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I. Wert der ärztlichen Gymnastik überhaupt

Soll geist'ges Leben wohl gedeihen,
So muss der Leib die Kraft verleihen!

 

Der Mensch ist ein Doppelwesen, bestehend aus einer wunderbaren innigen Vereinigung einer geistigen und einer leiblichen Natur. Er ist bestimmt zur Thätigkeit nach beiden Seiten hin, zum vollen Gebrauche seiner geistigen und körperlichen Kräfte. Sein ganzes Wesen ist darauf berechnet. Der geistig Träge und der körperlich Faule schmachten vergeblich nach dem Vollgenusse geistiger und leiblicher Freude. Die süsse Würze des Lebens ist nur ein Lohn des Thätigseins. Der Mangel desselben erzeugt Stumpfheit der Organe, Störung ihrer Verrichtungen, Krankheit, vorzeitigen Tod. Wie alle Kräfte durch angemessenen Gebrauch sich steigern und auf einem gewissen Höhepunkte erhalten, so verkümmern und verschwinden sie im entgegengesetzten Falle, bei Mangel der Übung, vor der Zeit gänzlich.

Dies sind Wahrheiten, die jedermann anerkennt, gegen welche der Mensch aber trotzdem unendlich oft fehlt. Viele konzentrieren ihre ganze Kraft einseitig auf die geistige Thätigkeit und vergessen darüber die Anforderungen ihrer körperlichen Hälfte – ein Fehler, welcher allerdings mit der Steigerung des Kulturzustandes und der Verfeinerung der Lebensverhältnisse in, wiewohl durchaus nicht notwendigem, Zusammenhange steht. Andere wollen nur geniessen, ohne den Genuss sich auf irgend eine Weise, durch den Gebrauch ihrer Kräfte, zu verdienen. Unsere Natur lässt sich aber nicht meistern, sondern straft, wo man mit ihr in Widerspruch tritt, und oft sehr hart. Besonders ist unsere leibliche Natur eine strenge Richterin über die Verstösse gegen ihre Gebote.

So kommt es denn, dass die Vernachlässigung der körperlichen Ausbildung und im ausgebildeten Körper die Vernachlässigung des allseitigen Kraftgebrauches – wodurch allein die organische Stoffumbildung und Erneuerung (die Grundbedingung des ganzen Lebensprozesses) in gedeihlichem Schwunge erhalten werden kann – tausendfaches Siechtum über die Welt gebracht hat und immerfort noch bringt. Dies wohl erkennend, haben die Ärzte aller Zeiten entsprechende Körperbewegung als unerlässliche Bedingung der Erhaltung und beziehentlich Wiederherstellung der Gesundheit aufgestellt. Man riet denen, deren Berufsart den Körper unthätig lässt, bald diese, bald jene Körperbewegung: Gehen, Fussreisen, Reiten, Fechten, Gartenarbeit oder andere kräftige Handarbeiten und dgl. Diese Bewegungen sind nun zwar, soweit die Gelegenheit dazu vorhanden, im allgemeinen recht empfehlenswert, doch aber teils zu einseitig, teils – was die Hauptsache ist – fast durchgängig nur für die wenigsten Menschen und nicht auf die Dauer ausführbar, also unmöglich als genügendes Ausgleichungsmittel zu betrachten. Fast immer war man daher genötigt, auf methodisches Gehen, als den einzigen allenfalls auf die Dauer noch ausführbaren Ausweg, sich zu beschränken. Man fühlte wohl, dass diese Bewegung, wenn damit allein das körperliche Bedürfnis abgefunden werden sollte, besonders für die ganze Periode des noch rüstigen Lebensalters, viel zu einseitig und ungenügend sei Um sich das auch schon quantitativ Ungenügende des gewöhnlichen Gesundheitsgehens übrigens bewegungsarmer Menschen recht augenscheinlich zu machen, vergleiche man dasselbe mit der Summe täglicher Bewegung, die auch der Minderkräftige z. B. auf Gebirgsreisen bei nur mässigen Tagestouren von etwa 4-6stündigem Bergauf- Bergabsteigen wochenlang mit Leichtigkeit ausführt, oder mit den nur mässigen Tagesleistungen eines Gartenbebauers – Bewegungssummen, welche, wie der Erfolg stets beweist, doch eben nur genügende, der Gesundheit in jeder Hinsicht heilsame, durchaus noch nicht übermässige zu nennen sind. Welch bedeutender Abstand! – Wer übrigens, wie Tausende von Menschen es thun, seine Muskelkräfte nur zum Gehen verwendet, der ist einem Landwirte zu vergleichen, welcher fünf Felder besitzt, von denen er nur eins bebaut, vier aber brach liegen lässt und der verzehrenden Wirkung des Unkrautes preisgiebt. Der gerade für die organischen Hauptfunktionen überaus wichtige Kraftgebrauch der Arm-, Brust-, Bauch- und Rückenmuskeln mangelt. Ein weiterer Nachweis darüber Seite 15-17 Absatz 1-4., aber auch sogar die dürftige Aushilfe des Gehens wurde immer weniger ausführbar. Denn als infolge des bestimmungsgemässen Fortschreitens des Kulturzustandes die Anforderungen an geistige Ausbildung und Thätigkeit mehr und mehr stiegen und Zeit, Aufmerksamkeit und ganzes Streben in Anspruch nahmen, so fehlte bei den meisten nicht nur der Sinn, sondern auch die Zeit, um unter die Aufgaben ihrer Tagesordnung auch ein mehrstündiges, ausserdem zweckloses Gehen mit aufzunehmen. Das Missverhältnis zwischen den Anforderungen des geistigen Lebens und der Berufsaufgaben einerseits und den Pflichten gegen den Körper andererseits trat bei einem grossen Teile der Menschen immer greller und folgenschwerer hervor.

Man sann daher, um dieses Missverhältnis auszugleichen, auf ein besonders darauf berechnetes Mittel. Das höher gestiegene geistige Kulturleben der gegenwärtigen und künftigen Generationen verlangt als Grundbedingung seines gedeihlichen Weiterschreitens durchaus auch einen höheren und harmonisch berechneten Grad körperlicher Kultur, weil, wenn sich Blüte und Frucht des geistigen Lebensbaumes kräftigen und veredeln sollen, dies nur geschehen kann bei entsprechender Beschaffenheit seiner Wurzel. Ebenso wie der höher entwickelte Mensch, mit dem Menschen des Urzustandes verglichen, sich nicht mehr auf unmittelbares und passives Empfangen von Speise und Trank aus den Händen der Natur beschränken und verlassen darf, so liegt es ihm auch ob, seine übrigen physischen Bedürfnisse nicht bloss dem Laufe des Lebens zu überlassen, sondern sie in ihrem Wesen gründlich zu erforschen und sie durch eigenes Denken und Schaffen in je entsprechender Weise der Natur abzugewinnen und sich zuzurichten. Je höher sich das Leben über den unbewussten rohen Naturzustand erhebt, je mehr also der bestimmungsgemäss immer höher und freier sich entwickelnde menschliche Geist auch die Grundbedingungen seiner Existenz unter das Auge der wissenschaftlichen Erkenntnis und der Berechnung nimmt und nehmen muss, um so mehr werden auch die unentbehrlichen physischen Bedürfnisse einer bewussten Harmonisierung mit den allgebietenden Naturgesetzen und mit den höchsten Lebensaufgaben zu unterziehen sein. Nur so kann der Mensch den je nach dem Entwickelungsgange und den Anforderungen seiner Zeit verschieden zu handhabenden Gesetzen der Natürlichkeit entsprechen und sich gegen Verletzung derselben und ihre unheilbringenden Folgen sichern. So entstand die heutige Gymnastik, die auf Ausbildung des Körpers und Kräftigung der Gesundheit berechnete Muskelübung. Sie ist also das im Entwickelungsgange des Lebens bedingte und recht eigentlich naturgemässe Ergebnis einer höheren physischen Kultur. Für letztere ist die gelegentliche Naturgymnastik an sich schon zu unvollkommen ihrer Beschaffenheit nach, und ist überdies den meisten Berufsverhältnissen zu kärglich zugemessen ihrer Summe nach.

Wir haben es hier nur mit der Gymnastik zu thun, insofern sie zur Erfüllung ärztlicher Zwecke: entweder zur Beseitigung – Heilgymnastik –, oder zur Verhütung – hygienische Gymnastik – gewisser Krankheiten und fehler- und mangelhafter Zustände als willkommenes Mittel sich darbietet. Beides umfasst der Begriff: ärztliche Gymnastik.

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Es lag in der Sache, dass man die Heilgymnastik zunächst gegen alle diejenigen chronischen (fieberlosen) krankhaften Zustände benutzte, deren Entstehung aus dem Mangel genügender Körperbewegung folgerichtig sich herleiten lässt. Bald aber erkannte man, dass ihr Gebiet sich noch weiter, auf noch manche andere Krankheitszustände erstrecke, die damit nicht eben in direktem Zusammenhange stehen. Nur darf man sich darin nicht so weit versteigen, wie einzelne zu enthusiastische Verehrer der Heilgymnastik, welche dieselbe zu einem wunderwirkenden Universalheilmittel erheben und neben ihr fast gar nichts mehr gelten lassen möchten. Ein Universalheilmittel oder eine Universalheilmethode giebt es nicht und kann es bei der überaus komplizierten Beschaffenheit des menschlichen Organismus und seiner Lebensverhältnisse und der demnach unendlichen Verschiedenheit seiner krankhaften Zustände niemals geben. Dagegen, wenn die Heilgymnastik innerhalb ihrer Grenzen von Einseitigkeit frei erhalten und in enger Verbindung mit der allgemeinen Heilkunde aufgefasst und gehandhabt wird, muss jeder Vorurteilsfreie sich gedrungen fühlen, sie als ein oft wahrhaft unersetzbares Hilfsmittel, als eine wichtige Bereicherung der letzteren anzuerkennen.

Um dem Urteile über das Wesen der Heilgymnastik im allgemeinen die wahre Grundlage zu geben, um die Körperbewegung als Heilmittel richtig würdigen zu können, müssen wir uns die physiologische Bedeutung der Bewegungsorgane – des Muskelsystemes –, die Rolle, welche dasselbe im Haushalte des ganzen Organismus spielt, wenigstens in den allgemeinsten Zügen vergegenwärtigen.

Die Einrichtung unseres Organismus ist berechnet auf volle Thätigkeit aller Teile und Organe. Wenn also der Mensch sich bestimmungsgemäss entwickeln und im normalen (gesunden) Zustande erhalten soll, so ist dazu eine dem Masse seiner individuellen Kräfte entsprechende körperliche und geistige Thätigkeit erforderlich. Die volle körperliche Thätigkeit – Bewegung, Muskelthätigkeit – ist dazu aber noch um vieles unentbehrlicher als die geistige, wie aus dem Folgenden sich genauer erkennen lassen wird.

Das ganze organische Leben beruht auf der ununterbrochenen Stofferneuerung: auf der Ausscheidung des alten, durch den Lebensprozess untauglich gewordenen, und der Wiederaufnahme (Anbildung) neuen organischen Stoffes, welchen der Körper aus den Nahrungsmitteln, der eingeatmeten Luft u. s. w. entnimmt. An dem Umsatze des Stoffes entzündet sich fort und fort die Flamme des Lebens von dem ersten Pulsschlage bis zum letzten. Je mehr daher diese Stofferneuerung, diese auffrischende Umbildung – nämlich innerhalb ihrer individuell allerdings verschiedenen Grenze – angeregt wird, um so mehr wird das Leben überhaupt an Frische, Kraft und Dauer gewinnen. Der Körper muss also, wenn er gedeihen soll, sich in seinen Bestandteilen fortwährend erneuern und verjüngen. Alle Störungen dieses Herganges erzeugen, wenn sie nicht bald wieder ausgleichbar sind, Krankheit, Siechtum, Tod. Daher ist ungenügender Stoffverbrauch und ungenügende Ausscheidung der abgenutzten und untauglich gewordenen Stoffe (Zurückbleiben derselben im Körper), kurz, der Mangel des Gleichgewichtes zwischen Stoffaufnahme und Stoffverbrauch, eine der allgemeinsten Ursachen von Regelwidrigkeiten in der Entwickelung und in dem Fortgange des Lebensprozesses, und das bleibende Gesunkensein der organischen Verjüngungskraft, welches ebensowohl durch ungenügenden als auch durch übermässigen, erschöpfenden Kraft- und Stoffverbrauch erzeugt sein kann, die Ursache des vorzeitigen Alterns. – Die Anregung der Stofferneuerung und organischen Verjüngung erfolgt aber durch die Thätigkeit der Organe des Körpers überhaupt, solange dieselbe mit den Ruhepausen im richtigen Verhältnisse bleibt. Nun ist das Muskelsystem bei weitem das massenhafteste unter allen Systemen des Körpers, und die Muskel- (Fleisch-) Substanz gehört zu denjenigen organischen Geweben, welche bei ihrer bestimmungsgemässen Thätigkeit (der durch Zusammenziehung der Muskelfasern bewirkten Körperbewegung) den höchsten Grad von Umbildungsfähigkeit ihrer Substanz (Stofferneuerung) besitzen. Es leuchtet ein, dass aus diesem doppelten Grunde das Muskelsystem vorzugsweise, wie kein anderes System von Körperorganen, geeignet sein muss, durch seine volle Thätigkeit den allgemeinen Stoffwechsel auf die schnellste, kräftigste und vollständigste Weise zu fördern, mithin einen naturgemässen heilsamen Aufschwung des Lebensprozesses überhaupt, eine Regeneration und Verjüngung der ganzen Blut- und Säftemasse des Körpers und somit eine Steigerung der gesamten Lebensenergie zu bedingen. Denn da das Blut die gemeinschaftliche Quelle der Ernährung aller Körperteile ist, so müssen mit der Muskelthätigkeit rückwirkend die Blutzuströmung, der ganze Blutumlauf (dieser auch schon mechanisch durch das mit der Muskelzusammenziehung verbundene Weiterpressen der cirkulierenden Säfte), die Blutbereitung und Blutmischung, dadurch also wieder die gesamten Verdauungsthätigkeiten, der Atmungsprozess, alle Ausscheidungsprozesse, kurz – das ganze organische Triebwerk in erhöhten Schwung versetzt werden. Daher die augenblickliche Vermehrung und Verstärkung der Herzschläge, der Atemzüge, der Wärmeentwickelung und bei anhaltender Muskelthätigkeit das bedeutend stärkere Verlangen nach Speise und Trank, die Vermehrung der Ausscheidungen durch Schweiss und Harn, der nachfolgende tiefere, erquickendere Schlaf und als bleibender Gewinn: grössere Lebenstüchtigkeit und besseres Vertragenkönnen von Anstrengungen aller Art, von Hitze, Kälte, Hunger, Durst, Schlafentbehrung und anderen störenden Einflüssen, sowie grössere Widerstandskraft gegen herrschende Krankheiten aller Art. Es ist durch physiologische Berechnungen und Versuche erwiesen, dass ein anhaltend muskelthätiger Mensch die Gewichtsmasse seines Körpers ungefähr schon in 4-5 Wochen vollständig umsetzt, während bei einem körperlich unthätigen Menschen unter übrigens gleichen Verhältnissen mindestens ein Zeitraum von 10-12 Wochen dazu erforderlich ist. Die Muskelsubstanz selbst wird durch kräftige Bewegung voller, fester, straffer, die unnützen Ablagerungen von Fett und schlaffem Zellgewebe schwinden.

Wenn also die Muskelthätigkeit als der naturgemässeste Faktor sich erweist, um die alten, untauglich gewordenen Blutbestandteile, die ausserdem leicht als Krankheitsstoffe im Körper sich aufhäufen und ablagern, schneller aus dem Körper zu entfernen und gegen neue, lebenskräftige einzutauschen, so kann selbstverständlich eben sowohl jene Aufhäufung und Ablagerung dadurch verhütet, als, wo sie schon erfolgt ist, beseitigt, mithin darauf beruhende Krankheit geheilt werden. Man darf dabei zwar nicht vergessen, dass zur vollständigen Erreichung derartiger Heilzwecke hauptsächlich auch eine entsprechende Regulierung der ganzen übrigen Lebensweise, sehr oft auch noch anderweite ärztliche Nachhilfe erforderlich ist; immerhin aber bleibt eine den individuellen Verhältnissen angepasste Muskelthätigkeit dabei eine der wesentlichsten und naturgemässesten Heilpotenzen. – Es gehören in diese Kategorie namentlich die so gewöhnlichen chronischen Unterleibsleiden des reiferen Alters mit dem ganzen Heere ihrer verschiedenartigen Folgeübel: Verdauungsschwäche, Hartleibigkeit, Anschoppungen der Leber und Milz (des Pfortadersystemes), daher rührende Kopfleiden, sog. materielle Hypochondrie, Melancholie u. s. w., sowie die mit mangelnder oder fehlerhafter Blutbereitung verbundenen Krankheitszustände des jugendlichen Alters, wie: Blutarmut (Bleichsucht), Skrofelkrankheit u. s. w. – Ausserdem wird die gymnastische Behandlung dieser Gruppe von Krankheiten noch durch eine direkte mechanisch-heilsame Einwirkung gefördert, die mit der speziellen Gymnastik der Unterleibsmuskeln verbunden ist, und auf welche wir bald wieder zurückkommen werden. – Auch ist noch eine andere mechanische Einwirkung, welche jede allseitige Gliederbewegung auf die Belebung der ganzen, für die Gesundheit so wichtigen Hautthätigkeit ausübt, nebenbei damit verbunden und nicht gering anzuschlagen. Es ist dies die sanfte, heilsame Hautfriktion, welche die in Bewegung gesetzten Körperteile mittelst der Kleidungsstücke erfahren, auch wenn diese den Körper nur lose umgeben.

Ein anderes physiologisches Verhältnis, wodurch die Muskelthätigkeit eine wichtige Heilwirkung zu vollbringen vermag, ist die innige Beziehung und Wechselwirkung, in welcher das Muskelsystem zum Nervensysteme, d. h. die Muskel- (Bewegungs-) Nerven zu den Empfindungs-Nerven stehen. Auf dem ganz normalen Zustande des Nervensystemes in allen seinen Teilen beruht offenbar zunächst unser ganzes körperliches und gemütliches Wohlbefinden. Ganz besonders scheint es darauf anzukommen, dass sich jene beiden Seiten des Nervensytemes hinsichtlich ihres Erregungs- und Thätigkeitszustandes die Wage halten. Eine Seite kann sich nur auf Kosten der anderen über den Gleichgewichtspunkt hinaus erheben, aber auch nur vermittelst derselben auf das Gleichgewicht zurückgeführt werden. Auf diesem Verhältnisse beruht die erregend -kräftigende und die bei Überreizung des Nervensystemes so willkommene heilsam ableitende, gleichsam entlastende, auch das Gemüt erheiternde Wirkung einer individuell entsprechenden Muskelthätigkeit. So wird dieselbe in der Hand des Arztes zu einem souveränen Heilmittel oder doch wenigstens zu einem unentbehrlichen Unterstützungsmittel der Kur: bei Muskellähmungen, reizbarer Schwäche oder Stumpfheit des Nervensystemes, nervöser Hypochondrie und Hysterie, krankhaften, schwächenden Pollutionen, Geisteskrankheiten, gewissen chronischen Krampfkrankheiten, namentlich Veitstanz, Epilepsie u. s. w. – Als ein nicht unbedeutender Nebengewinn für die geistige Seite dürfte es zu betrachten sein, dass aus der regelmässigen Übung des Willens im Vollbringen thatkräftiger körperlicher Äusserungen, aus dem beharrlichen Überwinden körperlicher Schlaffheit und Bequemlichkeit mit psychologischer Notwendigkeit die normale geistige Beherrschung der ganzen körperlichen Seite, eine Erstarkung der Willens- und Thatkraft überhaupt, der Entschlossenheit, des Lebensmutes, der Standhaftigkeit hervorgeht – wodurch also jener gefährliche moralische Feind besiegt wird, an dem bei vielen chronischen Kranken selbst die auserwählt beste körperliche Kur scheitert.

Endlich ist auch noch der Einfluss, welchen die Muskelthätigkeit auf die Vermehrung der Festigkeit der Knochen und Gelenkbänder, sowie überhaupt auf die Formverhältnisse gewisser Körperteile auszuüben vermag, für die Heilkunst benutzbar und auf keine andere Weise zu ersetzen. Der Bau des Knochengerüstes und die Muskellagerung am menschlichen Körper, besonders am Rumpfe, ist nämlich derart, dass der Ausbildungs- und Spannungsgrad der Muskelpartien die körperliche Haltung, Form und die Wölbungsverhältnisse wesentlich mit bedingen hilft. Am meisten gilt dies von dem oberen Teile des Rumpfes, von der Brustpartie. Eine grosse Reihe krankhafter Zustände beruht wesentlich auf mangelhaften räumlichen Verhältnissen der in der Brust und Unterleibshöhle gelegenen, für Leben und Gesundheit hochwichtigen Organe. Es erklärt sich dies leicht daraus, dass bei einer grossen Klasse von Menschen gerade die stärksten armbewegenden Muskeln, welche rings um die Brust gelagert sind, also deren Formverhältnisse mitbedingen, fast niemals in volle Thätigkeit versetzt werden. Soll nun den beengten, verschobenen oder sonstwie mechanisch beeinträchtigten Organen die Möglichkeit verschafft werden, zu ihrer normalen Freiheit und Verrichtung zurückzukehren, oder, wenn dies nicht mehr möglich, ihnen wenigstens eine teilweise Erleichterung vermittelt werden, so ist Verbesserung jener räumlichen Verhältnisse natürlich die erste und wesentlichste Bedingung. Hierzu bietet nun ein individuell richtig berechnetes gymnastisches Verfahren den einzigen Weg dar. Wir suchen hier mittelst der Muskelwirkung, mittelst der durch sie erzeugten mechanischen Extension oder Kompression bald nur auf einzelne Stellen, bald auf den ganzen Rumpf- (besonders Brust-) Umfang erweiternd oder ausgleichend, das Knochengerüst in besseren räumlichen Verhältnissen befestigend einzuwirken. Für diejenigen, welche etwa noch an der Möglichkeit zweifeln sollten, dass auf diesem Wege überhaupt eine Veränderung der räumlichen Verhältnisse der knöchernen Brustwand erreicht werden könne, will ich bemerken, dass ich durch selbst angestellte Messungen auch am erwachsenen Körper öfters schon nach wenig Monaten einer gymnastischen Einwirkung eine Zunahme des Brustumfanges (nach Abrechnung des Zuwachses an Muskelfleisch) von 4-6 cm gefunden habe. Der daraus resultierende beträchtliche Gewinn am kubischen Verhältnisse des inneren Brustraumes lässt sich leicht berechnen.

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Bisher war von der Gymnastik die Rede, insofern sie es mit der Erfüllung eigentlicher Heilzwecke zu thun hat. Aber auch die Notwendigkeit einer allgemeineren Einführung der hygienischen (d. h. gesunderhaltenden, vorbeugenden) Gymnastik, also derjenigen, die nicht auf Heilung bereits vorhandener Krankheitszustände, sondern auf deren Verhütung abzielt, springt um so klarer in die Augen, wenn wir einen prüfenden Blick auf das gewöhnliche körperliche Leben derjenigen Menschen werfen, die bewegungsarm zu nennen sind, und zu denen aus den höheren Ständen fast alle gehören.

Vergleichen wir nämlich dasselbe mit dem als wahrhaft gesundheitsgemäss anzunehmenden durchschnittlichen Massstabe irgend einer gewöhnlichen körperlichen Bewegung Als ein solcher möge z. B. eine auf die Tageszeit verteilte, zusammen nur etwa vierstündige Beschäftigung mit den verschiedenartigen (nach Umständen schwereren oder leichteren) Gartenarbeiten betrachtet werden. Wie vielen Menschen ist jede Möglichkeit benommen, sich etwas dem Ähnliches auf gewöhnlichem Wege regelmässig zu schaffen!, so erkennen wir auf den ersten Blick, dass nicht nur die Summe und Intensität ihrer gewöhnlichen Bewegung hinter dem normalen Masse weit zurückbleibt, sondern dass auch die Art ihrer Bewegung eine höchst einseitige, ganz ungenügende ist. Da, wo das Gehen die fast alleinige in Betracht kommende Körperbewegung ausmacht, sind namentlich vier, für den ganzen Lebensprozess einflussreiche Muskelpartien in ihrer Entwickelung vernachlässigt und der Verkümmerung überlassen: 1. die Schultermuskeln, 2. die Brustmuskeln – beide wegen Unthätigkeit der Arme, 3. die Bauchmuskeln, 4. die Rückenmuskeln – die beiden letztgenannten Muskelpartien wegen Mangel der Rumpfbewegungen.

Zu 1 und 2. Die um die Schultern und die Brust gelagerten Muskeln haben die Bestimmung, sowohl die Armbewegungen, als auch die rhythmische Erweiterung und Zusammenziehung der Brustwand, worin der Mechanismus des Atmungsprozesses besteht, zu bewirken. Von der Beschaffenheit des Atmens aber hängt der Blutumlauf in den Lungen ab, mithin die für die Unterhaltung des Lebens ununterbrochen notwendige Veredelung, die chemische Beseelung des Blutes (der Stoffaustausch zwischen Blut und Atmosphäre). Ohne Atmen kann der Mensch nicht eine Minute existieren, ohne Speise und Trank aber tagelang. Mit der Stärke des Atmens steht daher die Energie des gesamten Lebens in geradem Verhältnisse. Durch Mangel der Bewegung überhaupt, ganz besonders aber der Armmuskeln, wird das Atmen schwächer und unvollkommener. Das elastische Knochengerüst der Brustwand gelangt entweder gar nicht zu seiner vollen Entwickelung und Ausweitung, oder die Brust sinkt nach und nach wieder zusammen. Die Lungen werden dadurch zusammengedrückt und mangelhaft ventiliert, es können sich daselbst lebensgefährliche Krankheitskeime (Schwindsuchtsbacillen) ansiedeln; es entstehen mit der Zeit leicht Erkrankungen des Herzens sowie vielfache Störungen der ganzen Körperernährung, alle die Folgen ungenügender Sauerstoffzufuhr und ungenügenden Stoffwechsels: Stockungskrankheiten, Gicht, Steinerzeugung etc. – Es ist also nicht genug, dass wir für reine Beschaffenheit der einzuatmenden Luft Sorge tragen, sondern wir müssen vor allem darauf bedacht sein, dass die gesunde Luft in gehöriger Menge in unsere Lungen eindringen könne. Dies ist nur dadurch möglich, dass wir unsere Atmungsmuskeln in ihrer vollkräftigen Wirksamkeit erhalten. Ein atmungskräftiger Mensch wird sogar die Nachteile einer minder reinen Luft viel länger von sich abhalten können, als ein atmungsschwacher Mensch, weil ersterer in der grösseren Gesamtmenge der eingeatmeten, wenngleich sauerstoffärmeren Luft doch viel länger, als letzterer, immer noch das Bedarfsquantum von Sauerstoffgas vorfindet. Dies ist deshalb so wichtig, weil wir nicht immerwährend in absolut reiner (sauerstoffreicher) Luft atmen können.

Zu 3. Die Bauchmuskeln bilden beinahe ringsum die zwischen Rippen und Hüftknochen befindliche weiche Bauchwandung. Dieser teils fleischige, teils sehnige Muskelapparat dient, vermöge seiner dem willkürlichen Gebrauche überlassenen Zusammenziehungen, sowohl zur Förderung und Belebung der Funktionen der Unterleibsorgane (Verdauung, Säfteumlauf, bei den Ausleerungen, beim Gebärakte u. s. w.), als auch zur Sicherung der Lage und zum Schutze der Unterleibsorgane bei starken Körperbewegungen und Kraftäusserungen. Ausserdem sind die Bauchmuskeln beim Ausatmen (mithin auch beim Sprechen, Singen, Schreien, Lachen, Husten) und bei den verschiedenen Rumpfbewegungen wirksam. Man ersieht daraus, was für vielseitige nachteilige Folgen die mangelhafte Ausbildung und Schlaffheit der Bauchmuskeln haben muss, wie Trägheit und Stockung aller Unterleibsfunktionen, die Entstehung von Bruchschäden, beim weiblichen Geschlechte schwere Entbindungen und Wochenbetten damit in direktem Zusammenhange stehen.

Verdauung und Atmung sind die beiden wichtigsten Prozesse des animalischen Lebens. Die erste bereitet das Blut aus den Nahrungsmitteln, die zweite veredelt es bis zu derjenigen Lebensstufe, dass es die organische Verjüngung, den normalen Stoffwechsel, die Grundbedingung des Lebens und der Gesundheit, zu unterhalten vermag. Beide Prozesse sollen, sowohl einzeln gegen einander als auch zusammen dem Bedürfnisse des Gesamtorganismus gegenüber, im harmonischen Verhältnisse erhalten werden. Hierin besteht die allgemeinste Aufgabe aller ärztlichen Bestrebungen. Nur ist die hohe gesundheitliche Wichtigkeit des Atmungsprozesses, mithin der Ausbildung und Pflege der Atmungsmuskeln, noch immer nicht allgemein genug anerkannt.

Zu 4. Die Rückenmuskeln dienen zur Streckung, Aufrecht- und Straffhaltung, sowie zu seitlichen Beugungen des Rückgrates (also des ganzen Rumpfes) und sind auch beim Ein- und Ausatmen mitwirkend. Ihre Beschaffenheit und Thätigkeit ist demnach in mehrfacher Hinsicht von wichtigem Einflusse auf den ganzen Lebensprozess. Namentlich ist die von ihnen abhängige Geradehaltung des Rumpfes in der Dauer sehr wichtig ebensowohl für das freie Vonstattengehen der Funktionen der Brust- und Unterleibsorgane, die bei andauernd krummer und zusammengesunkener Rumpfhaltung stets wesentlich leiden, als auch, ganz besonders in der Jugend, für die Erhaltung der fehlerfreien Form des Rückens und des ganzen Körpers. Aus derartigen Mängeln entstehen die meisten Rückgratsverkrümmungen. Aber auch noch in anderen Beziehungen ist der Kraft- und Thätigkeitszustand der Rückenmuskeln von wichtigem allgemeinen Einflüsse; nämlich: a) weil das Rückgrat den in der Mittellinie des Körpers befindlichen allgemeinen Stütz- und Haltpunkt für die übrigen Körperbewegungen bildet, deren Intensität mehr oder weniger von der Straffheit der Rückenmuskeln abhängig ist; b) weil durch die kräftige Thätigkeit der Rückenmuskeln höchstwahrscheinlich eine Kräftigung des Rückenmarkes auf direktestem Wege (durch die organische Nachbarschaft der Nerven und Blutgefässe) bewirkt wird, und davon wieder eine Kräftigung der normalen und Verhütung der abnormen Reflexwirkungen und Stimmungen des Nervensystemes, sowie ein leichteres Überwinden äusserer, ausserdem krankmachender Einflüsse (kräftigere allgemeine Reaktion) die Folge ist. Ein lebensfrisches kräftiges Rückenmark ist sicherlich eins der wesentlichsten Schutzmittel gegen allgemeine Schwächlichkeit und Reizbarkeit, gegen die vielgestaltigen Lebensfeinde: die Hypochondrie, Hysterie u. s. w.

Ein prüfender Blick auf die gewöhnlichen Gesundheitsverhältnisse bewegungsarmer Menschen bestätigt die Wahrheit des Gesagten und bringt in die Mehrzahl ihrer krankhaften Erscheinungen einen leicht erklärlichen Zusammenhang.

Entweder, wenn, wie so häufig, der Bewegungsmangel schon in der Jugend seinen erschlaffenden Einfluss übt, gelangt der Körper gar nicht zu seiner vollen normalen Entwickelung. Er bleibt fehler- und mangelhaft, teils hinsichtlich seiner Form, teils hinsichtlich seiner Lebensverrichtungen. Es kommt zu keinem kräftigen ungestörten Aufblühen. Allgemeine Blutarmut oder qualitativ fehlerhafte Säftemischung umspinnt das jugendliche Leben mit einer Kette zahlreicher Kränklichkeiten, die Einflüsse der Aussenwelt drücken die zarte Pflanze leicht darnieder, ernsthafte Krankheiten, besonders der Brustorgane, bedrohen das Leben in seiner Blütezeit.

Oder, der Bewegungsmangel gesellt sich erst zu gewissen Lebensverhältnissen des erwachsenen Alters. Die Vollkraft des Blütelebens überwindet zwar oft einige Zeit hindurch die Nachteile und lässt den Mangel jenes natürlichen Bedürfnisses nicht gerade fühlbar hervortreten. Aber dies dauert in der Regel nur bis zum mittleren Lebensalter hin. Wenn nicht früher, so doch jetzt, treten – man weiss meistens nicht woher? – diese oder jene bisher ungekannten Erscheinungen, die vorzugsweise sogenannten Krankheiten des mittleren Lebensalters Die vermeintliche Unverwüstlichkeit der Jugendkraft ist vorüber. Soll das Schwungrad des Lebensprozesses noch lange Zeit auf dem Gipfelpunkte fortschwingen, ohne der abwärts neigenden Bahn zuzueilen, so hängt dies zunächst davon ab, ob während der aufwärts gehenden Lebensperiode mit dem individuellen Masse von Lebensfülle haushälterisch umgegangen, d. h. ob dasselbe weder durch Unthätigkeit der Verkümmerung überlassen, noch durch unausgleichbaren Zuvielgebrauch erschöpft, sondern ob das Kapital durch angemessenen Gebrauch, also durch Entwickelung der Vollkraft der Organe, möglichst vermehrt wurde, und sodann davon, ob das Leben jetzt, wo es den Gipfelpunkt erreicht hat und nicht mehr denselben, alles ausgleichenden Überfluss von Kraft besitzt, durch eine massige und mehr berechnete Lebensweise, d. h. durch einfach natürliche und nach unbefangener Selbstbeobachtung zu bemessende Lebensreize (unter denen Muskelthätigkeit obenan steht) angefrischt und unterstützt wird. Die allgemeinste und wesentlichste Bedingung ist jetzt eine sorgsamere Beachtung des Gleichgewichtes zwischen Einnahme (Stoffaufnahme) und Ausgabe (Kraftverwendung) des Organismus in seiner Totalität, oder genauer ausgedrückt: des Gleichgewichtes in der Thätigkeit der Einnahmeorgane (Verdauungsorgane) und der Ausgabeorgane (Gehirn und Muskeln) untereinander. Der physische Mensch in der zweiten Lebenshälfte lebt von den Zinsen des in der ersten Lebenshälfte zusammengebrachten Kapitales an Lebenskraft. Die Zinsen sind die im Organismus fort und fort sich aufspeichernden Kraftsummen (die Summen der zur Kraftentwickelung fähigen organischen Bestandteile); das Kapital: die Fähigkeit, immer wieder neue ergänzende Kraftsummen zu erzeugen – der innere Urquell der Lebenskraft. Die Zeit der Vermehrung des Kapitales ist vorüber. Der Zinsgenuss bleibt nur ein ausdauernd ergiebiger bei guter Verwaltung der Zinsen; bei entsprechendem Kraftgebrauche, bei guter Verwendung des aufgespeicherten Kraftmateriales. Nur dadurch vermag der Mensch das Kapital seiner Lebenskraft ungeschwächt (sich also auf dem Höhepunkte des Lebens) möglichst lange, d. h. so lange zu erhalten, als bis das abwärts gehende Zehren vom Kapitale (das Altern) durch die Gesetze der Natur bedingt ist., hervor: das Heer der chronischen Unterleibsleiden, Hämorrhoidalbeschwerden, Blutkongestionen, Vorboten der Gicht, asthmatische Beschwerden, Hypochondrie, Hysterie, Melancholie, Muskelschwäche, Anwandlungen von Schlagfluss u. s. w. Wohl dem, der die ersten Winke der an ihre Rechte mahnenden Natur versteht und beachtet, denn: Verhüten ist leichter als Heilen. Wollen wir nicht eher an unseren Körper denken, als bis er durch Schmerz oder Krankheit an sein Dasein erinnert, so ist es oft zu spät. Er ist ein unserer Obhut und vorsorglichen Pflege anvertrautes Gut. Auch das zweckmässigste Heilbestreben stösst oft auf Grenzen, jenseit welcher nichts bleibt, als – Ergebung.

Dies ist in flüchtigen Umrissen das Bild, dessen Abdrücke das Leben in zahlloser Häufigkeit und Vielgestaltigkeit darbietet. Wir irren sicherlich nicht, wenn wir den Bewegungsmangel, obschon nicht als die alleinige, aber doch als eine der wesentlichsten Entstehungsursachen aller von dem Rahmen jenes Bildes umfassten Lebensfeinde beschuldigen. Wir erkennen daraus das unabweisbare Bedürfnis einer hygienischen Gymnastik für alle diejenigen, deren Lebensverhältnisse ausserdem fast keine andere Muskelthätigkeit, als das einfache Gehen, gestatten. Und wenn auch hin und wieder einzelne Menschen von jenen schweren Strafen des Bewegungsmangels verschont bleiben, so macht sich derselbe doch in allen Fällen durch ein früheres Altern und Stumpfwerden, durch Verkrümmung und Zusammensinken des Körpers, durch Steifwerden der Glieder, allgemeine Kraftlosigkeit u. s. w. geltend. Bei etwas normalerer Lebensweise bedingt ein Alter von 60-70 Jahren noch keine Stumpfheit. Bei muskelthätigen und übrigens naturgemäss lebenden Menschen, selbst unter minder günstigen klimatischen Verhältnissen, gehört volle Rüstigkeit noch in den 70er und 80er Jahren nicht zu den staunenswerten Seltenheiten. Lebe mässig, regsam und zufrieden – sind die drei Worte, die uns die hygienische (Gesundheits-) Philosophie zuruft, und deren Befolgung uns ein glückliches Alter verheisst. Hiermit im innigsten Einklange steht das Gebot der ethischen Lebensphilosophie:

Ringe nach voller Herrschaft über dich selbst, über deine geistigen und leiblichen Schwächen und Mängel. Beginne mutig diesen Kampf ( sapere aude!) – auf welcher Stufe des Lebens auch immer du dich befinden magst, es ist nie zu spät –, und bleibe unermüdlich in dem Streben nach dieser wahren (inneren) Freiheit, nach Selbstveredelung. So wirst du innerhalb der Grenzen, die von höherer Hand dem irdischen Leben gezogen sind, von Sieg zu Sieg bis an das letzte Lebensziel mit dem beseligenden Bewusstsein gelangen, die Aufgabe deines Lebens würdig gelöst zu haben.

Denn in der treuen Erfüllung dieser beiden Gebote, des hygienischen und des ethischen, beruht das ganze Geheimnis der schwersten, aber edelsten und wichtigsten aller Künste, der Lebenskunst, d. h. der Kunst, richtig zu leben.


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