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XIV

In die Ferne

Wenn Gabriel Schillings Freunde den armen Lebensmüden werden begraben haben, wenn Lucie Heil und Ottfried Maurer, solang' es dauert, wieder allein beisammen sind, so werden sie ihren alten Plan aufnehmen; der Künstler, den man für einen Großen seiner Kunst, wie Max Klinger, halten darf, wird die kluge, ruhige Geliebte in »das Land des goldelfenbeinernen Zeus« führen.

Und wirklich stehn im nächsten Frühling, Ende März, zwei Menschen wieder am Meere, dem die Begleiterin des Künstlers so sehr zugetan ist. Aber dieses Mal ist es nicht die Ostsee, sondern Pippas Adria. Im Hafen von Triest steigen sie auf einen Lloyddampfer; es geht die dalmatinische Küste entlang hinüber nach Brindisi. In Korfu wird längerer Aufenthalt genommen, bis tief in den April hinein; dann erst beginnt die eigentliche Pilgerfahrt: Patras, Olympia, Athen. Die Stätte, wo »der goldelfenbeinerne Zeus« gestanden hat, sucht ein Bildhauer vor allem auf. Aber der Bildhauer ist zum Dichter geworden. Im Kampf zwischen zwei Künsten hat er schon längst die »Frau mit Kranz und Leier« gewählt. Auch noch eine andre Frau hat er schon längst gewählt und sich ihr angetraut, sobald der Weg freigegeben war. Auch ein blonder feiner Knabe ist schon da, der den griechischen Frühling, den olympischen Spielplatz in seine Kinderspiele mitnehmen darf. Denn diese deutschen Menschen in Griechenland sind Gerhart Hauptmann selbst mit Frau und Kind. Ihr »Griechischer Frühling« ist der Frühling des Jahres 1907.

Der Dichter steht mitten im fünften Jahrzehnt seines Lebens. Mit dieser Reise erfüllt sich sein Jünglingstraum. Der schulwidrige Schlesier, der verschriene Gegenwartsmensch und Plebsbeschauer, der ewige Nager am christlichen Problem, der regellos Erzogne hatte von frühester Jugend an einen unbezwinglichen Trieb ins Land der Antike, nicht wie sie im Lehrbuch steht, sondern wie sie einst mag lebendig gewesen sein. Schon als sich ihm ganz jung die Mignonsehnsucht nach Italien erfüllte, lockte ihn eine Hyperionsehnsucht weiter nach Griechenland. Nun endlich ist er da. Es begleiten ihn die Liebsten und Nächsten, aber es begleitet ihn auch Homer; von Insel zu Insel der odysseische Homer. Der Philologenstreit, ob Homer gelebt hat, kümmert ihn nicht. Er kennt ihn kaum. Der Dichter fühlt den Dichter; er läßt sich führen, wie Dante von Virgil durch die Unterwelt geführt wird.

Etwas besitzt der moderne Dichter, was Homer nicht besaß: einen Bleistift, mit dem er im Gehn Notizen macht. Wie der Maler sein Skizzenbuch, so führt auch er etwas Ähnliches bei sich. Eindrücke, die er empfängt, faßt er gleich in Worte. So macht er nicht bloß eine Reise, sondern zugleich auch ein Buch.

Mehrfach ist im Buch von Goethe die Rede. Alles Sinnen, Grübeln, Wirken, Dichten und Trachten dieses »Magiers« sei dem Endzweck rastlos untertan, den Menschen mit Göttersinn und Menschenhand zu bilden und hervorzurufen. Auch Gerhart Hauptmann empfand Goethe durch Griechenland und Griechenland durch den Dichter der Iphigenie und der Nausikaa. Verführerisch scheint ihm der Gedanke, Goethes Nausikaafragment zu ergänzen. Dennoch entdeckt er Griechenland auf seine eigne Art. Der »Griechische Frühling« ist keine Nachahmung von Goethes »Italienischer Reise«. Am wenigsten in seinem impressionistischen Stil. Eindrücke der Natur, Eindrücke des Lebens in dieser Natur führen zu phantastischen Erwägungen, wie aus diesem Volksboden, aus dieser Natur ein großer Mythos, aus dem Mythos eine große Kunst entstehn konnte.

Der Dichter sieht die schwarzen attischen Böcke schreiten, die Tragoi, und begreift den Bocksursprung der attischen Tragödie. Nichts von dem, was er vielleicht erst zur Vorbereitung für diese griechische Reise gelesen und gelernt hat, ist verkalkter Gedächtniskram. Ihm selber neu und frisch, verkehrt er damit wie mit einem Lebewesen. Diesem Urrealisten wird das Entfernteste real; er hält es für eine reale Entdeckung, wenn man eine abgestorbne Empfindung wieder beleben kann. Einmal beklagt er – Wasser auf die Mühle unsrer Humanisten –, daß er den Diodor nicht im Urtext lesen kann; denn er weiß von seinem Heimatsdialekt her, was für Aufschlüsse über den Menschen seine Sprache gibt. Niemals wird er von etwas, dessen Lebensspur er wittert, sagen: »Was ist mir Hekuba?« Mit Penelope und ihren Freiern beschäftigt, kommt er zu der Vermutung, daß Zaudern schon damals eine Schwäche des edlen Weibes gewesen sei; vielleicht wendet er hier eine Erfahrung, die er jahrelang im Allerpersönlichsten zu machen hatte, auf die Königin von Ithaka an, die auch jahrelang wartet, ob ihr nicht doch der Gatte wiederkehrt. So vergleicht der Dichter Vergangenheit mit Gegenwart, Fremdes mit Eignem, Ferne mit Heimat.

Im »Griechischen Frühling« liegen Keime einer »Dichtung und Wahrheit«. Kaum hat er den Triester Hafen verlassen, kaum ist er auf hoher See, so gedenkt er jener Reise über den Ozean, die er einst ganz plötzlich von Paris aus antrat, um Frau und Kinder aus Amerika zurückzuholen: »Ich erlebte damals stürmische Wochen auf zwei Meeren, und ich wußte genau, daß, wenn wir mit unserem bremensischen Dampfer auch wirklich den Hafen erreichen sollten, dies für mein eignes gebrechliches Fahrzeug durchaus nicht der Hafen sei.« In Sparta fühlt er sich in Onkel Schuberts Obstgarten versetzt, nach Lederose bei Striegau, wo der fünfzehnjährige Junge zum ersten Male verliebt war. Immer ergreift es ihn, wenn er im Lande der griechischen Götter an Deutsches erinnert wird. Sogar bei Lykurg scheint er an die Rassenhygiene seines Freundes Alfred Ploetz zu denken. Am Fuße des Parnaß begegnet ihm seine Rose Bernd: »Sie ist frisch und derb und germanisch kernhaft. Die Art ihres übermütigen Grußes ist zugleich wild, verwegen, ungezogen und treuherzig. Sie würde sich von der jungen und schönen Bauernmagd, wie ich sie auf den Gütern meiner Heimat gesehen habe, nicht unterscheiden, wenn sie nicht doch ein wenig geschmeidiger und wenn sie nicht eine Tochter aus Hellas wäre.« Schon in Pelleka begegnete ihm mitten unter brünetten Südländerinnen solch ein blondes Mädchen, blauäugig und von zarter weißer Haut; der große, vollkommen deutsche Kopf erinnert ihn an Leibl, und ihn beschleicht eine Traurigkeit, die er sich mit dem Verstande nicht recht erklären kann, denn das Mädchen ist die vergnügteste von allen. Was ist dieses Unerklärliche? Ist es mitten im Genuß der großen Fremde das alte deutsche Heimweh? Mindestens das Heimatgefühl verläßt ihn auch im Lande der Größe nicht; froh glaubt er dort zu erkennen, daß die Seele des Griechen auch seinen Gott an den Landboden, an die Landstraße, an die Heimat bannte, so wie er, der deutsche Dichter, die Muse. Hier in Griechenland findet er das Kernwort seiner ganzen Poesie: »Was wäre ein Dichter, dessen Wesen nicht der gesteigerte Ausdruck der Volksseele ist?«

Was Humanisten und Klassizisten griechische Kultur nennen, empfindet der ungelehrte Dichter auf griechischem Boden als natürliches Ergebnis nackter Urzustände. Etwas geschraubt erklärt er Kultur als »eine fleischliche Bildung zu kraftvoll gefestigter, heiterer, heldenhaft freier Menschlichkeit«. Das Fleischliche bedeutet ihm das Animalisch-Unschuldige, Nackte, Naive, Urwüchsige, Ursprüngliche. Er rühmt sich seines starken und gesunden, ihm eingebornen Bergglücks, das ihn jene Urzustände eines Volkes der Hirten und der Jäger finden läßt. Gerade ein solches Volk aber findet er überall auf klassischem Boden. Hirten und Götter werden ihm eins. Das Stärkste, Größte, Erhabenste ist zugleich das Einfachste, das Schlichteste, das Bedürfnisloseste, also Freiste. Keine homerische Heldengestalt interessiert ihn mehr als der Sauhirt Eumaios.

Unter dem Glockengebimmel weidender Ziegen und Schafe erneuert sich ihm der Mythos, ersteht ihm das griechische Drama, das Drama überhaupt, und wie er nie etwas gedichtet hat, in das nicht irgendwie der Nazarener hineingezogen wurde, so erscheint dieses Krippenkind, dieser Sohn der Armut, der unter Hirten geboren ist, der selbst eine Art Hirt geworden ist, auch unter den Hirten des Parnasses. Diese Gestalt, die unserm Dichter durchs ganze Leben überallhin folgt, begegnet ihm hier, wie ihm Rose Bernd und das Mädchen aus Onkels Obstgarten begegnen. Vor der Bucht von Eleusis denkt er mit einer Art von Sehnsucht an das galiläische Meer, und der griechische Demeterkult gemahnt ihn an jene andre Legende, »die mit einer Kraft ohne gleichen heute Zweifler wie Fromme beherrscht«. Bisher durfte er über Jesus nur das aussprechen, was dramatische Personen von ihm dachten oder fühlten. Jetzt zum erstenmal kann der Dichter sein persönliches Bekenntnis ablegen. Auf demselben klassischen Boden, den »die verderbte Weltanschauung der christlichen Zeit« entgöttert hat, fällt sein innres Auge immer wieder auf den Schatten eines einzelnen Mannes: »Es ist unumgänglich, daß ein bis ins tiefste religiös erregter, christlich erzogener Mensch doch immer auf die Gestalt des Heilandes treffen muß: und dies war mir und ist mir noch jetzt jener Schatten. Etwas wie Unruhe, etwas wie Hast und Besorgnis scheint ihn den gleichen Weg zu treiben, und etwas wie der gleiche, immer noch ungestillte Durst«.

Aus diesen Sätzen, die wie so vieles im »Griechischen Frühling« das seelische Schaffen Gerhart Hauptmanns erklären, steigt ein Wegweiser empor, der über Griechenland hinaus noch östlicher, noch südlicher zeigt. Einen Frühling in Palästina ist Gerhart Hauptmann sich selbst schuldig. Dieser Kreuzzug wäre kein Kriechen zu Kreuze vor dem, was aus den christlichen Bekenntnissen mit der Zeit geworden ist, aber um jenes Schattens willen wird sein Kreuzzug zur Pflicht gegen das eigne Selbst. Wenn der Dichter schon in Athen und Sparta an Eigenstes erinnert wurde, Eigenstes sich ihm dort neu belebte, so wird er um Bethlehem und Golgatha den Schwerpunkt seiner Seele entdecken. Dann scheue er sich nicht, auch in dieser neu erschlossnen Welt sich selbst zu fühlen, wie er es in Griechenland getan hat.

Man könnte darüber spotten und hat wohl auch gespottet, daß der Dichter, als er durch die klassischen Gelände ging, immer den eignen Puls in der Hand hielt, immer am eignen Blute die Temperatur der Umgebung maß. Und doch erhöht es den Reiz und Wert dieses autobiographischen Reisetagebuches, daß er es nur für sich allein scheint geschrieben zu haben. Wenn ihm Tausende und Abertausende dabei über die Schulter sehen, so ist das Sache der Tausende, denen dieser Dialog zwischen Hellas und Hauptmann eingeleuchtet hat. Ein andrer als Hauptmann dürfte ähnliches allerdings kaum wagen. Besonders unsere Reisefeuilletonisten seien gewarnt. Die Außenwelt mit sich selbst so eng zu verbinden, wird nur einem. Dichter gelingen. Unter den Lebenden aber gibt es niemand, der so eindrucksfähig wäre wie Gerhart Hauptmann, der so tief alles erleidet, im schlimmen und im schönen Sinn erleidet, was auf ihn zukommt. Seine Sinne sind der Außenwelt zugänglich wie die Poren unsrer Haut der atmosphärischen Luft. Es ist ein ganz unmerklicher Vorgang. Er vollzieht sich ohne jede Bewegung, lautlos. Aber die Luft, die niemand greifen kann, dringt in den Organismus ein und stärkt ihn.

Es wäre wunderbar, wenn das Frühlingstagebuch die einzige dichterische Frucht dieser griechischen Reise geblieben wäre. Schon unterwegs regte sich der Schaffenstrieb wie ein Fieber. Ein alter Jugendplan fällt ihm wieder ein, die Tragödie des Lykophron, der seinem Vater Periander dahinter kommt, daß dieser sein Weib Melissa, Lykophrons Mutter, getötet habe. Lykophron, ein umgekehrter Orest, ein Zauderer wie Hamlet, irrt durch die Gassen seiner väterlichen Hauptstadt Korinth als obdachloser, verwahrloster Bettler, und dieser Eindruck war für Gerhart Hauptmann entscheidend, sich für den Stoff zu erwärmen. Die Probleme, durch die der Mensch ein Bettler ist oder zum Bettler wird, haben ihn immer am tiefsten ergriffen.

Als Bettler kehrt auch Odysseus nach Jthaka zurück. Der erste, den er trifft, ist ein Schweinehirt. Den König labt und beschenkt sein eigner niedrigster Knecht. Von der tiefen Naivetät dieses Idylls fühlt sich der moderne Dichter entzückt und angeheimelt. Von dieser Empfindung aus möchte er dem ewigen Gegenstand ein neues lebendiges Dasein gewinnen. Im Zusammenhang damit nennt der griechische Reisende plötzlich den Namen Murillo. Er wird also aus dem Sauhirten und seinem geheimnisvollen Gaste gewiß nichts im Stile Corneliusscher Kartons schaffen. Zu Eumaios und Odysseus tritt in seiner nachschaffenden Phantasie der junge, vaterlos aufgewachsene Telemach, und es will scheinen, als ob den Dichter auch hier, wie bei Lykophron, das Motiv reizte, das den Sohn zwischen die beiden getrennten Eltern stellt. Im Gedanken an Lykophron mit Telemach beschäftigt, spricht der Dichter, wie aus selbstdurchlebtem Schmerz, die Überzeugung aus, daß tiefe Zwiste naher Verwandter unter die grauenvollsten Phänomene der menschlichen Psyche zu rechnen seien. »In solchen Kämpfen kann es geschehen, daß glühende Zuneigung und glühender Haß parallel laufen – daß Liebe und Haß in jedem der Kämpfenden gleichzeitig und von gleicher Stärke sind: das bedingt die ausgesuchten Qualen und die Endlosigkeit solcher Gegensätze. Liebe verewigt sie, Haß allein würde sie schnell zum Austrag bringen. Was könnte im übrigen furchtbarer sein, als es die Fremdheit derer, die sich kennen, ist.«

Wer das im Reisetagebuche las, mochte denken, daß der Dichter nun im größern Stil unter höhern Menschen eine »Familienkatastrophe« dichten würde, wie es im engsten Räume das »Friedensfest« und »Michael Kramer« waren; vielleicht auf dem Hintergrunde Griechenlands, das ihn so oft an Heimisches und Eignes erinnert hatte.

Als er aber aus Griechenland zurückkehrte, ließ er Antikes ebenso weitab liegen wie Heimisches. Auf der Spur des »armen Heinrich« wählte er wieder das Mittelalter und holte ein paar weltliche Legenden hervor, die nicht von familiären Konflikten handeln, sondern von zwei sonderbaren Fällen der Geschlechterliebe. Beide haben etwas Anekdotisches.

Zuerst erschien »Kaiser Karls Geisel«, angeregt durch eine Notiz des Italieners Erizzo aus dem sechzehnten Jahrhundert.

Es ist bekannt, daß der allerchristlichste Kaiser Karl der Große einen Harem hatte, wie nur je sein Zeitgenosse Harun al Raschid. Noch im Greisenalter macht ein ganz junges, halbwüchsiges Mädchen auf ihn Eindruck. Aber sie ist weder willig noch keusch. Der kleine Racker hänselt den großen alten Herrn, den hier zum letzten Male vielleicht eine echte reine Liebe erfüllt; etwa wie sie Goethe zur Ulrike v. Levetzow hatte. Aber Gersuind ist kein zartes züchtiges Edelfräulein wie Ulrike. In ihrem »köstlichen Goldelfenbeingehäus« wohnt ein Dämon, mindestens ein Luder. Als sie mit mehr kindischen als weiblichen Gefühlen am Halse des alten Kaisers hängt, muß er sie »kleine Hure« nennen. Den ersten besten jungen Kavalier ruft sie an wie eine Straßendirne: »Schöner, nimm mich mit«. Sie, um deren Herz der Kaiser wirbt, gibt ihren Leib dem ärgsten Schenkenpöbel preis. Dem Pöbel eine Wollust, wird sie dem Volk eine Plage, denn der große Kaiser versäumt seine Herrscherpflicht. Alles in der Welt geht drunter und drüber, weil ihm das Kind im Sinne liegt. Sie ist wie eine kleine Stechfliege, die wieder und wiederkehrt, sich nicht fangen läßt und immer beunruhigt, immer ablenkt. Wie das Tier steht sie jenseits von Gut und Böse. Scham kennt sie nicht. Aller moralische Einfluß versagt. Da nimmt sie derselbe Volkshaufe, dem sie sich nackt gezeigt hat, bei den goldenen, von Kaiser Karl so sehr geliebten Haaren und verprügelt das »Königsliebchen«. Nun hat Kaiser Karl über sie Gericht zu halten. Er droht mit dem Henkerstod; sie aber fragt ihn nach ihrer Schuld, nennt ihm seine Schuld. »Was hebst du Wegwurf auf?« Ihrer jungen Begehrlichkeit kam er nicht als Liebhaber entgegen, sondern halb väterlich als Bildner, als Erzieher; nicht sinnlich, sondern seelisch; nicht naiv gebend und verlangend, sondern sentimental und langsam werbend. Sein hohes Alter, das zum Jungbrunnen die warmen Quellen von Aachen braucht, machte wohl aus Not eine Tugend. Und doch flattern alle seine Sinne um das süße junge Geschöpf. Der weise Fürst, vom weisern Alcuin beraten, dringt auf den tiefern Grund dieser Dinge. Er gibt sich selbst die Schuld. Vor sich selbst spricht er Gersuind frei. Gegen seinen Willen erreicht sie statt des Henkerbeils der Meuchelmord. Wie einer Ratte ward ihr Gift gestreut. Des Kaisers eigner Kanzler tat es. Das todkranke Wild darf bei frommen Klosterfrauen und Krankenschwestern sterben. Die Oberin hält ihr den Nachruf: »Der Pöbel nannte sie eine Hexe! Er, der Kinderfreund, der Heiland, nur ein Kind«. Im Sterben wird ihr klar, daß sie den großen alten Kaiser geliebt hat. Sein hohes Bild verklärt sich ihr über alle Jünglingsschönheit und Jünglingskraft hinaus. Ihrer Torheit letzter Schluß lautet: »Karl ist ein Gott! Wir andern sind nur Menschen!« Auch der hübsche Junge, dem sie als erstem nachlief, der freilich kein Geisteskind zu sein braucht, setzt ihr eine etwas verzagte Grabschrift: »Mag der dies Kind durchschaun, der es erschuf«.

Graf Ricco von Maine meint damit nicht unsern Dichter, sondern den lieben Gott. Unser Dichter aber hält es für nötig, dieses Kind durch eine Rede Alcuins zu erklären. Alcuin ist in das Drama zu ähnlichen Zwecken eingeführt, wie Hartmann von Aue im »Armen Heinrich«. Er ist Vertrauter des Kaisers; leider jedoch muß er auch Deuter des Dichters sein. Die Vorgänge selbst, die Taten, bleiben hinter legendarischem weißlichem Nebelschleier zart, aber unklar liegen. Daher muß einer vortreten und erklären, wie es gemeint war. Niemand kann das auf bessere Art sagen, als mit Alcuins, mit des Dichters eignen Worten:

War dieses Kind unschuldig, keusch und treu,
Wär es gegangen, wie es immer ging:
Ein Kaisersöhnlein mehr! und damit gut!
Was weiter? Nichts! Nun aber kam es so;
Sie blieb ihm fremd, und er bezwang sie nicht!
Und dort, wo seine Sinne bettelten,
Hielt ihn, unbeugsam, eigner Stolz zurück. –
Und eines Tages stieß er sie von sich: sie,
Die jetzt erst recht verderblich in ihm herrscht.
Und nun schlug die verhaltne Glut zurück,
Gepaart mit dem enttäuschten Herrscherwillen,
Und steckte Tenn und Scheuern uns in Brand ...
Das heißt: ihn selbst, von innen aus, den König.

Daß es dieser langen Erklärung bedarf, daß Alcuin den Dichter selbst im Drama anwaltschaftlich vertreten muß, ist eine dramatische Schwäche des feinen und wehevollen Spieles, das im Balladisch-Lyrischen bleibt, obwohl es von schroffsten Kontrasten lebt: Karl alt, das Kind jung; Karl der große Weltbeherrscher, das Kind eine Gefangene; Karl ein gebildeter Franke, das Kind ein rohes Sachsenkind; Karl ein Apostel des Christentums, das Kind ein Heidenkind; Karl ein raffinierter Welt- und Lebemann, das Kind ein Tierchen der Wildnis. Über alle diese Gegensätze, durch diese Gegensätze haben beide sich geliebt, ohne es voneinander zu wissen. Auch der Kaiser bekennt es und erklärt es durch Zwang eines Dämons, durch einen Dienst der Finsternis. Da er ihren Mord erfährt, tobt noch einmal alles in ihm auf. Das eine Wort Mord rüttelt ihn wie hundert Fieberschauer. Es klingt wie hundertfaches Wehgeschrei. Dann aber rettet ihn seine Größe, seine Tatkraft, und er hebt wieder das Schwert Karls des Großen. Im Leben des großen Frankenkaisers war Gersuind, die Sachsengeisel, nur eine Episode, wohl die letzte Episode seines Herzens. Die Geisel stirbt an diesem Drama, Kaiser Karl gehört ohne dieses Drama der Weltgeschichte, mit der dieses Drama so gut wie nichts zu schaffen hat. Bei der Berliner Aufführung im Brahmschen Theater wurde die Geisel höchst verständnisvoll dargestellt durch eine junge, schlanke und geschmeidige Schauspielerin, Ida Orloff, die schon Hauptmanns gläserne Pippa gewesen war.

Wie Gersuind als eine weitere und kühnere Dämonisierung der tanzenden Pippa zu denken wäre, so sieht »Griselda« einer sagenhaften Rose Bernd gleich. Seitdem Gerhart Hauptmann seiner Rose von Striegau sogar auf hellenischem Boden begegnet war, konnte ihn ihre Versetzung in eine mittelalterliche Legende nicht schrecken. Diese Legende zieht durch die Weltliteratur noch weitere Kreise, als jenes Märchen vom verwandelten Bauer. Auch hier begegnen als ihre Interpreten große Dichter. Am unbekannten Ursprung stehen Boccaccio und Petrarca. Bei Boccaccio heißt der Name, wie jetzt bei Hauptmann, Griselda; bei Petrarca und fast allen späteren heißt er Griseldis. Dann kam die Sage nach England zu Chaucer und nach Frankreich zu Perrault. Sie ging bis hinauf nach Island und bis hinaus nach Rußland. Sie taucht in Böhmen, in Holland, in Dänemark, in Schweden auf. Sie wird international und populär, denn sie handelt, wie Petrarca schon im Titel sagt, von der mythologischen Unterwürfigkeit und Treue einer Ehefrau.

Unsrer modernen Frauenemanzipation muß diese Sage sehr zuwider sein. Denn hier ist allein der Mann der Herr, das Weib ist ihm leibeigen. Er kann sie zerbrechen und wegwerfen wie irgendeine Sache, die er neben ihr besitzt. Auch wenn er sie mißhandelt, verstößt, ihr die Kinder nimmt und Magddienste von ihr fordert, bleibt sie gehorsam und treu. Alles erdenkliche tut der Marchese von Saluzzo – so heißt er schon bei Boccaccio – seiner Griselda zu Leide, und er tut ihr auch noch das äußerste an: sie muß seiner angeblichen Braut als Kammerfrau dienen. Alles das geschieht nicht aus angeborner Roheit, sondern nur um ihre Treue und ihren Gehorsam auf die härteste Probe zu stellen; um zu sehen, wie weit weibliche Ergebenheit in einen männlichen Willen zu kommen vermag. Denn als Griselda auch noch die letzte, schmerzlichste Bedingung erfüllt hat, zieht der Markgraf sie an sich, begnadet sie wieder, seine Gemahlin zu sein, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

Je weiter dieser Stoff in die Kunstdichtung vorrückte, desto dringender wurde die Frage: Was veranlaßte den Markgrafen zu solchen Forderungen, was veranlaßte die Frau zu solcher Standhaftigkeit? Der Antworten auf diese Frage gibt es die verschiedensten, und je mehr sich ein Dichter psychologisch in die Motive versenkte, desto freier gestaltete er den überlieferten Stoff.

Schon Friedrich Halms dramatisches Griseldisgedicht, das am Artushofe spielt und der Griseldis den Parzival zum Gatten gibt, hat mit den alten Geschichten kaum noch etwas zu tun. Am wenigsten paßt der Schluß. Denn zwar bleibt Halms Griseldis gehorsam und treu, aber nur bis zu dem Augenblick, da Percival sie wieder zu Ehren und Rechten annimmt. Nun gibt sie ihm den Laufpaß. Er hat ihre Liebe verscherzt, weil die ganze Quälerei nur das Ergebnis einer frivolen Wette war, die er in der Tafelrunde um jeden Preis gewinnen wollte. Einer so banalen Lustspiellösung mit eheschiedlichem Ausgang konnte Gerhart Hauptmann nicht zustimmen. Der moderne Seelenrealist mußte tiefer in den Grund der Herzen schürfen, als der seicht-spielerisch-wienerische Romantisierer.

In der »Zähmung der Widerspenstigen«, derselben Shakespearischen Komödie, aus der er sich Schluck und Jau geholt hatte, konnte er lesen, wie Petrucchios ironischer Hohn sein Kätchen schildert: »Im Dulden kommt sie gleich Griseldens Vorbild«; und ob nun dadurch angeregt oder nicht, Hauptmanns Griselda ward eine gezähmte Widerspenstige. Aber Hauptmanns Griselda ward auch Bäuerin, und dafür bot ihm die Überlieferung einen Halt.

Seit etwa sechzig Jahren kennt man eine volkstümlich-tirolerische Fassung des Märchens. Hier ist Griseldis die jüngste und schönste der drei Töchter eines alten Bäuerleins. Ihren Namen erklärt die treuherzige Volksetymologie daraus, daß die Nationaltracht der Landmädchen von »griselter«, d. h. grauer Farbe war. So wird das »Griseldele« eine Art Aschenbrödel. Aber während das Aschenbrödel des Königssohns Gemahlin bleibt, wird »das Griseldele« wieder in ihre Dürftigkeit zurückgestoßen. Denn derselbe junge Graf, der sie ihrer Schönheit, ihres Fleißes, ihrer Sittsamkeit wegen zur Frau genommen hatte, der ihr »griseltes Kittele« mit den prächtigsten Gewändern vertauscht hatte, nimmt ihr die Kinder weg, läßt sie im Glauben, er habe diese Knäblein im Ziehbrunnen ersäuft, und schickt sie schließlich zu ihrem Vater heim. Der Vater aber spricht:

Leg nur an das griselte Kittele
Und iß mit mir ein Überschüttele.

Auch der Tirolerin bleibt die letzte Prüfung nicht erspart. Zu den Vorbereitungen einer neuen Hochzeit muß sie als Aufwaschweib wieder ins Schloß, muß frisch vom Abspülen weg im schmutzigen Gewand Speisen auftragen und die Schönheit der angeblichen Braut preisen. Dann aber schlägt ihre Erlösungsstunde. Sie erhält nicht bloß ihre gräflichen Gewänder wieder, sondern auch ihre Kinder und den Mann.

Gewiß nicht unbekannt mit dieser urdeutschen Form des Märchens machte Gerhart Hauptmann aus Griselda eine widerspenstige Bäuerin, die sich der Markgraf von Saluzza erst zähmen muß. Dem Urstoff bricht er damit ebenso das Genick, wie in seiner anderen Art Friedrich Halm. Während Halm die geprüfte Frau am Schlüsse nein sagen läßt, sagt Hauptmanns Griselda am Anfange nein. Dennoch hat der neue Dichter den Geist und besonders das Herz des Stoffes im Tiefsten erfaßt.

Die erste der zehn Szenen zeigt Griselda als tüchtige, kräftige Bauerndirne im Gehöft wirtschaftend. Vater und Mutter füllen ein stumpfsinniges Alltagsleben mit Alltagsgespräch, und ihre schöne Tochter kommt über der schweren Tagesarbeit nicht zu eignen Gedanken und Empfindungen. Der Graf, der ein wunderliches Troglodytendasein führt, fern von Welt und Damen, will mit ihr gradehin handeln, als sei sie eine Straßendirne. Sie aber trotzt den Eindringling kräftig ab, nicht bloß mit Worten. Da hebt er sie auf und schleppt sie mit Gewalt ins Haus hinein. Es ist das Haus ihrer Eltern, aber die Eltern sind Hörige des Adels, und was drinnen geschieht, sagt nachher weder er noch sie. Die armen guten Alten haben nichts vom Vater Bernd, der mit Gott um die Wette zu richten und zu strafen kommt. Das starke Weib hat die Überkraft des Mannes verspürt. Den übersättigten Mann reizte ein Weib aus der unmittelbaren Hand der Natur.

In der dritten Szene holt er sie ab. Er bändigt sie körperlich, aber als sie wehrlos ist, drückt er ihr den Brautkuß auf den Mund. Schon in der nächsten Szene ist Hochzeit im Schloß vor dem gesamten Adel des Landes. Griselda in Brokat und Seide. Sie trägt es, als hätte sie nie was »griseltes« getragen, und sogar ihr schöner Mund redet schon Brokat und Seide. Sie scheint die derbe Bauernprosa des väterlichen Gehöftes verlernt zu haben und weiß schon ganz genau, wie man mit Fürsten spricht. Weil es ihr neu ist, übertreibt sie sogar den noblen Ton, und wenn ich ihr Markgraf wäre, der selber kein derbes Wort scheut, so würde ich ihr raten, sich weniger geschwollen zu äußern. Der Gatte will auch durchaus nicht das Urwüchsige an ihr unterdrücken. Der Damen überdrüssig, war ihm die Volksmagd gerade recht. Zum Sinnbild dessen gibt er ihr noch einmal die Sichel in die Hand, damit sie auf der Wiese das Gras mähe. Mit diesem erquicklichen Eindruck könnte das Lustspiel schließen, wenn es sich nur um Zähmung einer Widerspenstigen gehandelt hätte.

Doch diese gezähmte Widerspenstige heißt Griselda. Sie hat ihren Leidensweg noch vor sich. Auch ihr bleibt die Prüfung nicht erspart. Aber von dem kalten und rohen Zuchtmeister der Sage, von dem Mann, der ein Unmensch wird, damit sich die Frau in ihrer Übermenschlichkeit glorienhaft entfalten kann, wollte Gerhart Hauptmann nichts wissen. Sein Markgraf von Saluzza hat mit jenem mythologischen Urbilde nur den einen Zug gemeinsam, daß er sie allein besitzen und ganz beherrschen will. Er eifert auf sein Sonderrecht an sie. Er trennt sie von Vater und Mutter. Niemand sonst darf sie beim Vornamen nennen. Kein Arzt darf sie besehen. Kein Haustier darf sie anrühren. Aus übergroßer Liebe ist ihm jeder zuwider, der zwischen sie kommt. Er leidet am Wahnwitz der Zweisamkeit. Er duldet kein Drittes.

Nun ist ein Drittes unterwegs. Es kommt ein Kind. Er spürt mit Argwohn, mit Grauen schon zum Ungebornen die Zärtlichkeit der Mutter. Zu diesem Ungebornen wütet er sich in einen blinden Haß hinein. Wie Tolstois Lewin fühlt er in der schweren Stunde alle Wehen der Mutter im eignen Leibe. Es gibt gewiß noch Menschen, die bei dieser wundervollen Szene wieder die Geburtszange heben möchten. Aber man wird hinter solche Poesie schon kommen. Diesem unbekannten Stückchen Menschenfleisch, das der Geliebten so viel Qual schafft, noch bevor es da ist, das ihr Leben gefährdet, soll er gut sein? Mit ihm soll er die Liebe der Geliebten teilen? Es gibt Menschen, die nichts teilen können. Darum schafft er seinen neugebornen, wohlgestalteten, kerngesunden Erbprinzen aus dem Hause. Die Mutter weiß nicht, wohin. Mitten im innigsten Allein zwischen Mann und Weib fragt sie ihn nach dem Kinde.

Damit hat sie ihre Schicksalsfrage gestellt. Nicht wie der Sagengraf, verjagt er sie, aber er selbst läuft auf und davon. Der arme Heinrich konnte nicht wilder, nicht unheimlicher verschwinden. Nun ist sie ohne Mann und Kind in seinem Schloß allein, während er sein altes einsames Troglodytenleben weiterführt. Diesen Zustand erträgt sie nicht lange; während ihre mythische Schicksals- und Namensschwester alles auf Befehl tun mußte, faßt sie eine Reihe freiwilliger Entschlüsse. Der angeborne Bauerntrotz erwacht. Sie zieht »das griselte Kittele« wieder an und geht, wie sie gekommen war, aus freien Stücken, auf freien, festen Füßen zu den Eltern an die Tagesarbeit. Wieder ist das Drama bei einem vorläufigen Ende.

Um die Handlung fortzusetzen, knüpft der Dichter an ein Bild aus der Sage an. Er erinnert sich des Aufwaschweibes im schmutzigen Kleid. Seine Griselda schwört, daß sie nie anders als zu solch niedrigster Dienstleistung der Hörigen das Schloß wieder betreten werde. Sie kommt mit Besen, Lappen, Eimern ins Schloß, zwar nicht zur neuen Hochzeit ihres Gemahls, wohl aber zu seiner angekündigten Heimkehr. Sie liegt auf den Stufen der großen Eingangsstiege und scheuert so heftig, als scheuerte sie die Schmach von den Stufen, die sie in diesem Hause erduldet hat. Da trägt man das Kind an ihr vorüber, da fällt ihr das eigne Kind in die Arme, da schreit ihr Herz, und diesen Herzensschrei seines Weibes hört der Mann. Es war der Schrei der Lösung von aller Last. Das neue Märchen von Griselda endet so glücklich wie alle frühern.

An vielem Tiefergreifenden mußte dieser Bericht vorübergehen. Wie der alte Bauer seiner Gräfin Tochter in schuldiger Ehrfurcht das Wochensüppchen und Mutters gute Ratschläge bringt, gehört zum Allerschönsten, was wir von Hauptmann haben. Diese innige Dichtung zeigt, daß er sein deutsches Gemüt an Griechenland nicht verloren hatte. Der griechische Frühling ist ihm gut bekommen.

Die Rose von Striegau und die Rose vom Parnassos sprießen selbander auf dem ewigen Grunde deutscher Märchen. Der Dichter aber kehrt gehoben und gefestigt wieder heim in sein eignes Land und sein eignes Leben. Hieraus entsteht Etwas, für das alles Frühere nur Vorbereitung zu sein scheint: der große Roman vom »Emanuel Quint, dem Narren in Christo«.


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