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Kaum war Gerhart Hauptmann Hand in Hand mit Hartmann von Aue durch die deutsche Legende geschritten, so wurde er in seinem heimischen Landgerichtsbezirk Hirschberg als Geschworner einberufen. Aus dem Weiten rief ihn drängendes Leben wieder ins Nahe. Und nun wird es dem Dichter zur Gewohnheit, wechselweis in der eignen Zeit oder in idealen Fernen seine schaffende Phantasie einzunisten. Wie er immer wieder oft zu monatelanger Abwesenheit seine Riesengebirgsstätte verläßt und im Süden reist oder wohnt, so lösen sich in seiner dichterischen Vorstellung Inland und Weite immer wieder ab. Eine Weile aber hielten ihn jetzt Eindrücke der Heimat und der Jugend wieder fest.
Als Hauptmann 1903 in Hirschberg Geschworner war, standen am 15. April auch Meineid und Kindesmord zur Verhandlung. Hauptmann votierte mit der Mehrheit des Schwurgerichtes auf Freispruch der angeklagten und geständigen jungen Mutter, einer ledigen Landarbeiterin. Dieser Lebenseindruck vergegenwärtigte dem Dichter wieder seine Eleven- und Gutsschreiberzeit im Kreise Striegau. In die fruchtbaren, blumigen, parkartigen Ebenen dieser Gegend verlegte er das fünfaktige Schauspiel »Rose Bernd«.
Rose Bernd, die schöne, kräftige, blonde Bauerndirne wird von drei Mannsen umworben. Den einen liebt sie, den anderen haßt sie, der dritte soll sie heiraten.
Der eine ist ein waidgerechter, kriegstüchtiger Gutsherr auf der Höhe des Lebens. Er ist mit einer klugen und gütigen Frau verheiratet, die er liebt und verehrt; aber sie ist älter als er und sitzt im Rollstuhl. Für Rose Bernd war Herr Flamm schon der Mann der Männer, als sie noch mit Puppen spielte. Jetzt strahlt am Maiensonntag die Morgensonne. Zwischen den Äckern, aus denen es sprießt und grünt, wächst bergendes Buschwerk. Während die gottesfürchtige Gemeinde (wir wissen, wie fromm es im Kreise Striegau zugeht) in der nahen Dorfkirche singt und betet, nimmt draußen im Freien Herr Christof Flamm seine Rose auf eigene Art ins Gebet. Das Stück, das mit Kindesmord endigt, beginnt frühlingsfrisch mit dem Gegenteile von Kindesmord. Noch dazu unter einem Kruzifix! Als der Vorhang aufgeht, ist das Tätchen vollbracht. Diese derbe Minnelust gibt sich ländlich-sittlich oder richtiger ländlich-sinnlich. Es ist nicht das, was man in Gesellschaftskreisen ein Liebesverhältnis nennen würde. Es ist alles nur auf Nimm und Gib gestellt. Flamms Heiratsabsichten, falls er frei wäre, sind nicht allzu ernst gemeint. In seinen Kreisen betrügt man die eigne Frau, aber man verläßt sie nicht, am wenigsten einer Magd zuliebe. Mag man aber über das Moralische, wie man will, denken, so ist es eine Freude zu sehen, wie der Dichter des armen Heinrich und seiner Ottegebe noch Kraft, Gesundheit, Lebensgenuß in zwei strotzenden Menschennaturen darzustellen weiß.
Doch während der arme Heinrich aus Kummer zu Wonne gedieh, entwickelten sich Rose Bernds Lebenssachen umgekehrt. Schon als sich die beiden nach jenem Maienmorgen wiedersehen, sind Freud' und Lust dahin. Es ist, als treibe vom Aschenhaufen des armen Heinrich eine Flocke in dieses lebensfrohe Stück. »Du tust ja, als wenn ich aussätzig war,« sagt zur scheu gewordnen Rose Bernd Herr Flamm, und Roses Vater, der jeden Abend ein Fußbad nimmt, stöhnt, als er von der Schuld seiner Tochter hört: »Mir ist, als hätt' ich die Krätze am Leibe.« Beide scheinen den »armen Heinrich« gelesen zu haben. Herr Flamm ist nicht aussätzig, er ist gesund und genußsüchtig wie immer, und Vater Bernd bleibt ein sauberer alter Mann. Aber mit Rose Bernd steht es schlimm.
Jener Zweite, den sie haßt, der aufgetakelte Lokomobilist Streckmann, ein berüchtigter Trunkenbold und Weiberhengst, hat gesehen, was an jenem Sonntagsmorgen unter dem Kruzifix vorging. Seine Erpressernatur geht dieses Mal nicht auf Schweigegeld, sondern auf Minnesold. Er neidet Herrn Flamm sein Glück nicht allzu sehr, aber er fordert für sich das gleiche. Doch Rose Bernd haßt ihn; in seiner plumpen Geckenhaftigkeit ist er ihr widerlich. Sie versagt sich ihm. An sich wäre die Gefahr seiner Angeberei nicht allzu groß, denn die »Unschuld vom Lande« besteht meist darin, daß man den Liebesgenuß für keine Schuld hält. Wie auf der Alm, so gibt es auch unter dem Landvolk der Tiefebene keine Sünd'. Auch Rose Bernd ist an sich nicht zimperlich und spröd. Wenn ihr das Blut in die Wangen steigt, so nimmt sie den einen, der ihr gefällt, fest in die Arme, ohne erst nach Standesamt und Traualtar zu fragen oder nach dem Kruzifix zu sehen.
Auch wenn sich die Liste der unehelich Gebornen im Dorf um eines vermehrte, so käme sie selbst in ihrer kräftigen Naivetät und Animalität schon darüber hinweg. Im dritten Akt hören wir den neckenden, gemütlichschandmäuligen Tratschton der Landarbeiter und könnten uns denken, daß sich die aufrechte Rose Bernd durch solches Gerede so wenig niederwerfen läßt, wie sie sich an erstwen wegwürfe.
Dennoch tritt sie in ein schweres Schicksal ein. Von zwei Seiten droht ihrem innern Frieden Gefahr. Frau Flamm, die Dame im Rollstuhl, war der mutterlosen Waise wie eine Mutter gewesen. Mit dem kleinen Kurtel Flamm hatte die kleine Rose gespielt, und als Kurtel starb, blieb sie wie Kind im Hause. Auch jetzt in ihrem Elend findet Rose bei der grundgescheiten und grundgütigen Frau vorurteilsfreies Verständnis. Um so härter trifft es ihr Gewissen, daß ihr Mitschuldiger der Mann dieser Frau ist.
Schon darum hat sie Streckmanns Denunziantentum zu fürchten. Noch mehr deshalb, weil ihr alter, armer, beschäftigungsloser Vater zu den Frommen im Striegauer Kreise, zu den Stillen im Lande gehört, zu denen, deren Religiosität bei der Moral anfängt, die auch auf der Alm keine Sünde dulden. Seine ernste, strenge, rauhe Gottesfurcht begegnet in innigster Seelenbrüderschaft der ebenso ernsten, ebenso strengen Gottesfurcht jenes Dritten, den Rose heiraten soll. Das ist der Buchbinder und Traktätchenhändler August Keil, ein ofenhockerisches Männchen mit etwas Veitstanz. Seitdem sie sich Mutter fühlt, wird Rose der Heirat mit dem kümmerlichen Leimsieder geneigter, der gute Rat der lebensklugen Frau Flamm bestärkt sie, und es fliegt sogar eine etwas nervöse Heiterkeit und erzwungne Zärtlichkeit über ihr Wesen. Sie folgt der mütterlichen Gönnerin, die sie aus eignem Herzweh ermahnte: »Freu dich! Man soll sich freuen auf sein Kind!«
Frau Flamm hält das Kinderkriegen unter allen Umständen für des Weibes größtes Glück, und Roses kerngesunde Frauennatur wäre auch glücklich darüber, wenn Streckmann nur den Mund hielte. Kommt sie aber durch Streckmann in der Leute Mäuler, so wird sie von ihrem Vater verstoßen, von ihrem Bräutigam verschmäht und von Frau Flamm mit der natürlichen Eifersucht des betrognen Weibes gehaßt und verachtet. Das weiß sie.
Streckmann, der mit seiner Maschine auf allen Höfen arbeitet, geht umher und macht Anspielungen. Sie ist vor ihm wie eine gehetzte Maus. In ihrer Herzensangst läuft sie zu ihm hin, bittet und bettelt, bietet Geld, soviel sie hat. Er aber fordert nur eines, und als sie es ihm nicht aus freiem Willen gibt, holt er es sich mit Gewalt. Nun trägt sie Flamms Kind in einem geschändeten Mutterleib, während sie vom Vater ihres Kindes in einer wundervollen Zwiesprach für immer Abschied nimmt. Sie werden sich noch sehen, aber sie sind geschiedne Leute, denn zwischen sie hat Streckmanns Teufelei Mißtrauen und Mißverstehen gestreut. Das Haus Flamm, ihre zweite Heimat, die Wohnung ihres Glücks hat sie verloren.
Aber sie verliert auch ihr Vaterhaus, ihre wahre Heimat, die armselige, frostige, reine Stube der väterlichen Zucht. Streckmanns boshafte Anspielungen führten zur Tätlichkeit zwischen ihm und Roses Bräutigam. Dem armen August wird ein Auge ausgeschlagen. Dadurch wird die Sache gerichtskundig. Flamm und Rose sind Zeugen. Sie werden über ihre Beziehungen zu einander verhört. Flamm, in jenem berüchtigten Konflikt zwischen Ritterlichkeit und Eidesfurcht, entscheidet mehr zu seinen als zu des Mädchens Gunsten und sagt die Wahrheit. Wäre Rose kein Bauernkind, sondern eine Baronesse, so hätte der Landwehrleutnant vielleicht falsch geschworen. Rose schwört wirklich falsch. Sie sagt dem Richter so wenig die Wahrheit wie dem Vater und ihrer Frau Flamm. Wie in Ibsens Nora, so ist auch in ihr das Gefühl stärker als das Gesetz. Nun ist sie eine Verbrecherin. In dem furchtbaren Zustand, in dem sie aus der Kreisstadt ins Dorf zurückkehrt, wird sie unterwegs durch vorzeitige Wehen überrascht und tötet auf der Stelle ihr neugebornes Kind.
Eine doppelte Verbrecherin wankt in die blitzblanke Vaterstube. Was sie so ängstlich verborgen hatte, erfährt ihr Vater nun doch. Der fromme alte Mann kommt sich selbst wie ein doppelter Verbrecher vor. Wie in »Fuhrmann Henschel« und »Michael Kramer« hebt sich der Dichter die tiefsten, innersten Dinge für den Schlußakt auf. Aber Rose Bernd selbst ist vom Schicksal schon erledigt. Den Akt beherrscht Vater Bernd, dessen harte Strenge nicht so tief erschüttern kann, wie Henschels Kampf mit dem Gewissen oder Kramers Abrechnung mit Himmel und Erde. Auch bittert hier der schwurgerichtliche Ursprung des Dramas durch Erscheinen der Dorfpolizei nach. Die Szenen vor Gericht selbst hat uns der Dichter erspart; desto mehr fällt kriminalistischer Mehltau auf die Vorgänge des letzten Aktes. Auch ist das Mitleid mit dem körperlichen Zustande der armen Entbundenen, die sich hier von Bank zu Schemel, von Schemel zu Bank schleppen muß, so überstark, daß daneben ihr seelisches Leid nicht aufkommt. Beim armen Heinrich herrschte das Seelische, hier herrscht das Physische vor. Aber etwas ganz Großes und Schönes wächst auch aus diesem Akt empor. Jener duckrige, muckrige August mit dem einen Auge sagt sich vom Rigorismus seines alten Vorbildes, des Vater Bernd, los. Mitleid mit Rose füllt seine Seele ganz. Aus dieser unschönen Gestalt strahlt plötzlich die menschlichste, die bräutlichste, die brüderlichste Liebe, die christlichste Liebe im Sinne des Heilandes leuchtenden Glanzes hervor, und man denkt an das Erlöserwort: »Den Armen wird das Evangelium gepredigt«.
Die Perspektive aus dem Drama ist bedrückend. Rose Bernd wird, wie jenes Mädchen aus dem Hirschberger Kreise, vor die Geschwornen kommen, und nur ihr offenes Bekenntnis wird ihr nützen. Es wäre besser gewesen, der Dichter hätte den Rest der Gedanken an jenes Schwurgerichtserlebnis getilgt. So bleiben das beste des Stücks im ersten Akt die Naturstimmung eines Frühlingssonntags auf dem Lande und die Szenen des zweiten und vierten Aktes, wo sich Frau Flamms mütterliche Gestalt entfaltet. Wie die kranke Frau entsagungskräftig ihrem lebenslustigen Manne nirgends im Weg ist und sich mit der Rolle der vertrauten alten Freundin begnügt, so lange ihm gleichgültige Weibsbilder zu Diensten stehen! Wie sie allmählich wittert, ahnt, merkt, weiß, daß auch ihre Rose unter den vielen ist! Wie sie nun ein Ekel packt! Wie die tapfere Dame aber doch mit Rose redet, und nicht viel anders redet als zuvor! Am schönsten, wie sie sich mit August Keil über Himmlisches und Irdisches verständigt, die Betrogne mit dem Betrognen! Man könnte an Mutter Vockerat denken, aber Frau Flamms Seelengüte ist nie beschränkt, auch nicht durch religiöse Vorurteile. Man könnte an Henschels erste Frau denken, aber ihr Kranksein macht keinen Lärm, und die Qualen der Eifersucht trägt sie still für sich. Sie geht auch nicht in den Brunnen, wie des Glockengießers Frau. Sie sinnt und sorgt und schafft Gutes, soweit von ihrem Rollstuhl aus die feinen, tätigen Hände reichen. Sähe sie zuletzt mit den klugen Augen ihres Herzens Roses tiefstes Elend, so stände sie nicht beim alten Zeloten, sondern spräche mit August dem Einäugigen das Schlußwort: »Was muß die gelitten han.«
Wenn man ein dichterisches Werk durchaus nach seiner Stofflichkeit beurteilen will, wenn man keinen Sinn für Rose Bernds sinnliche Gesundheit hat, keine Freude darüber, daß der Dichter nach einer stolzen Ausfahrt ins Legendenland wieder heimgefunden hat, so müßten mit allem »Anstößigen« in diesem Stück jene beiden ethisch liebenswerten Charaktere versöhnen. Das war die Meinung, als »Rose Bernd« neben vielen andern Bühnen Mitte Februar 1904 auch auf das Wiener Hofburgtheater kam, das kurz zuvor den »Armen Heinrich« gut vertragen hatte. Auch zur »Rose Bernd« wandte sich das in solchen Fällen immer etwas beängstigte Wiener Publikum mit lebhaftem Zuspruche hin. Dennoch kam es nur bis zur fünften Aufführung. Ein sittlich entrüsteter Machtspruch setzte sich über die Ethik dieses Dramas ebenso wie über viele zuständige, dem Drama günstige Instanzen hinweg, und die weitern Vorstellungen unterblieben. Noch schwerer als den Dichter, der fast alle Proben tätig mitgemacht, noch schwerer als das Theater, das einen Teil seiner karg bemessnen Arbeitszeit verloren hatte, traf dieser Schicksalsschlag die innige und starke Darstellerin der Rose, Frau Medelsky, die nun erst zur vollen Freiheit über ihre Aufgabe, zum eignen Genuße daran gekommen wäre. Statt dessen mußte sie es mit ansehn, wie wenige Tage später auf einer Nebenbühne in überhasteter, das Sensationsbedürfnis rasch ausnützender Einstudierung eine drall-drollige Lieblingssoubrette der Vorstadtwiener mit Rose Bernds Glück und Ende unfreiwillige Komik erzeugte. Die ganze Maßregel wirkte, als habe ein verspäteter Besucher jener Berliner Sonnenaufgangsvorstellung sichs fünfzehn Jahre lang überlegt und dann seiner Empörung Luft gemacht. Der Dichter war an solche Erfahrung schon gewöhnt und ließ sich nicht weiter dadurch verstimmen.
Wenn nach »Rose Bernd« trotzdem eine Pause seines Schaffens eintrat, wenn die Jahre 1904 und 1905 wenigstens auf den Markt keine Früchte brachten, so war lange und schwere Krankheit der Grund. Hanneles schwarzer Engel stand schon vor des Dichters eigner Tür. Aber seine innere Gesundheit siegte. Ärztliche Kunst und Pflege sorgten für das übrige, und nach einem ausgiebigen Erholungsaufenthalt in der italienischen Schweiz konnte Gerhart Hauptmann mit seinem genesenen Heinrich von der Aue rufen:
Und so ergreif' ich wiederum Besitz
Von meinem Grund. Gestorben! Auferstanden!
Die zween Schläge schlägt der Glockenschwengel
Der Ewigkeit. Los bin ich von dem Bann!
Laßt meine Falken, meine Adler wieder steigen!
Wie Heinrich von der Aue zog er mit seinen Falken seinen Adlern wieder heimwärts. Er stieg hoch in die Schneeregionen des Riesengebirges, das der Welt auch seine Winterreize entdeckt hatte. Mehr Schnee und Eis kann es nicht geben, als zu der Zeit, da sich Hauptmanns » Glashüttenmärchen« dort oben zuträgt. Es ist, als wollte der Dichter die weiße Natur zur künstlich aufs äußerste gesteigerten Weißglut der Glasöfen in den schärfsten Gegensatz bringen. Mehr noch lockten ihn wohl die Verwandtschaftszüge zwischen Glas und Eis. Die langen Zapfen an den Bergfichten klingen und klirren ihm wie Glas; aus Wasser Glaskügelchen fertig zu bringen, ist ein schöner Traum, und eine Märchenhoffnung läßt in der »schönen Wasser- und Glasmacherstadt« Venedig das Wasser zu gläsernen Blumen sprießen.
In dieses zweischichtige, aus Phantasie und Wirklichkeit seltsam durcheinander gewirkte Riesengebirgsstück kommen von der Adria her Erinnerungen, ziehen zur Adria hin Wünsche. Venedig ist das Land einer Mignonssehnsucht. Das Reich der Tatsachen liegt unter Schnee und Eis am Gebirgskamm auf der Grenze von Schlesien und Böhmen. Dort steht eine Glashütte, die außer Betrieb gesetzt ist. Wahrscheinlich weil sie zu hoch im Gebirge steckt. Auch Gerhart Hauptmann empfing seine Glashütteneindrücke an kultivierterer Stelle. Freilich flieht vor der Kultur das Märchen, das hier auch dem Dichter nicht so Stand hält wie sonst. Dem Dichter besonders bequem für seine Beobachtungen lag und liegt am obersten Ende von Oberschreiberhau die Josefinenhütte, deren sozialen und merkantilischen Einfluß man auf der ganzen stundenlangen Wanderung durch die drei Schreiberhauer Dörfer verspürt. Man kommt an Glasmalern und Glashändlern vorbei, man begegnet den hagern bleichen Gestalten der Glasarbeiter in blauer Bluse, und in eleganter Equipage fährt ein hoher Hüttenbeamter durch das Tal. Oben in der Hütte selbst kann jeder zusehen, wie einfach aus dem Fluss einer zähen Masse das zierliche, wasserklare Kelchglas entsteigt. Man hat den Eindruck einer frei schaffenden Kunst, einer zaubernden Phantasie und erkennt auch, daß das Gelingen des Werkes sehr wesentlich vom individuellen Können des Arbeiters abhängt. Er ist schon ein Kunsthandwerker. Er muß genau wissen, wie er mit dem langen eisernen Rohr umgeht; mit dem einen Rohrende greift er äußerst geschickt in die Weißglut, um ein Stück Materie herauszufischen, das andere Rohrende setzt er wie ein Musikus an den eigenen Mund, um in die Form hineinzuhauchen, als sei das Instrument ein Pfeifchen, aus dem Seifenblasen emporspringen. Wirklich nennt er dieses wundertätige Rohr die Pfeife, und wirklich steht im Nu wie eine schön gelungene Seifenblase das kristallene Gebild vor unsern Augen. Während wir es betrachten, hat der emsige Bläser (er verdient diesen musikalischen Namen) schon wieder die Backen voll genommen; seine Lunge hat ein neues Werk vollbracht. Man betrachtet ihn voll Mitleid und fragt, wie lang menschliche Atmungsorgane diese Last in dieser Gluthitze ertragen können.
Neben das Mitleid aber treten ästhetische Empfindungen. Man denkt an den schöpferischen Odem Gottes. Man fühlt, daß diese Arbeit einen Dichter zu ähnlichen Lebensbetrachtungen reizen könnte, wie Schiller sie an das handwerksmäßige Entstehen der Glocke knüpft. Wir sind in der Heimat Gerhart Hauptmanns des Glockendichters, und meinen, er wäre der Rechte, auch das Symbol des Glases zu finden.
Aus dem Gemeinplatz »Glück und Glas, wie leicht bricht das« hatte schon Unland im »Glück von Edenhall« das beste herausgezogen. Gerhart Hauptmanns Dichtung vom Glas mußte eine Glashüttendichtung werden, und sie ist es geworden.
Das Feinste, Zarteste, Schönste in der Glasmacherkunst wurde nicht in Rübezahls Bergen erfunden. Auch dorthinauf kam es aus der Märchenstadt an den Lagunen. Wie sich der Glockengießer Heinrich die Kunst für sein Handwerk aus Nürnberg geholt hatte, so holten sich die schlesischen Glashütten ihre Kunst aus Venedig. Aus Venedig kam, was ihrer heißen, harten, lebensgefährlichen Tagesarbeit den sonntäglichen Schmuck gab, den leichten Schwung, die liebliche Form, die künstlerische Freiheit, den poetischen Adel. Diese märchenhafte Herkunft war es vor allem, die der Dichter des Glases im Sinnbild zu gestalten hatte. Das Sinnbild wird ein Mädchen aus dem Märchen von Venedig. So entstand Pippa, leicht und frei und zart und rein wie aus Glasbläsers Rohr in die Welt hineingehaucht. So entstand Pippa, wie das edle »Zierglas« ihrer venetianischen Heimat, eine »schlanke Winde«, eine »Blüte auf biegsamem Stengel«. So entstand Pippa der »Spuk«, Pippa, der »kleine Geist«; Pippa das »zitternde Salamanderchen in der Weißglut«, das »kleine Fünklein aus dem Glasofen«, die »kleine zitternde Flamme«. So entstand Pippa, wie Rautendelein, eine »kleine rothaarige Nixe«. So entstand Pippa, die »kleine, ans Licht gescheuchte Motte«; Pippa, »das liebliche Kind von Murano«.
Den Namen holte sich der Dichter aus Robert Brownings Drama »Pippa geht vorüber«. Er fand hier wenig mehr als den Namen. Brownings Pippa ist ein segenbringendes Engelskind. Hauptmanns Pippa hat außer ihrer irdischen Tanzlust noch andere sehr weltliche, sehr weibliche Eigenschaften. Sie hat gar kein Beglückungsbedürfnis, gar kein Läuterungsamt. Naiv lebt sie in den Tag und, wenn es sein muß, auch in die Nacht hinein. Ihr zweifelhafter Vater, ein Glastechniker aus Venedig, hat sie nach Schlesien mitgenommen und in einem ziemlich unfreundlichen Wirtshaus hoch am Gebirgskamm untergebracht. Wie alle Italiener scheint er tags fleißig zu arbeiten. Nachts spielt er Hasard, und zwar mit Vorliebe falsch. Bei solch einer Gelegenheit kommt es zum Streit, und er wird erstochen. Nun hat die kleine Pippa allen Zusammenhang mit der Heimat verloren. Sie trauert um ihren Vater keinen Augenblick, aber sie ist allein in der Fremde. Sie bleibt nicht allein. Wie Rose Bernd hat sie mindestens drei Mannsbilder, die sich um das kleine flügge Mädchen drängen. Der eine ist der Hüttendirektor selbst, ein angejahrter Viveur, der sich ihretwegen im härtesten Winterfrost nach Mitternacht zu Sekt und Forellen in die Bergschenke setzt; eine etwas geschliffenere Spielart des Herrn Flamm. Der andere ist ein alter ausgedienter Glasbläser namens Huhn, der seinen Namen wohl eher von Hunne oder Hüne als von unserem friedlichen Federvieh ableiten darf. Der dritte ist Michel Hellriegel, ein wandernder Glasmachergesell, der von Schneidern stammt. Am weitesten vom Ziele bleibt der noble, etwas bedenklich auf Jungfernbraten erpichte Herr Direktor. Er ist die realste Figur im Stück, und doch hebt auch er sich mit seiner Bildung, mit seinen Reisen in eine etwas höhere Sphäre und findet, als ihn der Schnee blendete, das dichterische Bild: »Mein Sehorgan kommt mir vor wie ein Teich, auf dessen Grund ich gesunken bin und über das oben fortwährend farbige Inselchen schwimmen.« Er empfindet das Symbolische seiner Industrie, wenn er auf seinen Dienstfahrten die Arbeit plumper, dumpfer Gebirgsmenschen an Pariser Galatafeln prangen sieht. Aber er bleibt für Pippa nur der »gute Onkel«, der Süßigkeiten mitbringt; sie vergißt ihn, als sie ihr Herz entdeckt hat. Etwas weiter kommt der Hüne Huhn. Während ihr Vater im Streite fällt, verschleppt Huhn das Kind mit Gewalt in seine einsame Spelunke. Aber von hier wird Pippa wiederum entführt, und zwar durch Michel Hellriegel.
Diesmal geht sie gern mit. Michel ist jung, regsam und ein wahrer Tausendsassa an wunderlichen Einfällen. Wie jener kleine Berliner Ballettänzer und Schachmeister Max Harmonist, einer der frühesten und glühendsten Hauptmannenthusiasten, ist Michel Hellriegel der »Sohn einer verwitweten Obstfrau«. Er ist auch sonst ein Muttersöhnchen mit Mutterwitz. Die Vernunft kam bei ihm zu kurz, weil die Phantasie alles überwuchert. Wie der Hüttendirektor, wie Wirt, Kellnerin und Gäste in der Bergschenke, ist auch Michel ganz Wirklichkeit. Dennoch lebt er wo anders. In seinem Hirn fiebert Romantik. Er nährt sich von Illusionen. Aus einem Bilde Moriz Schwinds scheint er herzukommen oder aus dem Märchen von Hans im Glück oder aus der Handwerksburschenpoesie unsrer Volkslieder oder aus Gerhart Hauptmanns eigenster dichterischer Beschaffenheit. Aber er steht mit zerrissnen Stiefeln und beschädigtem Lungenflügel auf irdischem Boden. Wie später Emanuel Quint mit seinen jenseitigen, so lebt Michel Hellriegel mit seinen diesseitigen Glückserwartungen in einer andern Welt; aber körperlich befindet er sich auf der Walze als ein »ergebenst erfrorener Handwerksbursche«, und seinetwegen brauchte das Stück noch kein Märchen zu sein.
Dieser urdeutsche Gesell erblickt mit Augen, die lachen und weinen können, schon in der mitternächtigen Gebirgsschenke die kleine Italienerin zusammen mit dem alten Glasbläser Huhn in einem wilden Naturtanz, der zugleich Verfolgung und Flucht ist. Auch Huhn kann zunächst noch als Realität gelten; ins Riesenhafte, Groteske, Wüste gesteigert, aber doch ein lebendiger Mensch, dem auf Waldwegen des Zackentales unheimlich zu begegnen wäre. Als Gerhart Hauptmann später in Griechenland reist, erinnert er sich an einen alten Knecht, der in seinen Delirien die Welt von schwarzen Ziegen oder Katzen erfüllt sah, wobei er von albdruckartiger Angst gepeinigt war. Das war gewiß der existante Doppelgänger des Glasbläsers Huhn.
Huhn hat Glas geblasen, solange in der benachbarten Glashütte noch die zwei Öfen brannten, und es muß ein mächtiges Fauchen gewesen sein; vor der wilden Lohe ein wilder Mensch! Zusammen mit der alten Glashütte wird auch der alte Glasbläser außer Dienst gestellt, und nun spukt er ohne Daseinsrechte um sie herum, wie eine entthronte Gottheit. Etwas Titanisches, etwas Gigantisches, etwas Zyklopisches, etwas Heidnisch-Höllisches setzt diesen stumpfen Riesen über die Natur, etwas Vorsintflutlich-Tierisches stellt ihn hinter Zeit und Kultur. Mit dem Halbtiere Waldschratt könnte er sich verstehn, wenn er so redegewandt und geistreich wäre wie jener. Seinen ungeheuren Lebenskräften scheint das Alter nichts anzuhaben. Er säuft, er tanzt, er streckt mit Gorillagier seinen Arm nach der Jüngsten aus. Aber daheim mit einer Dohle, einer Ziege, den beiden einzigen Hausgenossen, lebt er friedlicher als mit Menschen, nur das Kind, das er bei sich versteckt, und für das er gutmütig zu sorgen scheint, ist in Gefahr. Wohl dem Kinde, daß ein Michel da ist, der es aus dieser Höhle noch rechtzeitig entführte, denn der alte Huhn hatte hier anderes im Sinn als zu tanzen. Freilich findet dieser junge David keine Gelegenheit, dem Riesen Goliath gegenüberzutreten. Das besorgt eine höhere Macht.
Eine höhere Fügung brachte auch in derselben Nacht, da Huhn mit Pippa verschwunden war, den Michel herbei. Beide vergessen übereinander die Gefahr und halten in Huhns Hütte ein Zwiegespräch, wie es nur große Dichter schaffen können. Wir sahen den deutschen Jüngling und das italienische Mädchen vorher nur mit andern. Jetzt sind sie, die sich erst seit einer Stunde kennen, selbander allein; allein wie zwei verirrte Kinder, allein mit ihrer Jugend, allein mit ersten Regungen ihrer Herzen und ihrer Sinne. Sie erscheint ihm als das Wunder, das er voller Vertrauen gesucht hat, er weckt in ihr den Glauben an seine Träume. Und doch empfinden sie sich als Wirklichkeit und klammern sich fest aneinander. Trotz der Gefahr, in der sie sind, kommt eine selige Lust über sie. Sie hören in der Winternacht die Vögel singen und suchen durch Schnee und Eis den Frühling. Pippas Vater und Hellriegels Mutter spuken durch ihr Geschwätz, der Falschspieler als erledigtes Hindernis, die Obstfrau als kopfschüttelnde Sorge. Mit dem ersten Frühlicht scheint die Macht des Raubtiers Huhn gebrochen; ohne es selbst zu wissen, begleitet er mit einem gewaltigen Naturschrei der Freude den Auszug dieser weinenden, lachenden, küssenden, seligen Kinder. Durch die ganze Szene zieht ein Ton, als redete Shakespeares Humor mit einem Märchen des deutschen Volkes.
Mit diesem Bröcklein reinster und kräftigster Poesie sind wir erst am Schlusse des zweiten Aktes angelangt und haben noch zwei Akte vor uns. Wie wird es uns, wie wird es den Kindern weiter ergehn? Bisher waren wir in einem Märchen der Wirklichkeit, in der Wirklichkeit eines Märchens, und nun sollen wir zum alten Wann. Eine neue Erscheinung! Zur Not und zunächst kann man sich auch ihn bürgerlich konstruieren. Es gibt solche uralte Herren, die sich irgendwo in die Einsamkeit zurückziehen, um sich mit irgendeiner geistigen oder mechanischen Betätigung die Zeit zu vertreiben. Ich kannte einen pensionierten Husarenoberst mit dem eisernen Kreuz der Freiheitskriege, der wie ein Obermeister drechselte. Herr Wann – er wird einmal, nur halb im Scherz, als Major a.D. angesprochen – Herr Wann hat sich auf dem Kamm eine Baude genommen und dort eine Sternwarte eingerichtet. Da er offenbar kein Zunftmensch ist, so würde man es ihm kaum übelnehmen, wenn er gelegentlich in seine Astronomie auch etwas Astrologie einmengte und in den Sternen, die er berechnet und beguckt, auch zu lesen versuchte. Menschlich kommt man ihm dadurch näher, daß er, dem Höhenklima gemäß, Sinn für schweren alten Falernerwein hat. Doch spendet er den edlen Stoff in edelstem Gefäß, und so bleiben wir auch bei ihm im Bereich der venetianischen Glasindustrie. Mit dem allzumenschlichen Hüttendirektor verkehrt er ganz menschlich, zitiert Schillers Wallenstein, philosophiert in anschaulichen Beispielen aus dem Tierreich über das Ignoramus der Menschen und macht sich seine Gedanken über eine musikalisch-kosmische Brüderschaft nach dem sogenannten Tode. Aber er lebt keineswegs bloß in höhern Sphären. Daß sein Freund, der Hüttendirektor, der kleinen Pippa nachstellt, oft in später Nacht durch Schnee und Eis ihr im wahren Sinn des Worts nachsteigt, weiß der getreue Nachbar, der gern durch weithin reichende Ferngläser zum Fenster hinaus auch in die Talgründe schaut, ganz genau. Und nun sehen wir, zum erstenmal, wie der alte Schalk ein bißchen Charlatanerie treibt. Der Direktor will von seiner Leidenschaft für das Kind geheilt werden, Wann klatscht in die Hände, sofort erscheint Pippa und verrät ihre Liebe zu Michel. Der Direktor, den wohl nur nach dem Jüngferlein gelüstet hatte, schöpft schnöden Verdacht, ist geheilt und verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Man weint ihm keine Träne nach.
Desto frischer, herzhafter, bewegter ist Pippa, die der Alte durch sein Fernrohr längst kommen sah. Wie ein Sturmwind fährt sie herein in die wildfremde Stube zu wildfremden Leuten: »Ihr Männer helft! Dreißig Schritte von hier stirbt der Michel im Schnee!« Wirklich sind die Kinder wie Hansel und Gretel von früh bis spät umhergeirrt. Nun kann der »ergebenst erfrorene Handwerksgesell« nicht weiter. Und wie er am Morgen Pippa vor Huhn rettete, so rettet am Abend Pippa ihn zu Wann. Wie im Reiche Wanns nichts so ganz mit rechten Dingen zugeht, so springt auch Michel, der Ohnmächtige, der Erstarrte plötzlich quicklebendig wieder auf, fängt sofort mit seinen Phantastereien an, und sein Selbstbewußtsein als Schützer einer Mädchenunschuld entwickelt sich zusehends. Mit Pippas Glauben an seine Illusionen steigt ein naiver Größenwahn in ihm auf; er vergleicht sich mit dem Erzengel seines Namens, und doch wandeln ihn menschliche Schwächen an, wie Undankbarkeit gegen den alten »Seelenfütterer« Wann, der ihn auch mit leiblicher Speise labt, wie Angst vor Verfolgung, die immer die Kehrseite des Größenwahns ist. Aber mächtig bleibt in ihm der größte Wahn, sein Märchenkind heimwärts in die Märchenstadt zu führen. Schon morgen Nachmittag will er an der Adria Orangen essen. Diesen Wunsch erfüllt ihm der alte Magus Wann, und zwar ohne Zauberapparat. Michel hält das Spielzeug einer venetianischen Barke in der Hand, Pippas kleiner feuchter Finger singt auf dem Rand des venetianischen Edelglases eine wundersame Melodie. Michel fällt in Hypnose und dichtet sich in schönen Versen die Reise nach Venedig. Als er wieder wach ist, möchte er so weiter träumen, und da die Natur ihr Recht fordert, bringt Wann »der Herbergsvater« die totmüden Kinder zu Bett.
Auch ihn, den Urgreis, ergreift Pippas junges Blut, aber er ist der Weise, der sich zähmt. Bald steht ihm gegenüber das ungezähmte, hitzige Tier. Wann und Huhn, beide alt, so alt wie Maß und Gier, ringen Brust an Brust. Wann siegt, Huhn stürzt. Man deute diesen Zweikampf zweier Stärken wie man will. Wir haben den greifbaren Boden der sinnbildlichen Dichtung verloren. Wir befinden uns vor einer duftlosen Allegorie, die auszulegen, aber nicht zu fassen ist. Wir haben noch einen Akt vor uns. Wir stellen ihm die Aufgabe, das Schauspiel wieder zur Anschauung zurückzuführen. Aber der Akt bringt immer mehr undeutsamen, daher in gewissem Sinn unbedeutenden Fabelkram und erinnert an die blechernsten Klänge der »Versunkenen Glocke«. Huhn lebt noch, aber sein ganzes Wesen ist in einem furchtbaren Aufruhr. In Hauptmanns beliebter Anapästenprosa bezeichnet Wann diesen Zustand Huhns mit der bombastischen Phrase: »Hier keltern typhonische Mächte den gellenden Qualschrei rasender Gotterkenntnis.« Man muß Sätze wie diesen noch einmal lesen. Michel lästert Gott, der hier erkannt werden soll, als den »großen Fischblütigen«, der nur zerstören kann, was er geschaffen hat. Dabei sieht er vor der Tür kuriose furiose Gestalten, die offenbar nach Huhns armer Seele schnappen. Wann geht hinaus, um, wie einen Arzt, den Tod herbeizuholen. Aber Huhn, der plötzlich dem alten Wann ähnlich wird und sogar Pippas weiße Mädchenhaut kriegt, beruhigt sich, als auf seinem Herzen samariterhaft Pippas kleine Hand ruht, diese kleine Hand, die immer wieder auch mit den Extravaganzen des Stückes versöhnt. Auf Suggestion und Trance folgt Handauflegung. Der alte Glasbläser wird nun wieder etwas menschlich-nachweisbarer. Er verfällt in ein sanftes Delirium. Seine Sucht nach Pippa verwischt sich mit seiner Trauer um die verlorne Berufsarbeit. Pippa scheint ihm aus der Weißglut des Glasofens zu kommen wie ein gläsernes Gebilde. Das doppelte Verlangen zerrt an allen seinen Gliedern. Er sieht im Glasofen Funken und Lichter tanzen, seine Knochen tanzen, sein Blut tanzt, sein Wahn tanzt, auch Pippa soll tanzen. Gerade das aber hatte ihr der alte Wann – ich weiß nicht warum – streng verboten. Nun ist das Kind im heftigsten Kampfe mit sich selbst. Sie muß tanzen und darf nicht tanzen. Der Zwiespalt in ihr steigert sich bis zum äußersten, schließlich tanzt sie, weil Michel Hellriegel es ihr rät. Wann hat es untersagt, Huhn hat es verlangt, Michel entscheidet, Huhn triumphiert. Während er mit seiner Hand ein Glas zerdrückt, stirbt Pippa in Wanns Armen, der draußen jenen Arzt, den er suchte, gefunden hat. Auch Huhn stirbt sofort nach, und zwar mit jenem Naturschrei der Freude, der auch diesmal, wie das erstemal, dem guten Michel durch Mark und Bein geht. Michel erblindet, aber seine innern Gesichte werden immer schöner, immer venetianischer. Wie Huhn seine Pippa mit einem Glase verwechselte, so verwechselt der blinde Michel die tote Pippa mit seiner italienischen Tonpfeife, nach der Pippa tanzen soll.
» Und Pippa tanzt,« redet der alte Wann dem Blinden ein. Ein Stummer aber führt den Blinden mit allen seinen Einbildungen hinaus ins Weite, Ungewisse. Wie vor seinem Glutofen aus flüssigem Glas feste Kugeln werden, so will Michel in Pippas Venedig Wasser zu Kügelchen ballen. Dabei stehn ihm schon geballte Wasserkügelchen unter seinen Glutaugen auf den Wangen. Mit einer heitern Schwermut endigt dieses Stück, das voller Schönheit, aber ohne Klarheit ist, wie ein wundervolles Glas, dem der Hauch des Bläsers nicht die letzte Reinheit geben konnte. Mit Recht wollte der Dichter selbst nicht ausdeuten, ist aber in Andeutungen dunkel geblieben und den Weg von der Idee zur Anschauung nicht ganz bis ans Ende gegangen. Was an diesem Stück wunderbar schön ist, legt sich um Pippa und besonders um Michel. Was starr und kalt geblieben ist, trifft den alten Wann, der gar keine »mythische Persönlichkeit« zu sein brauchte. Etwas mehr Major a.D., und alles wäre besser!
So wie das Stück ist, konnte es auch auf dem Theater nur halbe Wirkung tun, denn es wird der Schauspielkunst schwer gemacht, einen Stil zu finden.
Fast gleichzeitig mit dem Glashüttenmärchen beschäftigte sich Hauptmann mit einem andern Drama, das nicht in der sichtbaren Welt zugleich die unsichtbare vor Augen stellen will, sondern die unsichtbare Welt aus der sichtbaren fühlen läßt. Innerhalb seines alten Realismus fand er die geheimen Sinnbilder, und je weniger er sie ausmalte, desto lebendiger sind sie zu spüren. Wie in »Rose Bernd« die fruchtbare Ebene, in »Pippa« das winterliche Hochgebirge, so ist diesmal das Meer der große Hintergrund, den die Natur stellt. Auch hier knüpft Hauptmann, wenn er diesmal auch schlesischen Boden verläßt, an eignes Erlebnis an. Schon früh hatte er mit seinem Malerfreunde Hugo Ernst Schmidt auf Rügen große Eindrücke geteilt und genossen. Später besuchte er mit seiner zweiten Gattin, einer flotten, frischen Bade- und Schwimmnatur, mehrere Sommer hindurch Hiddensöe, jene Insel, die sich westlich von Rügen wie ein langer dürrer Hecht etwas gekrümmt längs der Küste ins Wasser streckt. Dort mag ihm sein Freund Schmidt oft genug eingefallen sein, dort dachte er über das Schicksal des Frühverstorbenen nach, dorthin legte er den Schauplatz seines Dramas » Gabriel Schillings Flucht«, das zusammen mit »Pippa« 1906 entstand, aber erst 1912 erschienen ist. Wie sich »Rose Bernd« in Sachen des Milieus an »Fuhrmann Henschel« knüpfte, so knüpft sich »Gabriel Schilling« an »Michael Kramer«. »Michael Kramer« wurde dem Andenken Schmidts gewidmet, »Gabriel Schilling« spiegelt Schmidts Schicksal wider. Der Dichter tritt noch einmal in jenen jungen Kameradenkreis, zu dem schon Loth und Schimmelpfennig aus »Vor Sonnenaufgang«, Braun aus den »Einsamen Menschen«, Michael Kramers feiner, mitsinnender Schüler Ernst Lachmann gehörten. Gabriel Schillings Arzt Rasmussen wirkt wie ein Gemisch aus Loth und Schimmelpfennig, Ernst Lachmann wie eine Vorstudie zu Gabriel Schilling selbst. Schon Ernst Lachmann war schlimm verheiratet. Wir lernten seine junge Frau auf einer Visite bei Kramers flüchtig kennen. Sie heißt Alwine. Otto Pniower gibt ihr das Zeugnis, daß sie mit einer fast beispiellosen Treffsicherheit hingestellt, daß jede ihrer Bemerkungen von schlagender Kraft ist. Obwohl man sofort erkannte, daß Alwine ihren Mann unglücklich macht, wirkte sie noch humoristisch, halb filia hospitalis aus dem Berliner Quartier latin, halb Kellnerin des Café latin. Die beiden Frauen, die den armen Gabriel Schilling zur Flucht ans Meer und ins Meer treiben, wirken kaum noch humoristisch. Sie kommen auch nicht mehr aus Alwinens Revier, von Alwinens Niveau. Die eine ist eine Gouvernantennatur, die andre eine Zigeunernatur.
Das Stück spielt in frischester Seeluft. Sichtbar sind die Dünen und der Strand, die man von Stralsund oder von Rügen aus erreicht. Die Abendsonne, bald sinkend, bald gesunken, wirft ihren Glanz auf Himmel und schäumende Wellen. Vom Leuchtturm blinkt das auf- und niedergehende Feuer und wirft magische Schatten. Aus Windstille entsteht Sturm. Möwen fliegen, Krähen schreien. Ein Echo hallt schaurig wider. Fischerboote segeln. Ein Badender springt in die Flut. Alles das empfinden wir wie in der Natur. Aber außerdem noch den übernatürlichen, gespenstischen Hauch einer andern Welt, der aus Klosterruinen und Kirchhofsstimmung entgegenweht, jener andern Welt, die hinter der sichtbaren verborgen liegt »mitunter bis zum Anklopfen nahe«; jener andern Welt, die man »durch dunkle Ringe um beide Augen viel genauer und gründlicher sehen kann«. Aus dieser Welt heraus soll auch das Meer zu uns sprechen. Mit Künstleraugen gesehen, soll es Ursprung und Ziel alles Wesens sein: »Dort stammen wir her, dort gehören wir hin.« Man denkt an Ibsens Ellida.
Aber die künstlerischen Seelen lockt noch ein höheres Ideal. Es ist das Land der Griechen, das sie suchen. Wie in »Pippa« zum Riesengebirgskamm Venedig, so verhält sich hier zur Ostsee Griechenland. In dieser Sehnsucht einigt sich der Glückspilz mit dem Pechvogel. Glück und Pech aber hängt weder vom Meer ab, noch von Griechenland. Glück und Pech kommt von Weibern.
Schon das Motto der Buchausgabe deutet auf den Sinn des Stückes. »Einige versichern,« sagt Plutarch, »Eunosthos sei ihnen begegnet, ans Meer eilend, um sich zu baden, weil ein Weib sein Heiligtum betreten habe.« Dieser misogyne Standpunkt bestimmt Gabriel Schillings Flucht. Vor zwei Weibern flieht er ins Meer. Nicht um zu baden, sondern um zu sterben. Die Ehefrau und die Geliebte hetzen ihn wechselweis in den Tod. Sie werden mit Harpyen verglichen. Die Ehefrau ist eins jener unseligen Wesen, von denen man nie weiß, ob sie mehr sich oder andre quälen, eine Frau, die nie bei wirklich guter Laune ist; für jeden Mann die Pein, für problematische Künstlernaturen der Tod. Aber auch die andere, die Geliebte, ist keine Befreierin von solcher Pein. Aus dieser Jüdin von Odessa, die geistige Anregung sucht, ist eine Berliner literarische Nachtcaféschlampe geworden. Sie ist sehr verlogen. Sie lockt und lähmt zugleich. Wenn der Mann, der nicht von ihr loskann, sie haßt, so nennt er sie Vampyr, wenn er sie liebt, so nennt er sie euphemistisch seine Braut von Korinth. Diese Frau Hanna Elias und Gabriel haben ein uneheliches Kind; Klein-Gabriel ist gebrechlich und verkümmert wie Ibsens Klein-Eyolf. Auch das Kind kann die Eltern nicht beieinander halten; wie Gabriel vor seiner rechtmäßigen Eveline zur unrechtmäßigen Hanna floh, so flieht er jetzt vor Hanna und Eveline an den Busen, eines Freunds.
So kommt er auf jene kleine, einsame Ostseeinsel, in den Frieden der Natur, zu friedlichen Menschen. Diese Menschen sind edel, hilfreich und gut, wie so oft bei Hauptmann die Nebenmenschen, die bisweilen gar kein andres Daseinsrecht haben, als einem armen körperlich oder seelisch Gebrochnen beizustehen. Wer im Himmel und auf Erden bemüht sich nicht alles um Hanneles Fiebertraum, um College Cramptons Suff, um den Aussatz des armen Heinrich! In diesem Drama ist es ein Vorzug der Charakteristik, daß die Beistände nicht bloß hilfreiche Herzen und Hände haben, sondern auch für sich selbst etwas bedeuten, mindestens als Kontraste zur Gabriel Schilling-Seite. Professor Maurer und sein »Schusterchen« lieben sich, ohne von Staat und Kirche dafür legitimiert zu sein. Er radiert und bildhauert, sie geigt und liest; sie leben in geistig gesunder Luft, ihr Dasein hat Heiterkeit, ihre Nähe ist ein Rettungshafen für Schiffbrüchige. Hier ist Gabriel Schilling auf bestem Wege, sich von seinen Qualen gesund zu baden, von Todesgedanken, von Reue um verschwendete Zeit, von Verpfuschungen künstlerischer Zwecke, vom allgemeinen Weltekel, von jener Ideenverfolgung, die ihn angesichts der Gallionfigur eines gestrandeten Schiffes aufächzen läßt: »Überall diese wahnwitzigen Weibsbilder!« Gabriel Schilling scheint der Mahnung des Freundes zu gehorchen: »Atme, Mensch, trinke die starke Luft und laß das Gespenst deines Lebens von gestern dein wirkliches Leben von heut nicht mattsetzen«.
Aber das Gespenst von gestern ist schon über ihm, das Skelett schon wieder im Hause, der Vampyr lechzt schon wieder nach Blut, Delila greift schon wieder in die Locken dessen, der in seiner Eigenschaft als moderner Dramenheld ach! so gar kein Simson ist. Mitten aus einer großen Austobungs- und Entladungsrede heraus entdeckt plötzlich Gabriel Schilling dort, wo er noch eben mit den Freunden leidlich guter Laune gefrühstückt hat, ein kleines, feines Damenschirmchen. Es ist Hannas Schirm. Hanna Elias ist da, und – wie es in Goethes »Stella« heißt – »Rinaldo wieder in den alten Ketten«. Ihre erste Waffe ist Appell an das Mitleid: ihre kranke Lunge, das kranke Rückgrat des Kindes! Ihre zweite Waffe ist das Bekenntnis ihrer Liebe und ihrer Unschuld. Ihre dritte, die siegende Waffe, ist sie selbst, die Macht ihrer Person auf seine Sinne oder auch nur auf seine Nerven. In der Heimlichkeit der Düne erobert sie sich ihn zurück.
Ihr Sieg ist seine Niederlage. Eine dämonische Raserei kommt ihn an; mit dem Todesgedanken treibt er schauerlichen Scherz, die Zerrissenheit des Gemüts wirkt auf das Nervensystem des Diabetikers, er bricht körperlich zusammen, noch bevor auch das andre Gespenst der Vergangenheit, die ehelich Angetraute, wieder in seiner Nähe erscheint. Sie kommt, weil sie hört, er sei erkrankt. Aber als sie den Kranken sieht, fehlt ihr das Auge dafür. Sie wühlt nur im eignen Jammer, den Kranken überhäuft sie mit Klagen und Anklagen. Und nun dringen die beiden Harpyen mit geballter Faust gegeneinander los. Nachdem sich die Beredsamkeit empörter Weiberseelen genugsam ergossen hat, will es zu Taten kommen, dicht vor der Tür, hinter welcher der Kranke liegt, um den sie kämpfen; dann vor dem Kranken selbst, den der Ekel würgt, der vergebens fragt, wie das Doppelpech dieses Schicksals über ihn kommen konnte.
Wir sehn ihn nur noch auf seinem Todesgang, zwischen Kirchhofsmauern und Klostertrümmern, im Gespräch über die letzten Dinge mit einem schwindsüchtigen Sargtischler, der sich auf Vorrat Bretter für einen »hölzernen Schlafrock« holt. Das Leuchtturmfeuer, das auf die Gallionfigur des gestrandeten Schiffes gespenstischen Schein wirft, weist ihm den Weg ins Meer, den Ausweg aus allen Kalamitäten. So ward doch Gabriel Schillings Flucht vor seinen Weibern eine Zuflucht. So fand er doch auf dem Friedenseiland seiner Freunde den Frieden.
Durch den düstern Schatten dieser gescheiterten, schon vor Beginn des Dramas verlornen, physisch erkrankten Existenz ziehn ein paar liebliche Strahlen. Sie kommen aus den Seelen der Freunde. Hauptmann war in keinem seiner frühern Werke, auch nicht im »Friedensfest«, gegen Frauen so hart wie hier. Man könnte ihn mit Strindberg verwechseln, wenn der Gestalter der Ottegebe und Griselda nicht doch auch hier für den Ausgleich gesorgt hätte. Das »Schusterchen«, die klare, freie, sichre Lucie Heil, nicht unähnlich jener Lucie aus Kellers Sinngedicht, die »Lux, mein Licht« genannt wird, ist vom Dichter mit persönlicher Liebe geschaffen. Daneben steht eine junge Russin, die in das Verhältnis zwischen Mäurer und Lucie zwar auch einiges Wirrsal bringt. Was »endgültig« schien, scheint plötzlich nur »interimistisch«, und der wangenrote Professor droht von einer zur andern ganz sacht hinüberzugleiten. »O, diese Männer!« pflegt man in solchem Falle zu sagen; »Einer ist wie der Andre.« Der gesunden Mannesseele droht dieselbe Gefahr wie der kranken. Aber zum Glück ist diesmal das Schicksal überlegnem Frauengeist anheimgegeben. Sie knebeln das Schicksal nicht, sie fordern keine Rechte, mahnen an keine Pflichten, sie lassen Freiheit und bewahren die eigne Freiheit. Im fünften Akt haben Lucie und die kleine Russin eine Aussprache, die zum feinsten gehört, was Hauptmann gedichtet hat, ohne Eifer, ohne Sentimentalität, ohne Pathos und doch innig, latent bewegt, voll verhaltner Wärme. Jede würde der andern den Besitz lassen, denn Zwang wäre Entweihung. Sie einigen sich in der Erkenntnis, daß, wenn ein Mann unstet ist, er noch nicht der Frau begegnet ist, die ihn bis in die geheimste Regung der Seele versteht. Angesichts des Schrecklichen, das sie bei den andern erlebten, sind sie auch darin einig: »Meistens erschrickt der Mensch vor der Natur, manchmal scheint die Natur vor dem Menschen zu erschrecken«. Und beide bleiben bei der Natur. Das russische Fräulein geht der erschreckenden Menschlichkeit aus dem Wege. Sie erkennt das Bestehende, das Natürliche im Verhältnis zwischen Mäurer und Lucie an. Sie will nicht verwirren, nicht wegnehmen, sie geht ihrer Wege. Lucie aber will nach wie vor an Mäurer durch kein andres Band geknüpft sein, als durch das Band der gegenseitigen freien Harmonie.
Diese beiden Frauen haben sich gut verstanden, und zuletzt hält Mäurer wieder sein »Schusterchen« bei der Hand. Er ist gegen die Ehe, weil das immer für die Männer eine Klippe sei; aber sie nehmen sich vor, beisammen zu bleiben, solang' es in dieser Welt dauert. Sie verstehen sich.
Die andern drei verstanden sich nicht. So kommt es, daß man jetzt Gabriel Schillings Leichnam aus den Wellen fischt. Fischer tragen ihn. Inzwischen liegt Eveline im Morphiumschlaf, durch den sie der hilfreiche, resolut nüchterne Arzt Rasmussen bis auf weitres unschädlich gemacht hat. Dann wird sie einen Witwenschleier kaufen und weiter jammern, aber leben bleiben. Hanna Elias jedoch ist dem Ertrunknen nachgelaufen; völlig verstört. Sie ist doch etwas besser als ihr Ruf. In Gabriel Schillings Flucht liegt auch ihr Schicksal besiegelt. Dieser arme Vampyr hat sich verblutet.
Immer wieder wird man an die »Einsamen Menschen« erinnert. Gabriel Schilling ist der um zehn Jahre älter gewordene Johannes Vockerat. Johannes Vockerats Flucht in den Müggelsee war die Befreiung des Knaben, des Jünglings aus gütigen Schlingen von Haus und Heimat. Der erste Schritt in die Freiheit, ins eigne Land, war sein Todessturz. Jetzt hat sich der Binnensee zum offnen Meer erweitert. Seiner eignen Kraft überlassen, stand der Mann im feindlichen Leben. Die beiden großen Gewalten, Kunst und Liebe, bedrängen, verwirren, verjagen den Wehrlosen. Die Vockeratnaturen sind für das große Leben so wenig geschaffen, wie für den häuslichen Tisch. Auch Johannes hätte sich getäuscht. Aber es gibt Naturen, die der Anfechtung widerstehn, die durchdringen. Dazu braucht man kein Mufflinski zu sein, wie das vertrübte Rauhbein Braun aus den »Einsamen Menschen«; man muß ein Mensch auf der Sonnenseite sein, wie Professor Ottfried Mäurer, der für »das Rinascimento des vierten Jahrzehnts« nicht erst Anregungen brauchte, der in seiner Natur die Kraft fand, immer wieder von neuem den innern Menschen, den Künstler aus sich heraus zu gebären. Trotz Hanna und Eveline ist der Optimismus des Dichters seit den »Einsamen Menschen« gestiegen.
Die beiden ungleichen Brüder Mäurer und Schilling (manchmal wirken sie wie Klinger und Stauffer) sind beide siebenunddreißig Jahre alt. Im Jahre 1900, da das Stück spielt, war Gerhart Hauptmann ungefähr auch so alt. Er erlebte also damals selbst das »Rinascimento des vierten Jahrzehnts«; vielleicht hat er auch einmal Ottfried Mäurers flüchtige Wirrung erlebt. Von diesen Eindrücken, Stimmungen, Erinnerungen, Empfindungen, von diesem Unwägbaren und Unsichtbar-Klopfenden, das viel mythischer ist als Wanns Persönlichkeit, wird das Drama bewegt. Es ist in seiner gehobnen, fast rhythmischen Prosa voller Lyrik. Daß es bei höchst lockrer, kunstloser, zerschnittener Szenenfolge voller Dramatik, sogar kaum ganz frei von Theatralik ist, bewies eine nicht alltägliche Bühnenaufführung.
Als ich im August 1911 den Dichter in Agnetendorf besuchte, sprachen wir viel von dem kleinen alten Goethischen Theaterchen in Lauchstedt bei Merseburg. Zwei Monate zuvor war dort mit Erfolg Kleists »Zerbrochner Krug« und Holbergs »Erasmus Montanus« aufgeführt worden. Hauptmann hatte sich dazu angemeldet, war jedoch über den Termin falsch unterrichtet, und so mußte sein höchst willkommner Besuch unterbleiben. Aber er hatte sich von Lauchstedt ganz richtige Begriffe gemacht; beim Gespräch über solch ein kleines Bayreuth zog er aus dem Schreibtisch ein altes Manuskript hervor und meinte, das wäre etwas für Lauchstedt. Es enthielt »Gabriel Schillings Flucht«. Das Stück erschien dann im Januar 1912 in der »Neuen Rundschau« mit einem kurzen Vorwort, das im doppelten Sinn ein Vorsatz war. Es lautete: »Das nachfolgende Drama wurde im Jahre 1906 geschrieben. Ich habe die Aufführung mehr gescheut, als gewünscht, deshalb ist sie unterblieben. Heute würde ich das Werk nicht auf den Hasardtisch einer Premiere legen mögen. Es ist keine Angelegenheit für das große Publikum, sondern für die reine Passivität und Innerlichkeit eines kleinen Kreises. Einmalige Aufführung, vollkommenster Art, im intimsten Theaterraum, ist mein unerfüllbarer Wunsch«.
Dieser Wunsch des Dichters wurde ein halbes Jahr später in Lauchstedt annähernd erfüllt. Die Schauspieler kamen aus verschiednen Theatern Berlins zusammen, das Publikum kam zu allen drei Vorstellungen aus allen Windrichtungen herbei. Seit der »Versunkenen Glocke« hatte der Dichter nie wieder einen so sichtbaren Triumph erlebt und diesmal auf seinem selbsteigensten Gebiete des modernen Seelendramas. Von allen Seiten streckten sich nun Hände aus, die das wirksame Stück auf die ständige Bühne ziehn wollten. Und der Dichter gab nach. Mit Recht gab er nach, ebenso wie jetzt vielleicht in dem müßigen Streit um »Parsifal« Richard Wagner nachgäbe, wenn er noch lebte. Man soll einen Dramatiker nicht auf das festnageln, was er in Stimmungen, die überwunden sind, unter Umständen, die sich inzwischen ganz verändert haben, einmal gefühlt, gedacht und daher auch ausgesprochen hat. Die erste der dargebotnen Hände, die Gerhart Hauptmann nach der guten Lauchstedter Erfahrung mit Freuden ergriff, war die des Dresdner Hoftheaters und seines klugen Chefs, des Grafen Seebach. Wie sich ein vorsichtiger Tourist, der ins Hochgebirge will, erst allmählich ans höhere Klima zu gewöhnen sucht, so sollte sich Gabriel Schilling auf dem Wege von der Lauchstedter Sommerfrische zum Berliner Wintereis erst in der Dresdner Übergangsluft akklimatisieren.
Dieses tiefsinnige Drama, in welchem die Mystik der Seele rein und klar zum Ausdrucke kommt, gleich der Bühne zu geben, widerstrebte dem Dichter vielleicht nur deshalb, weil man »Pippas Tanz« nicht recht hatte begreifen wollen, und weil einige mit dem alten Wann nicht zurechtkommen konnten. So entschloß er sich, dem Theaterpublikum lieber einmal mit leichtrer Ware Konzessionen zu machen, und ihm nicht ohne Ironie zu sagen:
Was ihr wollt, das kann ich auch. Teilt einmal erst gehörig meine Heiterkeit, dann werdet ihr auch wieder meinen Ernst verstehen. So kam 1907 das Lustspiel »Die Jungfern vom Bischofsberg«, von dem ich schon andeutete, daß es aus Gerhart Hauptmanns zartesten Liebeserlebnissen geschöpft ist. Das Stück sollte ihn an frühes Langen und Hoffen, an die heiterste, glücklichste Zeit seiner Jugend erinnern. Aber das Lied aus der Jugendzeit klang nicht mehr rein, die hellen freundlichen Gestalten von dazumal gingen im Schatten. So öffnet man bisweilen nach vielen Jahren eine Schachtel mit Angedenken, möchte noch einmal das, woran sie gemahnen, durcherleben und findet die alten Liebeszeichen eingestaubt; die Bildchen sind verblaßt, die Briefe vergilbt, das Kettlein verrostet, die Vergißmeinnicht entfärbt.
Es ist schade um den guten Stoff, den Gerhart Hauptmann so lange im Herzen getragen hatte. Dieses Stück abzulehnen, war die Tageskritik im Recht. Nur hätte sie daraus nicht den voreiligen Schluß ziehen dürfen, daß sich der Dichter der Szenen von Pippa und Michel, der Dichter des »Gabriel Schilling« zum Niedergang wende.