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XVI

Bis auf Weiteres

Emanuel Quint, ein Höhenzug der modernen deutschen Dichtkunst, steht auch im Schaffen seines Dichters so überragend hoch, daß die beiden Werke, die unmittelbar darauf gefolgt sind, schon durch diesen Abstand zu leiden haben. Mit der Berliner Tragikomödie » Die Ratten« wollte Gerhart Hauptmann 1911 noch einmal beim konsequenten Naturalismus seiner Jugend einkehren; bei jenem angeblich längst überwundnen, längst abgewirtschafteten Naturalismus; der, wie jede andre künstlerische Daseinsformation, ewig bereitsteht und bloß von der geeigneten Dichterhand aus dem Arsenal geholt zu werden braucht, wenn man ihn braucht. Man braucht ihn, wenn man im Nächsten das Höchste, im Gemeinsten das Reinste, im Niedrigsten das Tiefste finden will.

Es ist nicht gerade das Berliner »Scheunenviertel«, wo diese mehr tragische als komische Tragikomödie vor sich geht. Aber es ist einer jener Winkel Berlins, wo ehrbares Handwerk, Dirnenschaft, Verbrechertum eng beisammen wohnen. Es ist das Milieu einer Anekdote, die Theodor Fontane seinem Freunde Lucae gern nacherzählte. Ein junger Arzt hilft der Frau eines armen Kerls. Der Mann: »Na Herr Doktor, wat is et denn?« Doktor: »Ein Mädchen.« Der Mann: »Een Mächen? Na, denn schieben set man wieder rin; et wird doch man 'ne Hure.« So hätte auch Hauptmanns Maurerpolier John, eine Art Fuhrmann Henschel, sprechen können, dessen Frau die Schwester eines ziemlich schweren Jungen ist. Sie hat ihr Adelbertchen verloren und diesen Verlust des Mutterherzens so wenig verschmerzt wie ihr Mann, der brave Polier. Nun hatte sie sich zum zweiten Male Mutter geglaubt, aber ihre und des Mannes: Vorfreude war umsonst. Da faßt sich die herzhafte Frau ein Herz und bringt dem Mann, der von auswärtiger Arbeit heimkehrt, ein angenommnes Kind als ihr eignes dar. John schwelgt im Vaterglück. Vollends der Frau wird das kerngesunde, kräftige Bübchen wie ihr eignes. Denn mit Frau Flamm teilt sie das Gefühl, daß es für ein Weib kein größeres Glück gibt, als Mutter zu sein. Aber der fromme Betrug rächt sich. Auch in der wahren Mutter des Kindes, in der Straßendirne regt sich der Muttersinn. Zuerst will sie das Kind sehn, dann haben. Es kommt dazu, daß das Kind auf dem Standesamt doppelt gemeldet ist; als unehelicher Knabe und als Kind der Johnschen Eheleute.

Hier steht der Konflikt der beiden Mütter am Scheideweg zu Komik und Tragik. Der Dichter wählt den Weg zur Tragik und wühlt mit der ihm eignen psychologischen Gewalt und Wärme alles auf, wessen Mütter im Löwinnenkampf um ein Kind fähig sind. Vor allem Mutter John! Ihr ganzes tiefes, heißes, inniges Gemüt beherrscht der eine Gedanke: das Kind behalten! Dieser Zweck heiligt die bösesten Mittel. Sie will der rechten, der schlechten Mutter ein fremdes, degeneriertes, kaum lebensfähiges Nachbarskind unterschieben; dieser Wechselbalg stirbt unter den Händen derer, die um ihn streiten. Sie geht weiter: sie veranlaßt ihren verbrecherischen Bruder, die Rivalin auf gute Manier zu beseitigen. Er beseitigt sie auf schlechte Manier: er schlägt sie tot. Nun hat der Muttertrieb zum Kind einen Mord bewirkt. Nun beginnt die Kriminalpolizei zu forschen, zu verhören, und alles kommt ans Licht der Sonnen.

Aber alles das ist vom Dichter wenig fein gesponnen. Die gute Absicht, Kriminalistisches im Hintergrunde zu lassen und aus seelischen Symptomen, aus dem Verrate des bösen Gewissens die Tat der Frau ruchbar zu machen, führt hier zu Unklarheiten im Tatsächlichen. Diese Unklarheiten steigern sich noch durch etwas Fremdes, das sich breit und anspruchsvoll in den Gang der Müttertragödie eindrängt. Der Dichter wollte auf den Weg der Tragik die Komik zurückzwingen. Zu jener Zeit, da Gerhart Hauptmann im Übergang von der Bildhauerkunst zur Dichtkunst Schauspieler werden wollte, nahm er dramatischen Unterricht bei Alexander Hessler. Dieser damals in Berlin vazierende Straßburger Theaterdirektor war »vieux jeu«, und der junge Naturalist lief bald wieder aus seiner Schule. Aber der Mann selbst scheint ihn ergötzt zu haben. Vielleicht, weil er ihn damals nicht weit von den »Scheunen« und »Ratten« Berlins getroffen hatte, setzte er nun sein gelungnes Ebenbild dick ausgepinselt mitten in die Berliner Tragikomödie vom Muttertrieb zum Kinde. Im dritten Akt, wo die tragische Heldin, die »tragische Muse« der Mulackstraße, nur vorübereilt, macht sich sein liebenswürdiges, aber hohles Komödiantentum besonders breit. Harro Hassenreuter hätte ein besonderes Lustspiel verdient; er könnte ein Seitenstück zum »Collegen Crampton« werden. In den »Ratten« ist er bald Räsonneur, bald Statist, bald störend. Seine Beziehung zur Familie John ist erkünstelt. Frau John bewacht seinen Theaterfundus, der in einer Dachkammer untergebracht ist und dort von den Ratten angefressen wird. Ratten und Plunder, das ist die Signatur des Milieus der großen Mietskaserne, in der unter vielen andern auch der kaltgestellte Komödiant und das gute Ehepaar John aus der Höhe in die Tiefe, aus der Tiefe in die Höhe steigen. Harro Hassenreuter hatte bei der Berliner Aufführung in Brahms Theater das vorletzte Wort.

Das vielumkämpfte Wickelkindchen liegt in seinem blühweißen Steckkissen auf dem Kaffeetisch und schläft; die rechte, schlechte Mutter fand man ermordet am Spreeufer, die falsche, gute Mutter stürzt sich gerade zum Fenster hinaus. Da spricht der alte Schauspieler, der sonst immer die Tragik gewöhnlicher Leute leugnete, mit edler Gebärde im Tone Delobelles das naturalistische Bekenntnis aus: »Wir haben das Haupt der Gorgo gesehen!« Das letzte Wort aber hatte damals seine dicke, asthmatische, appetitliche weißhaarige Frau, die er gern betrügt: »Was weiß der Mann, was eine Mutter ist!«

Es war einleuchtend, daß dieses Wort, welches der Schluß der Buchausgabe nicht kennt, ausgesprochen wurde. Denn in diesem Worte liegt alles Schöne, alles Dichterische des Stückes, das schwach, hart, ungefügig gezimmert ist, mit buckelnden Anbauten und weitläufigen Nebenbauten. Um Jette John herum stehn viele, zu viele Figuren. Nicht von jeder führt eine sichtbare Linie nach dem Mittelpunkt. Das hängt mit der Hyperepisode des Theaterdirektors zusammen, der noch einige Schüler, Kollegen und sogar einen dicken Landpastor nach sich zieht. Die Komik drängt sich oft vor, wo sie nicht am Platze ist. Aber in dieser Schwerfälligkeit wohnt eine Fülle des Herzens, und gerade hier hatte sich dem Dichter wieder mit der Wucht ihrer starken Seele seine älteste und treuste Verbündete in den Arm gehängt: Frau Else Lehmann. Vom strahlendsten Mutterglück durch alles Bangen, Sorgen und Ängsten, durch, seliges Erinnern an längst vergangne schöne Jugend- und Liebeszeit, aber auch durch eine herbe Anklage gegen den Mann, dem seine Arbeit näher war als sein Weib, durch allen Trotz gegen das Feindliche, der auch handgreiflich werden kann, durch einen bitterzarten Lebensabschied vom verkommnen Bruder, durch alle Verwirrungen des Gefühls, die schließlich zur halluzinatorischen Verirrung des Geistes führen, bis zum allerletzten Verzweiflungsschritt ging diese Frau unentgleisbar den Weg der Wahrheit und der Menschlichkeit. Jette John war Else Lehmann, und Else Lehmann war wieder eine schöne Dichtung Gerhart Hauptmanns.

»Die Ratten« stammen aus des Dichters epischer Zeit. Vielleicht wäre auch ihnen die erzählende Kunstform erspießlicher gewesen. Alles, was jetzt als unzusammenhängend empfunden wird, hätte sich enger aneinander geschmiegt, wäre in deutlichere Kontraste getreten. Das Rattensymbol, das ganz unklar blieb, hätte sich durch breitere Darstellung gelichtet und doch verdichtet. Die Willkürlichkeiten der Ortseinheit, die das Drama hier fordert, wären vermieden. Gerhart Hauptmann sah vor sich einen Zolaschen Stoff, der zur Zolaschen Behandlung drängt. Doch der Dichter wollte es anders. Zwar verweilte er noch bei der Romanform, aber zum Romanstoff wählte er Eindrücke seiner Fahrt über den Atlantischen Ozean, die sich ihm auf der Reise nach Griechenland wieder erneuert hatten. Und da ihm der griechische Frühling noch in der Seele blühte, so nannte er den Roman, dessen großes Hauptstück die meisterhafte Schilderung eines Schiffbruches ist, » Atlantis«.

Von der Rieseninsel Atlantis, die im Ozean versunken sei, fabelten die Griechen. Der moderne Dichter, den schon früh die Vinetasage bewegte, dem die versunkene Glocke zum Sinnbild versunkenen Lebens ward, steigt auf einen der großen Amerikadampfer, sieht darauf eine Welt für sich, eine fahrende Rieseninsel und träumt von Atlantis. Wie Atlantis, wie Vineta, wie Meister Heinrichs Glocke, so versinkt, kurz bevor die Titanic auf das dichterische Exempel eine Probe der Realität geben konnte, der Lloyddampfer Roland, auf dem der gescheiterte Arzt Friedrich von Kammacher die Überfahrt nach Amerika machen wollte. Auf ähnliche Weise und aus ähnlichen Gründen, wie 1892 Gerhart Hauptmann selbst, unternimmt Friedrich die Reise. Beide zwang eine Herzensangelegenheit, plötzlich in Paris alles stehn zu lassen, mit erster bester Gelegenheit nach Southampton hinüberzufahren und dort auf den fälligen Bremer Riesendampfer zu steigen. Das Schiff, auf dem Hauptmann fuhr, war damals in Gefahr und ging später wirklich unter. Das Schiff, auf dem Friedrich von Kammacher fährt, scheitert, und nur wenige werden gerettet. Zu den Geretteten gehört Friedrich.

Hauptmann selbst wurde durch einen Zwang des Schicksals über das Meer getrieben. Er hatte Pflichten und Rechte zu wahren. Er lag im Kampf um den Bestand seines Hauses. Die Romanfigur Friedrich von Kammacher hingegen läßt sich durch ein Irrlicht locken. Eine Verwandte Rautendeleins, Pippas, Gersuinds lag ihm in den Sinnen. Ihr Name klingt an Gersuind an: sie heißt Ingigerd. Sie ist eine jener Kunst-, Poesie- und Programmtänzerinnen, wie sie sich seit Isidora Duncan in den berückendsten Formen sehn lassen. Mit Vorliebe und besondrer Begabung geben sie sich kindlich, sodaß gereifte Männer zu ihnen sprechen: »Mir ist als ob ich die Hände aufs Haupt dir legen sollt«. Auch Friedrich hatte bei Ingigerds Kunstproduktion die hinreißende Empfindung, daß dieses arme Kind einen Beschützer, daß Mignon einen Wilhelm Meister brauchte. Als er hört, sie sei mit dem Roland unterwegs nach New York, um dort öffentlich aufzutreten, kommt es über ihn. Er holt das Schiff in Southampton ein. Als das Schiff sinkt, rettet er sie und sich. Ohne ihn wäre sie mit der großen Mehrzahl der Passagiere, zu denen auch ihr Vater und ein dicker wienerischer Brakenburg gehörte, untergegangen. Das kleine Weltwunder nicht für sich, sondern der Welt zu retten, war die höhere Bestimmung seiner übereilten Reise. Obwohl er immer wieder, wie Kaiser Karl von seiner Geisel, von ihr neu angelockt wird, so war er doch schon vor dem Schiffbruch und der Lebensrettung widrigsten Enttäuschungen ausgesetzt. Statt der »Blume so hold und schön und rein« findet er ein höchst raffiniertes Biestchen, statt des gequälten Tierchens eine kleine Tierquälerin; nicht kindlich, sondern kindisch; in ihrer Lebensart wenig wählerisch; gutherzig, aber ohne Herzenstakt; ihre eigne angeborne Grazie unfein und unzart entstellend. Er, der ihr wie ein girrender Schäfer nachgezogen war, fühlt sich bald durch sie kompromittiert und hängt sich schon gleich auf dem Schiff eine Jüdin von Odessa an den Hals: Hanna Elias in jungen Jahren. Das ganze Liebesabenteuer trägt seitens des Mannes einen Zug von Albernheit und ist nicht Selbstzweck. Wie Gerhart Hauptmann so etwas ernst nimmt, bewies »Kaiser Karls Geisel«.

Im Romane dient der erotische Handel zum Vorwand, um einen Schiffbruch zu schildern. Wir erleben ihn mit Friedrich von Kammacher. Nur was dieser sieht und hört, fühlt und denkt, findet und träumt, wird von uns nachempfangen. Er ist der klassische Zeuge dieses großartigjammervollen Elementarereignisses. Deshalb konnte ihn der Dichter, der ihn durch eine so tragisch-»kosmische« Situation führt, nicht mit jenem überlegnen Humor behandeln, den der dumme Streich eines klugen Menschen verdient. Dieser ganze Friedrich von Kammacher mit seiner unwahrscheinlichen Generalsherkunft und bakteriologischen Laufbahn, mit seiner geisteskranken Frau und seiner knabenhaften Leidenschaft für das Tanzweibchen wäre nur durch sympathisierende Ironie menschlich zu nehmen gewesen. Doch so, wie er ist, wirkt er nicht als Person an sich, sondern als Instrument, auf dem der Dichter die gewaltige Symphonie der Ozeane und Orkane zwar mit höchster Virtuosität spielt, aber nicht ohne an Lederstrumpf zu denken. Was unsre Jugend bei Robinson Crusoe und Masterman Ready so sehr aufregte, das zeigt sich hier gleichsam im Zustande der Erwachsenheit.

Hauptmanns Kraft der Anschauung und Phantasie, die aufeinander wirken, verleugnet sich nirgends. Man findet sich auf dem ganzen Schiffskoloß zurecht und sieht, wie jeder seiner Teile zerstört wird. Man überblickt das ganze Gewimmel der Mitreisenden, aller Passagiere aller Klassen, der Offiziere, Matrosen und Schiffsjungen, der Stewards und der Heizer. Man nimmt in der Stunde des Endes mit Schrecken von jedem Abschied, weil man ihn auch bei flüchtigen Begegnungen gut gekannt hat. Mit dem Elementaren und Kosmischen verwirkt sich das Gesellschaftliche, das Gemeinsame, das Persönliche, das Berufliche, das Mechanische einer solchen in sich geschlossenen, von Gegensätzen durchfurchten Welt, der plötzlich der Weltuntergang droht. Daß sich aus dieser Sintflut eine Hand voll guter Bekannter in die Arche Noah rettet, daß dazu unser Gewährsmann Kammacher gehört, ist ein Zufall, wie es ein Zufall ist, der diese ganze bunte Menge zusammengewürfelt hat. In den fürchterlichsten Augenblicken erschien der Untergang des Schiffes ein Symbol für den Untergang der Welt. Aber die Geretteten bleiben in der Welt, sogar in der Neuen Welt, in der weltlichsten aller Welten, und zuletzt kehrt unser verunglückter Amerikafahrer Friedrich von Kammacher reumütig in sein altes Europa zurück. Das ganze war ein Abenteuer, eine Laune des Schicksals, eine kleine Irrung mit großen nicht ganz zur Sache gehörigen Folgen.

Aus dieser Mißstimmung zwischen Wesen und Wirkungen erklärt es sich, daß nach der übermächtigen Sensation des Schiffbruchs der Menschlichkeitsgehalt des Romans verblaßt. Diese Geretteten, die auf hoher See ein gigantisches Schicksal gepackt hielt, laufen in Amerika wieder als Alltagsmenschen durch den Werkeltag, und kaum einer trägt die Spur der großen Stunde, die er durchlebt hat. Es ist, als seien sie für eine tragische Erfüllung bestimmt gewesen, und der Dichter habe sie plötzlich wieder zu Speise und Trank verurteilt. Man wird ihrer zuletzt überdrüssig und preist das Los derer, die mit dem Roland, wenn auch nicht in Schönheit, so doch in Größe starben, wie jener Kapitän des Schiffes. Ein Schiffsjunge, der ihn vergöttert, bringt ihm auf die Kommandobrücke einen Rettungsgürtel. Mit stummem Dank lehnt er den Liebesdienst des Burschen ab, dann aber wirft er ein paar Bleistiftzeilen aufs Papier, den Abschiedsgruß an seine Schwestern. Damit rettet er zugleich den Jungen, denn nun fühlt dieser die Pflicht, sich selbst zu retten, um den letzten Wunsch seines Kapitäns zu erfüllen. Wir sind beiden, dem Kapitän wie dem Schiffsjungen, immer nur im Vorbeigehn begegnet, und doch gebe ich für diesen letzten Befehl und Gehorsam den ganzen zu einem Typus aufgeblähten Friedrich von Kammacher und seinen Ingigerdrummel hin. Auch daß sich Friedrich von Kammacher zuletzt statt des Tanzmädchens eine jener modernen Frauen heimführt, die man maskulinisch als »tüchtiger Mensch« zu bezeichnen pflegt, kann seine Werte nicht mehr erhöhen.

In die zweite, überbreite Hälfte des Romans hat der Dichter offenbar viel von seinen amerikanischen Erlebnissen hineingestopft, aber diese Erlebnisse wachten zu keinem neuen Leben auf. Der Dichter ist mit diesem Romane zu schnell fertig geworden, und fast muß ich es bedauern, daß gerade bei diesem Werke bis auf Weitres Halt zu machen ist. Der »Griechische Frühling« und besonders »Emanuel Quint« wären als Schlußsteine monumentaler gewesen. Allerdings wäre Gerhart Hauptmann kein Dichter, über den sichs verlohnte, ein Buch zu schreiben, wenn er sich nicht überall, wo er steht, als solch ein Dichter bewiese. Die große Konzeption der »Atlantis« verrät ihn doch, und nur die Ausführung läßt jenes nobile officium vermissen, das Gerhart Hauptmann sich selbst schuldig ist. Vielleicht wird der filmreife Roman gerade deswegen umso gespanntere Leser finden.

Wie es heißt, habe sich der Dichter in seinem Schaffen von der Neuen Welt nun wiederum zur ältesten gewandt und beschäftige sich mit Gestalten wie Eumaios, Odysseus und Telemach. Aus den Blüten des »Griechischen Frühlings« wollen Früchte reifen.

Als diesen Modernen im Hafen von Patras das Griechenland von heute einigermaßen alltäglich berührte, erklärte er ausdrücklich: »Wir sehnen uns nach dem Unmodernen«. Diese Sehnsucht könnte man im Romantitel »Atlantis« wiedererkennen. Noch genauer erkennt man aber aus dem amerikanischen Roman, wie sehr viel weniger ihm der Amerikanismus zu sagen hatte als das alte Hellenentum, von dem seiner Phantasie das Land erzählte. Sogar seinen ewigen Geleiter Jesus von Nazareth fand er nicht in Amerika, sondern in Hellas. In Hellas gingen ihm die tiefsten Probleme seiner dramatischen Kunst auf.

In Hellas empfand er, was an den höchsten Gebilden der Kunst mehr als Kunst ist. In Hellas ergriff ihn ein segensreiches und fruchtbringendes Gefühl der Unzulänglichkeit. Unser erster lebendiger Dichter gesteht, daß nicht seine eigne Kunst die wahrhaft dionysische Kunst sei. Er bedauert, daß ihm der musikalische Ausdruck verschlossen sei, um sagen zu können, was Worte nicht besagen, denn »das am tiefsten Stumme ist es, was der erhabensten Sprache bedarf, um sich auszudrücken«. Man denkt an den alten Crampton, der den Naturlaut malen wollte, aber ihn höchstens dichterisch beschreiben konnte. Man denkt daran, mit welchen Empfindungen erhabenster Selbsterniedrigung der Maler Michael Kramer die Maske Beethovens in der Hand hielt; sogar er verlor darüber den Mut zur Arbeit nicht. Auch Gerhart Hauptmann holte sich vom Antaioskusse der griechischen Urerde Lebensmut, Lebenslust und Lebenskraft.

Auf dem Wege von Eleusis nach Athen hörte er, nicht anders als in den Wäldern des Riesengebirges, einen Kuckuck rufen: »Heiter gefragt schenkt er mir drei Jahrzehnte als Antwort. Es ist mir genug.«

Der Kuckuck ist ein guter Prophet. Das deutsche Volk, das jetzt weit über politische Grenzen hinaus den fünfzigsten Geburtstag Gerhart Hauptmanns feiert, wird am 15. November 1937 diesen Dichter noch unter sich haben. Dafür bürgen Ähnlichkeiten mit Goethe und die Weissagung des klassischen delphischen Kuckucks.


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