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III. Allgemeine Gebrauchsregeln der ärztlichen Zimmergymnastik.

1) Die nachverzeichneten Bewegungsformen sind im allgemeinen für alle Verhältnisse, für jedes Alter und für beide Geschlechter geeignet. Einzelne Ausnahmen werden betreffenden Orts bemerkt, sowie die stets nötigen individuellen Modifikationen soweit möglich angedeutet werden. Nur Schwangerschaft muss als allgemeiner Ausnahmezustand gelten, bei welchem dem Bedürfnisse der Körperbewegung besser auf eine ganz milde, dafür aber andauernde Weise, z. B. durch Spazierengehen, als durch intensivere Bewegungsmittel entsprochen wird. Ebenso bedarf es wohl kaum der Erwähnung, dass sie bei allen bedeutenderen entzündlichen und fieberhaften Zuständen im allgemeinen gänzlich zu meiden sind.

2) Sie müssen aber, wo sie einmal am Platze sind, mit der festesten Beharrlichkeit fortgeführt werden, in stärkerem Masse da, wo die Summe der übrigen Bewegung eine ungenügende ist. Sie müssen, ebenso wie das tägliche Essen und Trinken, der stehenden Tagesordnung eingereiht, also auch da, wo ein vorliegender spezieller Heilzweck bereits erreicht ist, wiewohl vielleicht etwas modifiziert, fortgesetzt werden. Nur so kann man sich ihres wahrhaft heilsamen Erfolges auf die Dauer versichert halten. Ein so leichtes und kleines Opfer wird jeder Einsichtsvolle seiner Gesundheit gern bringen. Es gehört dazu nur ausdauernder ernster Wille, der freilich den meisten Menschen der Jetztwelt abgeht Daher haben die Quacksalber ein so leichtes Spiel, insofern ihre trügerisch angepriesenen Wundermittel der Bequemlichkeitsliebe frönen. Des Menschen höchste Güter lassen sich aber nicht ohne Selbstthätigkeit erkaufen, sondern müssen erworben werden, so auch die verlorene Gesundheit durch vernünftiges, zweckberechnetes und willenskräftiges Leben. Die heiligen Gesetze unserer Natur lassen nicht mit sich spielen.. Es dürfte daher im allgemeinen ratsam sein, sich auch in dieser Beziehung nicht einem allzu sicheren Selbstvertrauen zu überlassen, sondern durch öfteres Auffrischen des Vorsatzes sich gegen die vielen scheinbaren Abhaltungsgründe der eigenen Bequemlichkeitsliebe zu waffnen, bis – was in der Regel nicht lange ausbleibt – die Sache zu einem heilsamen Gewohnheitsbedürfnisse sich befestigt hat.

3) Die für die Vornahme der Bewegungen passendste Tageszeit ist die Zeit kurz vor einer der täglichen Mahlzeiten, sei dies nun vor dem Frühstücke, vor dem Mittag- oder Abendessen, so aber, dass immer zwischen dem Ende der Bewegung und dem Essen noch wenigstens ein Viertelstündchen Ruhepause inne liegt, weil man die Muskelerregung der Verdauung wegen erst vorüberlassen muss. Der Unterleib muss möglichst wenig angefüllt sein. Daher ist es auch ratsam, dass, wo nötig, jedesmal vorher dem Bedürfnisse der Stuhl- und Harnentleerung entsprochen werde. – Es ist übrigens auch aus Rücksicht auf die Konsequenz empfehlenswert, die Zeit der gymnastischen Leistungen an eine der täglichen Mahlzeiten anzuknüpfen, weil letztere in der Tagesordnung der meisten Menschen fest normiert und überhaupt das sicherste Erinnerungsmittel sind.

Welcher von diesen drei Zeitpunkten im einzelnen Falle gewählt wird, ist zwar nicht immer ganz gleichgültig, bedingt jedoch für die ärztlichen Zwecke im allgemeinen keinen sehr wesentlichen Unterschied. Da nun bei der unendlichen Verschiedenheit sowohl der speziellen Zwecke als auch der individuellen Umstände und Lebensverhältnisse eine nähere Bestimmung darüber hier gar nicht gegeben werden kann, so muss sie füglich der Selbstbeobachtung und der danach zu treffenden Selbstwahl überlassen bleiben. Man vergleiche übrigens darüber noch das Abschnitt IV, S. 42 u. f. Bemerkte.

4) Man entferne vorher alle beengenden Kleidungsstücke, namentlich um Hals, Brust und Unterleib.

5) Bei Neigung zu starkem Blutandrange nach inneren Teilen, sowie zu Blutungen, bei bedeutenderen organischen Veränderungen edler Teile und beim Vorhandensein von Unterleibsbrüchen sind die Bewegungen durchaus nur nach ganz genauer, individuell zu bestimmender ärztlicher Auswahl und Vorschrift vorzunehmen. In allen diesen Fällen ist auch die gleich anzugebende sechste Regel vorzugsweise streng zu beachten. An Unterleibsbrüchen Leidende dürfen übrigens auch die für sie passenden Bewegungen nie anders vornehmen, als wenn der Bruch vollständig durch das Bruchband zurückgehalten ist. Zweckmässige und vorsichtige gymnastische Übungen (vergl. hinten Vorschrift 7) sind ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel, um namentlich bei jüngeren Individuen durch Kräftigung der Bauchwand die durch Bruchbänder angestrebte Verheilung der Bruchpforte zu begünstigen.

6) Wenn das Atmen und der Herzschlag durch eine Bewegung merklich beschleunigt worden sind, so warte man erst deren Beruhigung ab, bevor man zur nächsten Bewegung übergeht.

7) Die Zwischenpausen benutze man zum geflissentlichen Tiefatmen – ein ruhiges, volles und kräftiges Ein- und Ausatmen bis auf den letzten möglichen Punkt (also das Einatmen wie beim Gähnen, das Ausatmen etwa wie beim längstmöglichen Aushalten eines gesungenen Tones), und wobei es am zweckdienlichsten ist, die Arme nicht frei herabhängen zu lassen, sondern leicht in die Hüften einzustemmen, denn so wird die Atmungsbewegung möglichst begünstigt. Es ist dies eine der wichtigsten und wohlthätigsten (bei muskelthätigen Menschen zwar schon unwillkürlich, aber doch meist nicht vollständig genug geschehenden) Übungen, weil dadurch die Ausbildung, Frei- und Gesunderhaltung der Lungen, sowie die Belebung und Freimachung des ganzen Blutumlaufes (insbesondere auch des Unterleibsblutumlaufes) direkt und wesentlich gefördert wird. Die Gewohnheit, täglich eine Reihe ganzer, voller Atemzüge zu nehmen (was auch recht füglich auf Spaziergängen bei reiner, schöner Luft geschehen kann), ist daher besonders bewegungsarmen Menschen dringend anzuempfehlen. Denn diese atmen bei ihrer gewöhnlichen Lebensweise, welche namentlich die Ausbildung der Arm- und Brustmuskeln fast gänzlich vernachlässigt, fast immer nur bis zur halben Tiefe, ein Teil ihrer Lungenzellen bleibt unthätig und ist daher bei den meisten, oft schon in einem frühen Alter, verkümmert und entartet, mithin atmungsunfähig geworden, wie die Leichenöffnungen zur Genüge darthun. – Auf die ärztliche Benutzung des ausgleichenden ungleichseitigen Tiefatmens kommen wir später zurück.

8) Die Bewegungen müssen ruhig (ohne Hast und Übereilung), aber straff, mit kraftvoller Anspannung der Muskeln und überhaupt so vollkommen wie möglich genau nach den Abbildungen und Beschreibungen ausgeführt werden. Man vermeide alles Schlotternde, Eckige und Zuckende in der Bewegung, sowie alle störenden Nebenbewegungen. Jede Bewegung muss rein und glatt sein, was gewöhnlich erst durch Übung nach und nach erreicht wird. Nur so wird die beabsichtigte volle Konzentration und Hinlenkung der Lebensthätigkeit nach den aktiven Teilen vermittelt. Der wahrhaft heilsame Erfolg tritt nur erst bei richtiger und straffer Ausführung der Bewegungen, die der fortgesetzten Übung bald gelingt, hervor. Schon das unmittelbar nachfolgende Gefühl wird jeden über den grossen Unterschied zwischen oberflächlicher, lasser, und zwischen gediegener, bestmöglicher Ausführung derselben belehren. Wer vermöge seiner körperlichen Beschaffenheit diese oder jene der für den speziellen Zweck wünschenswerten Bewegungsformen nicht ausführen kann, begnüge sich mit den eben ausführbaren. Anwendbar und nutzreich ist das System bei verständiger Auswahl für jeden ohne Ausnahme zu machen, selbst für den ältesten wie für den gebrechlichsten.

9) Die Erlangung des erwünschten Erfolges der gymnastischen Bewegungen hängt in allen Fällen hauptsächlich mit von dem richtigen Masse ab. Dieses ist aber allerdings individuell verschieden und besonders anfangs stets ein niedrigeres, als später bei durch Übung allmählich gesteigerter Gewohnheit. Soweit es im allgemeinen möglich ist, werde ich sowohl bei den einzelnen Bewegungen, als bei der Zusammenstellung der speziellen Vorschriften den durchschnittlichen Massstab angeben, wodurch für alle Fälle ein sicherer Anhalt geboten wird, um das individuelle Zuwenig wie Zuviel vermeiden zu können. Zwei Bedingungen müssen in dieser Hinsicht festgehalten werden: a) dass das Ermüdungsgefühl sich zwar einstellt; aber in der darauf folgenden Ruhezeit vollständig wieder ausgleicht, und b) dass keine lebhaften Muskelschmerzen danach zurückbleiben, denn das schmerzlose Gefühl des stattgefundenen Muskelgebrauches, was besonders die Anfänger empfinden, giebt durch den mehr wohlthuenden Eindruck den Beweis seiner Natürlichkeit und Unschädlichkeit. Jene beiden Bedingungen müssen also als Grenzpunkt betrachtet werden, der nie, am allerwenigsten beim Beginne des Verfahrens, überschritten werden darf. Wenn also in der Anfangszeit trotz aller Subtilität des Verfahrens hin und wieder sich doch lebhafte Muskelschmerzen einstellen sollten (was bei manchen Personen schon nach sehr geringen, aber ungewohnten Bewegungen der Fall ist), so lasse man diese erst vorübergehen und beginne darauf wieder mit einer etwas verringerten Gesamtleistung. Bald, bei nur einigem Vertrautsein mit den Bewegungen, wird man selbst das Drei- und noch Mehrfache der Leistung leichter und besser vertragen, als im ersten Anfange das Einfache. Man lasse sich also durch die etwaigen anfänglichen Schwierigkeiten und Empfindungen nie zu dem (besonders unter alten Personen häufigen) falschen Glauben verleiten, als könne man die Bewegungen überhaupt nicht ausführen oder vertragen, sondern schreite getrost zur Wiederaufnahme und Fortsetzung derselben unter Zugrundelegung des durch die Selbstbeobachtung gefundenen Massstabes. Wenn – wie es besonders bei alten Leuten der Fall – diese oder jene Bewegung nicht gleich vollständig gelingt, so begnüge man sich mit dem eben Möglichen und vermeide gewaltsames Gebahren. Nach und nach macht auch der alte Körper darin noch überraschende Fortschritte.

Man hüte sich aber stets vor der, wie bei jedem Heilverfahren, so auch hier, verwerflichen Maxime: »Viel hilft viel.« Nur so lange als die mit der Muskelbewegung verbundene Erhöhung der Lebensthätigkeit hinsichtlich der Ernährung, d. h. der Neubildung des verbrauchten organischen Stoffes, gleichen Schritt zu halten vermag, ist ein reiner Gesundheitsgewinn damit sicher verbunden. Über diesen Grenzpunkt (Sättigungsgrad) hinaus tritt das Gegenteil ein. Bei Überreizung der Muskelfaser wird dieselbe endlich starr und steif, krankhaft organisch verändert, zu fernerem Gebrauche immer weniger tauglich. An die Stelle des Aufschwunges der Lebensthätigkeit tritt ein Rückschlag, eine Abschwächung und Erschöpfung derselben. An chronischen Krankheiten Leidende haben sich besonders vor jener leicht sich einstellenden Ungeduld zu wahren: das erwünschte Ziel schnell und gewaltsam erzwingen zu wollen, was ja bei der Natur fast aller dieser Uebel zu den Unmöglichkeiten gehört. Ist ein gymnastisches Heilverfahren am richtigen Orte und einsichtsvoll berechnet, so tritt der wahrhaft lohnende Erfolg sicher, aber in der Regel erst allmählich hervor. Also nochmals: Man beachte stufenweise, gemessene Allmählichkeit der Übergänge und halte stets bestimmtes Mass. Individuell richtiges Verhältnis zwischen Thätigkeit und Ruhe ist überhaupt für alle unsere Organe und Kräfte die Grundbedingung des Gedeihens.

Mag es sich daher um allgemeine hygienische Gymnastik oder um die auf spezielle Heilzwecke gerichtete handeln, immer hat man sich daran zu erinnern, dass Mangel allseitiger Muskelthätigkeit ebenso wie unausgleichbares Übermass derselben in der Dauer gesundheitswidrig sind, dass beides, nebst manchen anderen üblen Zwischenfolgen, schliesslich sicher ein vorzeitiges Altern und Hinscheiden herbeiführt. Belege der ersten Art liefern die höheren Stände in Fülle, Belege der letzten Art aus den niederen Ständen alle solche, die unter übermässig schwerer Körperarbeit vom Morgen bis zum Abend ihre Lebenszeit hinbringen.

10) Wenn nach längerem Gebrauche des Verfahrens eine Steigerung der Muskelthätigkeit verträglich und überhaupt ratsam wird, so kann man diese bei allen Armbewegungen am passendsten dadurch bewirken, dass man in jede Hand eine Hantel (zwei durch einen Griff verbundene hölzerne oder eiserne Kugeln im Gewichte von 1 bis höchstens 3 Kilogramm) nimmt und damit die Bewegung in allmählichen Übergängen ebenso ausführt, wie bei unbelasteter Hand. Nur vermeide man dabei Überanstrengung.

11) Will man bei Vornahme der Bewegungen im Zimmer damit gleichzeitig den Genuss freier Luft durch Fensteröffnen möglichst vereinigen, so ist dies selbst bei kalter Jahreszeit – natürlich unter Beobachtung der gewöhnlichen Vorsichtsmassregeln – im allgemeinen nur zu empfehlen. Bei Brustkranken kommt es freilich darauf an, ob die gerade vorhandene Beschaffenheit der äusseren Luft eine dienliche ist oder nicht. Aber in jedem Falle muss man während der Bewegungen reine Luft atmen.

12) Die Einrichtung der ganzen übrigen Lebensweise hängt selbstverständlich von den individuellen Gesundheitsverhältnissen ab. Wie es überhaupt die Gesundheitsrücksicht verlangt, so entspricht auch hier im allgemeinen eine einfache und geordnete, dabei aber nicht ängstlich pedantische Lebensweise, insbesondere eine reizlose (an hitzigen Gewürzen und Getränken möglichst beschränkte) und mässige Kost Am häufigsten wird gefehlt durch Überschreitung der normalen Menge der zu geniessenden Speisen und Getränke. Das Blut wird mehr und mehr mit unverwendbaren Nahrungsstoffen überbürdet und so die Gesundheit allmählich untergraben. Die meisten Personen aus den höheren Ständen geniessen, ohne es zu wissen, mehr, als das Körperbedürfnis verlangt, weil das durch verschiedene, wenngleich an sich nicht tadelnswerte künstliche Zubereitungen erregte Zungenbedürfnis das natürliche Magenbedürfnis nach und nach in den Hintergrund gestellt hat, oder überhaupt, weil der Magen durch regelmässige Verwöhnung im Zuvielgeniessen sein normales Sättigungsgefühl verloren hat. Geflissentliche Reizungen des Appetites durch starke Gewürze, Getränke etc. können daher wohl zuweilen als Heilmittel sich rechtfertigen lassen, werden aber, als Regel gebraucht, dadurch stets verderblich, dass sie den Magen allzu begehrlich machen und so Überladung des Blutes mit Nahrungsstoffen zur Folge haben. Wie immer, sollen wir auch hier den sinnlichen Reiz unserer verständigen Einsicht unterordnen und auch darin ein Mittel zur Übung in der Selbstbeherrschung finden. Der allgemeinste, sicherste Massstab ist der: dass wir nach jedem Nahrungsgenusse uns leicht und frisch fühlen müssen. Jedes, auch das schwächste, die Grenze des Angenehmen überschreitende Gefühl von Vollsein ist der Beweis des Gegenteiles und giebt dem Achtsamen den richtigen Massstab für künftig. Auch ist zu beachten, dass sich das Nahrungsbedürfnis gemäss dem langsameren Vonstattengehen des Stoffwechsels im vorrückenden Alter etwas verringert. dem Zwecke am besten.

13) Bei Unpässlichkeiten setze man nur dann die zur Regel gemachten Bewegungen aus, wenn dadurch das Allgemeinbefinden merklich gestört ist. Die Monatsperiode des weiblichen Geschlechtes bedingt nicht ein gänzliches Aussetzen der gymnastischen Bewegungen, wohl aber gewisse, unter den nachfolgenden speziellen Vorschriften betreffenden Orts anzugebende Modifikationen derselben.


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