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Burg Windeck

Innerhalb des Gebietes, das die Schutz- und Schirmherrschaft der freiherrlichen Familie auf Schloß Alt-Windeck anerkannte, stand in niederem Grunde und von Felsen rings umragt ein kleines baufälliges, Häuschen. Man hätte es seinem verwahrlosten Äußeren nach für unbewohnt halten können, wenn nicht dann und wann eine dünne Rauchsäule vom Schornstein emporgestiegen, und eine Schar Hühner auf dem kleinen Grasplatz vor der Hütte lustig herumgeflattert wäre. Diese Hühner hatten sämtlich schneeweißes Gefieder und gehorchten einem großen stolzen Hahne, der nicht minder weiß war als sie.

Die Landleute der Gegend wußten, daß eine bejahrte Frau, welche man in Ermangelung eines bekannten Namens seit undenklichen Zeiten nur die »Waldfrau« nannte, die Insassin des Häuschens und die sorgsame Pflegerin des weißen Hühnervölkchens war. Sie selbst kam wenig zum Vorschein, und nur wenn sich besondere mit Schloß Windeck in Verbindung stehende Ereignisse zutrugen, ließ sie sich unter dem Landvolke blicken und erschreckte die Dorfjugend durch ihre außerordentliche Häßlichkeit. Sie war so alt, daß auch die ältesten Leute sich nicht erinnern konnten, sie je jünger gesehen zu haben, und dieser Umstand, sowie ihr abschreckendes Äußere, machten sie zu einem Gegenstande abergläubischer Scheu. Kaum besser erging es den armen Hühnern, denen man es als pure Unnatur auslegte, daß sie von Geschlecht zu Geschlecht schneeweiß blieben und sich von ihren farbigen Mitgeschöpfen hochmütig fern hielten.

Weder die Frau noch die Tiere schienen sich ob des Mißkredits, in dem sie bei den Windeck'schen Grundholden standen, sonderlich zu grämen, denn sie setzten ihre abgeschlossene Lebensweise unverändert fort, und da keines sich einer eigentlichen Widerrechtlichkeit schuldig machte, so mußte man sie wohl in Ruhe lassen.

Da begab es sich um das Jahr 1370, daß der damalige Schloßherr von Windeck mit dem Ritter von Hutzenbach in grimmer Fehde lag. Die beiden Gegner suchten sich alle mögliche Unbill zuzufügen, und mancher Unschuldige mußte, bloß weil er des einen oder anderen Verwandter war, bitter darunter leiden. Nun hatten es des Freiherrn von Windeck Kundschafter ausgespäht, daß der Dechant des Straßburger Domstiftes eine Reise machen und an seiner Burg vorbeikommen würde. Die Gelegenheit, dem Feinde einen Streich zu spielen und zugleich ein gutes Lösegeld erpressen zu können, war zu günstig, als daß sie nicht benützt werden sollte. Der Windecker lauerte daher, an der Spitze eines kleinen, aber gutbewaffneten Häufleins, dem arglos des Weges ziehenden geistlichen Herrn auf, überfiel und bewältigte die nicht sehr zahlreiche Begleitung desselben, und führte ihn unter beleidigendem Höhnen und Frohlocken gewaltsam auf die Burg Windeck.

Diese nahm sich auf ihrer Höhe für das unbefangene Auge schön und stattlich genug aus, ihre Umrisse zeichneten sich scharf und sonnig von dem klaren, kalten Blau des Winterhimmels ab, und in kühnen Schwingungen flatterten die Fahnen und Fähnchen von den schneebedeckten Zinnen. Dem armen Dechanten jedoch erschien das stolze Gebäude nur wie ein um so traurigeres Gefängnis, je fester es war; ängstlich klammerte er sich mit den Händen an die Mähne seines sanftmütigen Saumrosses und malte sich im Geiste alle die Unbilden aus, welche der übermütige Ritter- und Knappentroß an dem Manne des Friedens ausüben würde.

Während auf solche Weise die Sieger mit dem Besiegten in die Burg einzogen, saß seitwärts am Wege auf einem umgestürzten Baumstamm die Waldfrau der einsamen Hütte und schaute schweigend dem Treiben zu. Ein dunkler Mantel, dessen Kapuze über den Kopf gezogen war, schützte sie gegen die Kälte und ließ nur das Profil des hexenhaften Antlitzes und eine der knochigen Hände frei, mit welcher sie ihren großen weißen Hahn auf ihrem Schoße festhielt, der seinerseits mit derselben gespannten Aufmerksamkeit, wie seine uralte Gebieterin, den Vorgang beäugelte.

Als die Tore von Alt-Windeck sich hinter den Ankommenden geschlossen hatten, stand sie auf, lachte sonderbar vor sich hin und hinkte, auf ihren Stock gestützt und den Hahn im Arm, ihrer bescheidenen Wohnung zu.

Daheim in Straßburg hatte der Dechant zwei Nichten, die Kinder einer frühverstorbenen Schwester, zurückgelassen, welche wegen des plötzlichen Verschwindens ihres Oheims und Beschützers in große Sorge gerieten. Nach und nach drangen Gerüchte von einer durch den Windecker Burgherrn an jenem verübten Gewalttat zu ihren Ohren und vermehrten den Kummer der beiden jungen Fräulein von Erstein. Wohl hätte es ihnen einige Beruhigung geben können, daß die Straßburger, die ihren vornehmsten Seelenhirten liebten, sich wacker rüsteten, zu seiner Befreiung auszuziehen; aber die Mägdlein zweifelten an dem glücklichen Ausgang des Kampfes, und ihre dankbare Zärtlichkeit für denjenigen, der treulich Vaterstelle an ihnen vertreten, trieb sie an, auch ihrerseits zu seiner Errettung mitzuwirken. Sie vertauschten deshalb Mieder und Schleppe mit schlichten Knabenanzügen und beschlossen, in dieser Verkleidung nach Alt-Windeck zu wandern, um sich als Geiseln für den Gefangenen anzubieten.

Mutig in dem Gefühl eines guten, pflichtgetreuen Unternehmens machten sie sich auf den Weg, doch mit wachsender Müdigkeit und Erschöpfung stellte sich auch neue Beklommenheit ein; und als sie auf Windeck'schem Gebiet angelangt waren, fühlten sie sich unfähig, ohne vorherige Erholung auf der Burg Einlaß zu begehren. Sie waren daher froh, als ihnen das Häuschen der Waldfrau zu Gesicht kam, dessen Tür sich ihrem Klopfen sofort öffnete.

Der Schrecken, den ihnen der Anblick der Alten einflößte, schwand bald, als diese sich gar freundlich gebärdete, ihnen Eier, Brot und Milch zur Erfrischung vorsetzte und sie teilnehmend um den Zweck ihres Kommens befragte. Die armen Kinder waren nur zu froh, ihr Herz ausschütten zu können, und hatten auch keine Ursache ihre Offenheit zu bereuen, denn als die Waldfrau vernommen, wie ihre jugendlichen Gäste sich so freudig an des Oheims Statt der Gefangenschaft unterziehen wollten, sprach sie: »Ihr hättet es nicht besser treffen können, liebe Kinder, als zu der verrufenen Waldfrau zu kommen, die man als böse meidet, nur weil sie mehr weiß als das kurzsichtige Landvolk. Und ich will euch Wohl, denn ihr seid gut und dankbar gegen euren Wohltäter, und habt euch ohne Furcht vor meiner Häßlichkeit an meinen Tisch gesetzt. Ha! Ha! obschon es lange her ist, daß meine Wange rund und rosig war, so hab ich's doch nicht vergessen, wie's in der Jugend zu ergehen pflegt, und fügte sie zu der älteren der beiden Schwestern gewendet hinzu: »ich sage dir, Mägdlein, daß dein hübsches Gesicht schnellen Frieden zwischen den Streitenden stiften wird, als sie es sich vermuten lassen. Doch müssen wir den armen Dechanten vorerst frei zu machen suchen, und deshalb geht zu dem Ritter von Windeck und berichtet ihm, daß die Straßburger schon morgen um diese Zeit zum Sturm auf seine Burg anrücken werden und daß sie die zugänglichste Stelle an der Rückseite, wo die Mauer nicht mehr fest ist, erspäht haben. Um einen Überfall zu verhindern, soll dort eiligst ein Graben und Wall hergerichtet werden und dieses Tier, das ich euch anvertraue, wird die Arbeit schneller vollbringen, als Menschenhände es imstande wären. Mit diesem Rat und dieser Hilfe werdet ihr euch in seine Gunst setzen und euerem Oheim zur Freiheit verhelfen. Was dann noch folgen wird, soll die Prophezeiung der Waldfrau nicht Lügen strafen.«

Damit übergab sie den verkleideten Mädchen eine riesige Henne, die wahre Altmutter des schneeweißen Geschlechts. Hocherfreut und von den Glückwünschen der klugen Frau begleitet, begaben sich jene zum Ritter von Windeck und redeten ihm zu, wie ihnen geheißen. Dieser wollte zwar den Ungläubigen spielen, aber sein Sohn Bernhard, der ein verständiger Jüngling und auch allen Gewalttätigkeiten abgeneigt war, brachte es doch dahin, daß man die Henne auf die bezeichnete Stelle setzte. Auf seine Fürsprache durften die jungen Ankömmlinge auch den Dechanten sehen, der übrigens milde Haft genoß.

Um Mitternacht war der Burgherr doch neugierig zu belauschen, was die Henne triebe; diese aber war verschwunden. Statt dessen umzog ein tiefer Graben und dahinter ein hoher Wall die gefährdete Stelle der Feste, so daß, als die Straßburger nächsten Tages wirklich anrückten, ihr Kampfesmut beim Anblick des unerwarteten und wie durch Zauberei entstandenen Hindernisses sich bedeutend abkühlte, und sie es vorzogen, mit friedlichen Unterhandlungen wegen Auslieferung des Gefangenen den Anfang zu machen.

Die Bitten der beiden Fräulein von Erstein, die sich als solche zu erkennen gegeben, blieben nicht ohne Eindruck auf den Ritter von Windeck, der es sich gestehen mußte, daß er die Erhaltung seiner Feste den beiden Mädchen zu danken hatte. Vielleicht aber hätte er sich nicht so schnell bewogen gefunden, den Dechanten und sogar ohne Lösegeld frei zu geben, wenn es ihm nicht bald klar geworden wäre, daß zwischen seinem Sohne und der schönen Emma, der älteren Nichte, ein zartes Verhältnis im Anzuge war, das durch den Reichtum und die Verbindungen des Fräuleins ihm große Vorteile bringen konnte. Er ließ sich daher erweichen und gab den guten Prälaten frei, der bald darauf seine Nichte dem Junker Bernhard von Windeck vermählte. Mit dieser Heirat fand die Fehde ihren versöhnenden Abschluß, und die Waldfrau, die das Ereignis vorhergesehen, kam bei allen Liebespaaren der Gegend zu gewaltigem Ansehen.

Der Graben, den die kluge Henne gescharrt, erhielt den Namen »Hennegraben«, und später wurde eine Meierei darnach benannt, wodurch die Begebenheit der Kunde der Nachwelt aufbewahrt blieb.


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