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Hohenbaden

Es war zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, als Deutschland unter der Last einer harten Schickung wehklagte und lange vergebens um Erlösung seufzte. Eine pestartige Krankheit schwang weit und breit ihren finsteren Herrscherstab und verschonte sogar nicht das blühende Land Baden, das sonst herrlich, gleich einer Lieblingsschöpfung Gottes anzuschauen war. Wie ein gelb-roter Glutball rollte die Sonne strahlenlos ihre Bahn und statt mit ihrer Wärme den Erntesegen aus der Erde zu locken, braute sie aus den ihr entgegensteigenden Dünsten das feine unerläßliche Gift, das den Lebensatem ausdörrte und das Blut in eine faulende Masse zersetzte. Alle Fröhlichkeit war erstorben und selbst der anfangs überall ertönende Weheruf verstummte nach und nach und machte einer beängstigenden Stille Platz. Der Gesang der Priester, das Läuten der Sterbeglocken und das Rasseln der Totenkarren waren zuletzt die einzigen vernehmbaren Laute. Die Vögel schwiegen in den Zweigen und die Blätter der Zweige regten sich nicht; das Feld lag brach oder Unkraut überwucherte seine Halme, denn die fleißigen Hände des Landmannes waren erstarrt oder in dumpfer Gleichgültigkeit mochte er sie nicht mehr rühren, da das leibliche Ende doch unvermeidlich nahe schien. Nicht Jugend noch Schönheit, nicht Rang noch Frömmigkeit schützten gegen die Gefahr, mit der die Pest in jeder Minute drohte; und die äußeren Verheerungen, die sie anrichtete, waren noch nicht ihr entsetzlichstes Werk. Furchtbarer als das irdische Sterben zeigten sich ihre vernichtenden Wirkungen auf die edleren Gefühle der Menschenbrust. Wohl brachte sie mit ihrer gewaltigen Hand Zwietracht, Haß und Neid für eine zeitlang zum Schweigen, aber sie zerstörte auch nur zu oft die Liebe, die Hoffnung und den Glauben, ließ die Freundschaft ermatten und die Treue wanken. Es lösten sich Bande der Verwandtschaft, heilige Gelübde, Fesseln der Dankbarkeit; was noch lebte wollte um jeden Preis nicht aufhören zu leben. Hunderte wurden unter gräßlichen Verzuckungen zu Leichen, ohne daß eine zärtlich waltende Hand ihnen den letzten Kampf erleichterte; denn die Ansteckung fürchtend, suchten viele in der Flucht ihr Heil, oft nur um desto schneller von dem grausigen Gespenst des schwarzen Todes eingeholt zu werden. Freunde wichen von Freunden, Kinder von Eltern, der Liebende von der Braut, deren reizende Züge sich zum Schreckbilde verzerrten, und Gatten vergaßen des Schwures, in Freud' wie in Leid getreulich einander anzuhängen. Fast nur allein die Mutterliebe, die reinste, die unselbstsüchtigste von allen, die ewig treue von der Wiege bis zum Grabe, harrte aus beim Schmerzensbette des Kindes. Auf der Höhe des Entsetzens entfesselten sich die niederen Leidenschaften und hielten ungestraft ein furchtbares Erntefest. An Sicherheit des persönlichen Eigentums war umsoweniger zu denken, als niemand mehr für dessen Behütung Sorge trug.

Während so auf der einen Seite Zügellosigkeit und Genußsucht ihre Orgien feierten und mit der karg zugemessenen Lebensfrist ein frevelndes Spiel trieben, bildeten sich im Gegensatz Verbindungen fanatischer Büßer, welche in der Seuche eine unmittelbare Strafe Gottes erblickten und den durch die Sündhaftigkeit der Menschheit erregten Zorn des höchsten Wesens durch Selbstpeinigung zu sühnen dachten. Unter Absingung düsterer Klagelieder durchzogen Scharen dieser Büßer das Land; sie zerfleischten sich mit scharfen Geißeln die Leiber und forderten heftig das Volk auf, sich ihnen beizugesellen und durch Zerknirschung und Reue Gottes Strafgericht zu mildern. Doch vergebens! Weder Gebet noch Buße vermochten den Verwüstungen des unheimlichen Gastes Einhalt zu tun.

Auf der alten Burg Hohenbaden, deren Ruinen noch heute so edel und stolz von ihrem Gebirgsthron ins Tal hinabschauen, wohnte damals eine verwitwete Markgräfin mit einem Sohne und einer Tochter, beide in zartem Alter. Noch war ihr Hofhalt von der Seuche verschont geblieben und die frische Luft der Höhe mochte dem Nahen derselben vielleicht auch ferner wehren. Dennoch sah man auch dort mit Bangigkeit jedem kommenden Morgen entgegen und betrachtete jeden zurückgelegten Tag als ein unerwartetes Geschenk des Himmels. Der mild empfindenden Fürstin besonders griff das Schicksal des Landes schwer an die Seele und während sie mit angstvoller Sorge ihre Kinder behütete, betete sie inbrünstig um Schutz und Gnade für die schwergeprüften und von ihr mütterlich geliebten Untertanen. Täglich bestieg sie die höchste Zinne der Burg und spähte bekümmert hinab in Tal und Ebene nach einem Anzeichen der Linderung. Aber immer blieb die Atmosphäre bleiern und schwül und lagerte wie eine Gewitterwolke über Stadt und Land. Die Händchen der fürstlichen Kinder waren es lange gewöhnt, sich gleich denen der frommen Mutter im Gebet zu falten und Gott um Hilfe in der schrecklichen Not anzurufen. Sollte das Flehen auch dieser unschuldigen Lippen unerhört bleiben?

Mit tränenvollem Blick schritt die Markgräfin durch die Reihe ihrer Gemächer, von deren Wänden die Bilder der fürstlichen Ahnen ernst auf sie herabschauten. Diese Bildnisse von Gestalten, die nicht mehr auf Erden wandelten, gemahnten sie nur noch lebhafter an Tod und Vergehen, und die steigende Aufregung ihres Innern trieb sie abermals hinauf zu der Zinne des Wartturms. Die Kinder begleiteten sie. Oben angelangt, machte sie ihnen ein schattiges Plätzchen zurecht und kniete dann nieder, im Gebet Trost und Hoffnung zu suchen.

»Heilige Mutter Gottes,« so flehte sie, »du, welche den herbsten Schmerz des menschlichen Herzens empfunden, dir klage ich wieder meine Not. Ein zweischneidiges Schwert fuhr durch deine Brust, als dein eingeborener Sohn die schwerste Folter der Seele und des Leibes erlitt. Du verstehest die Tränen, welche ich in Sorge um die geliebten Untertanen unseres Hauses und um meine teuren Kinder vergieße. Gewähre du, o reine Jungfrau, mir deine Fürbitte beim Thron des Allmächtigen, daß er Rettung und Befreiung sende und seine Sonne wieder ungetrübt und segenbringend leuchten möge. Laß mich bald den Tag erblicken, an dem alle Knie sich dankend beugen und alle Lippen deine Gnade preisen werden. Ich gelobe freudig, dem Himmel ein Opfer zu bringen und dir, o Gebenedeite, zu weihen, was mir das Teuerste ist. Beschütze meine Kinder, erbarme dich der verzweifelnden Menschheit! Nimm die Heimsuchung von dem armen Lande!«

Nachdem die Markgräfin ihr Gebet geendet, aber noch mit gefalteten Händen bittend emporblickte, war es ihr plötzlich, als ob ein langgehaltener Windhauch durch die Weite zog, als ob Licht und Schatten sonderbar mit einander wechselten. Und siehe! gegen Westen ballte es sich wie eine schwarze, rotdurchglühte Wolke zusammen, auf der wie auf einem bluttriefenden Gefährt eine grausig anzusehende riesige Gestalt hinwegrauschte. Bekrallte Flügel starrten an ihrem Rücken, die Augen funkelten grimmig wie die eines besiegten Teufels, und die Hand faßte krampfhaft ein Wurfgeschoß, in dem wohl noch der Pfeil, aber schon mit abgebrochener Spitze steckte. Es war der Würgengel der Seuche, der vor einer höheren Gewalt die Flucht ergreifen mußte. Und in dem Sonnenglanz, der nun Himmel und Land verklärte, erschien in ihrer reinen unirdischen Schönheit Maria, die dreimal heilige Gottesjungfrau! Mild sah sie auf die Fürstin nieder; die eine Hand hielt sie wie schützend über die Burg ausgestreckt, mit der anderen deutete sie zuerst auf die Kinder, denen ein sanfter friedlicher Schlaf die Augen geschlossen hatte, und dann auf das in der Ferne aus Baumgruppen hervorschimmernde Kloster Lichtental. Die Kinder schlummerten fest, aber sie lächelten so selig. Sie sahen wohl im Traum die Engelein, die der heiligen Jungfrau Gewand trugen und mit den lichten sternbesäeten Flügeln ihnen Kühlung zufächelten. Balsamisch wehte die Luft und die Vögel zwitscherten in den Zweigen, als die Markgräfin sich aus ihrer Verzückung sammelte. Die Himmelserscheinung war entschwebt, aber die Fürstin wußte, daß ihr Gebet erhört worden, und daß die heilige Jungfrau ihr Opfer gnädig aufnehmen wolle. Die Pest verschwand, die Erde und was sie trug atmete wieder auf und Loblieder ertönten von allen Stätten. Die Markgräfin aber erfüllte fromm ihr Gelübde und das himmlische Geheiß und weihte ihr Töchterlein im Kloster Lichtental dem Dienst Marias.


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