch ihn so willenlos mit fortschleppte – aus einem Club, aus einer Sitzung der Nationalversammlung, aus der Wachtstube seiner Section, oder wenn er von Theroigne kam, eine freche Verachtung der Welt, der Menschen und seiner selbst in der Seele, dann war der Gesang Bianca's für ihn, was ein frisches Bad einem todmüden Wanderer. Wenn er die Augen schließend diesen Tönen lauschte, so war ihm wie einem unglücklichen Gefangenen, der in einem Tretrad eingespannt war und dem nun der Schlaf milde Träume bringt. Was auch in seiner Seele lag, Rachsucht, die Tücke des Bauern, brennender Ehrgeiz, Stolz und Empörungslust; auf dem Grunde derselben lag doch ein nur zu reizbares Gerechtigkeitsgefühl, und wo das ist, da ist ein Resonanzboden, an welchem auch bessere Empfindungen widerklingen. Bianca wußte diese anzuschlagen, erst leise und ihm selber unbewußt, den Groll in seiner Seele schmelzend, den er gegen sie, als sein Opfer, seine lebendige Gewissensmahnung hegte; dann mächtiger und fesselnder, bis Lambert endlich so viel sich gestand, daß keine Musik der Erde so wohlthätig auf ihn wirke, wie ihr Gesang.
Er suchte nun auch, sie mehr in der Nähe zu sehen. Während der Vorstellungen verschlang sein Auge ihre wunderbar schöne Gestalt, ihre anmuthigen Bewegungen. Zuletzt wagte er es, dicht an ihren Weg zu treten, wenn sie das Haus verließ, ihr zu folgen, bis sie ihre Wohnung erreicht hatte. Er wurde demzufolge, wie wir sahen, eines Abends von Bianca erkannt, ohne es zu wollen.
Daß er Theroigne nichts von Bianca mittheilte, war natürlich. Ein tiefes inneres Widerstreben hielt ihn ab. Er hatte auch, kurz nachdem er Bianca zum ersten Mal auf der Bühne gesehen, die Fürstin K. in einer Loge des Theaters erkannt. Er erfuhr von einem Angestellten des Theaters, daß Bianca in Begleitung dieser ihrer »Schwester« in Paris sei. Hätte er Theroigne von den zwei Frauen gesprochen, so würde er über dieselben die größte Gefahr gebracht haben. Deßhalb hütete er sich auch, nach der Scene mit Karl bei den Cordeliers gegen Theroigne offen zu sein. Er mußte sich doppelte Vorsicht auferlegen, weil die Theater und die Schauspieler als reactionair und königlich gesinnt von vornherein verdächtig waren und im Allgemeinen durchaus nicht die Gunst der Jacobiner besaßen.
So kam es denn, daß Lambert in die äußerste Bestürzung gerieth, als ihm Theroigne den Plan mitgetheilt hatte, welcher für Bianca und die Fürstin so verhängnißvoll werden mußte. Er beschloß, die beiden Frauen zu retten. Seit mehren Tagen war Bianca nicht auf der Bühne erschienen. War sie krank? Der Theaterzettel würde es gemeldet haben. Sollte er auf der Stelle an sie schreiben und sie warnen? Einen anonymen Brief würde sie nicht beachten, einen Brief mit seiner Unterschrift vielleicht zornig zerreißen und eher darin eine Schlinge als den Ausdruck eines wahren Wohlwollens sehen. Er mußte sie sprechen, sie überraschen, gegen ihren Willen zu ihr dringen. Er eilte, nachdem er im Widerstreit mit sich mehre Straßen durchirrt, zu Bianca's Wohnung. Der Concierge theilte ihm mit, daß die beiden Frauen seit mehren Tagen das Haus verlassen. Wohin sie gezogen, darüber wußte der Mann nicht die geringste Auskunft zu geben. Mit einem ungeduldigen Fluch eilte Lambert, nachdem er sich die Wohnung des Unternehmers der italienischen Oper angeben lassen, zu diesem. Nur mit Mühe gelang es ihm, in so später Stunde noch Zutritt zu erlangen. Endlich empfing ihn der Impressario, ein langer hagerer Italiener. Der Mann hatte sich hinter einen Tisch gestellt, auf welchem neben Haufen von Noten, Büchern, ausgeschriebenen Rollen und Rechnungen sehr sichtbar ein Paar gezogene Sackpistolen lagen.
Als Lambert seine Frage nach dem Aufenthalt der Sängerin vorgebracht, zuckte der Unternehmer sichtbar beruhigt die Achseln. Seit einer Woche habe ich nicht die geringste Nachricht von Signora Bianca, versetzte er. Ich bin in Verzweiflung darüber. Sie hat mir durch ein Paar Zeilen angekündigt, daß sie durch ein plötzliches Unwohlsein für die nächste Woche am Singen verhindert sei; seitdem habe ich nicht die leiseste Auskunft, ob sie wiederhergestellt ist und wo sie sich befindet, nachdem sie ihre frühere Wohnung verlassen. Sie ist wie verschwunden!
Lambert fühlte an dem Schrecken, welcher ihn bei diesen Worten befiel, wie tief die Theilnahme für Bianca war, die sich ihm ins Herz geschlichen hatte. Er wäre außer sich gerathen, hätte er nicht die Adresse Karl's gehabt; Karl mußte mit den Frauen in Verbindung stehen, das durfte er kühn voraussetzen. Er verhehlte sich nicht, daß, wollte er durch diesen Kanal sich den Frauen nähern, er seine Aufgabe um vieles erschweren, er auch Karl werde retten müssen. Dies und seine feindliche Stellung zu Karl schreckte ihn jedoch nicht. Ja, auch die Demüthigung, die er sich werde auferlegen müssen, schreckte ihn nicht mehr. So hatte der leidenschaftliche Drang, Bianca der Gefahr zu entreißen, alle andern Rücksichten in ihm zur Seite geschoben. Er beschloß, am andern Tage, in der frühesten Morgenstunde, Karl in seiner Wohnung aufzusuchen.
*