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Wider alles Hoffen des Dichters versagte beim »Florian Geyer« die Bühnenwirkung. Das zyklopische Werk versank. Tief erschüttert sah der Dichter ihm nach in den Abgrund. Wie düster diese Stunden der Enttäuschung waren, blieb kein Geheimnis. Mit der Aufrichtigkeit, die dem Manne ziemt und den Künstler ziert, hat der Dichter seinen Schmerz eingestanden, als ihm unmittelbar nach »Florian Geyers« Sturz am 15. Januar 1896 für »Hanneles Himmelfahrt« der Grillparzerpreis zuerkannt wurde. Von Wien kam diese Huldigung, für die sich besonders Max Burckhard eingesetzt hatte, ebenso unerwartet wie kurz zuvor der Berliner Mißerfolg. Sie warf in des Dichters bewölkte Brust einen Sonnenstrahl. Erst dadurch gewann er Freiheit, den seelischen Stimmungen jener Zeit künstlerische Gestalt zu geben. Dieser Preis hat nicht nur ein Meisterwerk belohnt, er hat auch geholfen, ein Meisterwerk entbinden. Er gab dem Dichter den freien Mut, zu sagen, was er litt. Dieser Mut hob die alte Kraft empor, und so erstand, während eines langen Aufenthaltes am Luganersee noch im selben Jahre 1896 »Die versunkene Glocke«.
Vorher vertiefte er sich jedoch in die Werke desjenigen Dichters, dem jener Preis zu danken ist. Er las Grillparzer und kam dabei zu der weniger bekannten Novelle »Das Kloster bei Sendomir«. Sie ist 1828 entstanden, zwischen »König Ottokars Glück und Ende« und dem »Treuen Diener seines Herrn«. Beide Stücke halten sich in einer gewissen sarmatischen Sphäre; in ihr bewegt sich durchaus auch jene Novelle. Ein Schauerhistörchen, erzählt von einem Dichter. Graf Starschenski, der als dienender Klosterbruder das Verbrechen des Gattenmordes abbüßt, vertraut zwei zugereisten Fremden seine bitterböse Lebens- und Ehegeschichte an. Er selbst begreift nicht recht, wie er zu dieser Redseligkeit kommt, und erklärt es sich aus zwei untriftigen Gründen: Der Abt würde zürnen, wenn er auf Fragen der Gäste nicht antwortete, und – »am Ende sprech' ich selbst gerne wieder einmal davon.« Durch diese Einkleidung erreicht Grillparzer das Vorgefühl einer schaurigen, geheimnisvollen Situation und zum Schlüsse die Überraschung, daß der Erzähler alles selbst erlebt hat, daß wir den Mann selbst gehört haben. Die Geschichte ist eine romantisch aufgeputzte, in polnisches Starostenkostüm gewickelte Ehebruchsaffäre. Ein älterer Mann hat ein junges, begehrenswertes Weib aus dem Elend aufgelesen und geheiratet. Das Weib aber hält zum Jugendliebsten und ihr Kind ist nicht des Gatten Kind. Das enthüllt sich allmählich dem Manne, er setzt das Kind aus und tötet das Weib. Dann entsagt Graf Starschenski der Welt, baut bei Sendomir ein Kloster, darin er dienend büßt, und erzählt dreißig Jahre später fremden Menschen sein Schicksal.
Was konnte hieran Gerhart Hauptmann zur Dramatisierung reizen? War es nur Dankbarkeit gegen den großen Wiener Dichter, der auf der Grenzscheide zwischen klassischer und moderner Poesie steht? Man tut einem Dichter keinen Gefallen, wenn man das, was er sich selbst für die epische Form vorbehalten hatte, ins Dramatische überträgt. Gerhart Hauptmann fühlte sich offenbar hier nach längerer Zeit wieder durch das Problem des Verhältnisses zwischen Weib und Mann getroffen. Seine vier letzten Werke, so verschieden sie unter sich sind, die »Weber«, die beiden Komödien, »Hannele«, »Florian Geyer« liegen alle diesem Probleme fern. Nun drang es mit aufgespeicherter, abenteuerlicher Gewalt auf den Dichter ein, der selbst in einer Seelenkrise stand. Er hatte von Altgewohntem, Liebgewesenem Abschied zu nehmen. Denn ein neues, junges, strahlendes Leben lockte. Er stand mitten im »Rinascimento des vierten Jahrzehntes« und empfand eine Erneuerung seiner ganzen Existenz als Vorbedingung weiteren Glücks. Nun sah er in Grillparzers Erzählung die Gefahr, die einen solchen Schritt begleitet. Er las, wie Starschensky, »von Jugend auf an Einsamkeit gewöhnt, die Freuden des Hofes und der Stadt nur in der Freude, die seine junge Gattin daran zeigte, mitgenoß«; wie Starschensky »bald sich in Geräusch und Glanz fügen lernte, ja wohl gar daran Vergnügen finden konnte, wenigstens insoweit Elga es darin fand, deren Geschmack für rauschende Lustbarkeiten, jung und schön wie sie war, sich immer bestimmter aussprach«. Er las ferner, wie dieser schrankenlose Aufwand den Vermögensstand des Grafen erschütterte und schleunige Vorsorge heischte. Er las noch manches andere, und das Problem, wie ein stiller, einsamer, älterer Mann mit einer weltfrohen, jungen Gemahlin lebt, ging ihm näher. Es war wohl ein innerer Trieb, der ihn auch zu den sechs Szenen der »Elga« zwang.
Wie Grillparzer legt auch er um den Vorgang einen Rahmen. Der fremde Ritter, der zur Nachtzeit ins Kloster kommt, wird vom Mönch Starschensky bedient, aber der ist kein redseliger Autobiograph, sondern unheimlich gerade in seiner Einsilbigkeit und Zurückhaltung. Seine Gestalt beschäftigt die Phantasie des einschlafenden Fremden, der im Traume des andern Schicksale sieht. Eine waghalsige dichterische Idee, die sich auf der Bühne in starke suggestive Kraft umgesetzt hat. Solange die sechs Szenen in der geschickten Einrichtung des Brahmschen Theaters spielten, saß man in einem narkotischen Bann, und Begleitmusik tat das übrige, die Nerven spukhaft zu kitzeln. Über diesen angenehmen Albdruck geht die Wirkung nicht hinaus. Hauptmann hatte da, wo er von Grillparzer abweicht, nicht immer die beste Hand. Der Graf tötet hier nicht die Frau, sondern den an sich gleichgültigen Nebenbuhler, den Grillparzer entfliehen ließ. Vielleicht hätte er auch die Frau getötet, aber – der, der das alles träumt, wird gerade »im schönsten Moment« geweckt. Recht peinlich wirkt die alte, fadenscheinige Gräfin-Mutter, die ohne Rat und Tat, ja ohne Leib und Seele ihres Sohnes Vertraute ist in seinen Zweifeln und Qualen. Bei Grillparzer hat Starschenski das alles mit sich allein abzumachen. Das Bedenklichste ist aber der Träumende. Wie kommt er zu diesem Traume, was geht er ihn an? Ist dieser träumende Ritter der verkleidete Dichter? Derselbe Dichter, der die Technik des Traumes in »Hanneles Himmelfahrt« mit meisterhafter Kunst verwendete, macht hier ein äußerliches Kunststück, einen Virtuoseneffekt. Er hat das Stück lange genug verborgen gehalten. Als er es dann aber doch hergab, überraschte ihn ein flüchtiger Sensationserfolg, wie er manchem seiner guten Werke bisher nicht beschieden war.
»Elga« ist kein genügender poetischer Ausdruck für das, was in des Dichters Seele mit doppelter Macht damals kämpfte: für den Konflikt zwischen alter und neuer Liebe und für den Schmerz um ein gestürztes großes Werk. Von diesen beiden Gewalten tönt erst » Die versunkene Glocke«.
Das Symbol der Glocke war und blieb dem Dichter, der so tief in christlichen Vorstellungen steckte, ein vertrautes poetisches Motiv. Noch Michael Kramer hört aus Glockengeläute das heraus, was auf seiner Seele liegt, und sagt: »Die Glocke ist mehr als die Kirche ... Der Ruf zum Tische ist mehr als das Brot.« Schon im Hohenhauser Liebeshain hörte Gerhart Hauptmann den Klang der Glocke, der ihm Glück bedeutete. Es war die Geliebte, die mit ihrer bräutlichen Hand damals des Glöckleins Klöppel rührte, so daß es leis hinunter dem Liebsten ans Herz schlug. Neben diesem kleinen Gelegenheitsgedicht steht schon im »Bunten Buch« ein anderes, mit der Überschrift: »Gestorbenes Erz«. Die Glocke ist hier das Sinnbild jener einst so frohen Botschaft, die niemand auf der Welt mehr hören wolle:
Es geht, ein verlassener Armer,
Ihr Ton durchs öde Land;
Er predigt vom großen Erbarmer,
Den Gott aus dem Himmel gesandt.
Auch diese Glocke schon versinkt:
Wohl hast du zu Grabe geleitet
Manch müdes Menschenherz
Nun ist auch dein Hügel bereitet,
Du armes, gestorbenes Erz.
Diese begrabene, ins Erdreich versunkene Glocke fällt dem Dichter zehn Jahre später wieder ein. Sie tönt ihm wieder. Sie soll der Welt wieder tönen. Florian Geyers Freund, den Rektor Besenmeyer, läßt der Dichter sprechen: »Es ist Sag: von wo unser Herr Jesus aufgefahren gen Himmel, im Mittelpunkt der Erden, da, heißt es, hangt eine große Glocke, die soll einst laut und fürchterlich anschlagen, so laut und so fürchterlich soll sie anschlagen, daß selbst die Tauben sie hören werden. Wolan! knöpfet die Ohren auf, ihr Tyrannen und Peiniger Leibes und der Seele und merket, daß euer jüngster Tag nahet.« Als sich Rektor Besenmeyer und Florian Geyer nach Jahren wiedersehn, drückt Geyer seine frohe Hoffnung also aus: »Die Glocke ist gar gegossen und der Pfeifer mag aufpfeifen; das wollen wir Gott im Himmel danken.« Begeistert rufen darauf seine Anhänger: »Das danken wir Gott und dem Florian Geyer.« So tönt eine Glocke auch in Geyers Glück hinein. Aber ihr Ton war falsch. Florian Geyer unterlag. Er unterlag als Held, er unterlag als »Bühnenspiel.«
Und nun kommt »Die versunkene Glocke«, die den Namen ihres Dichters populär gemacht hat.
Wie Meister Gerhart am »Florian Geyer«, so hat auch Meister Heinrich an seiner Kirchenglocke lang gegossen. Nun ward die Glocke, die heller klingen soll als alle frühern Glocken desselben Meisters. Aber wie Hauptmanns Geyerdrama auf dem Weg über die Bühne versank, so geschieht es der neuen Glocke Meister Heinrichs auf dem Weg von der Werkstatt hinauf zur neuen Kirche hoch oben im Waldgebirg. Am achtspännigen Wagen, der die eiserne Masse auf Bergpfaden hart neben dem Abgrund hinaufschleppen soll, bricht ein Rad. Die Glocke schießt viele Klafter tief in ein unergründliches Wasserloch. Der Meister, der sein Werk versinken und ertrinken sieht, stürzt »wars willig? widerwillig?« nach. Freunde aus dem Dorf finden ihn in der Bergeinsamkeit, vor der Hütte eines verrufnen, alten Weibes.
Am frühen Morgen desselben festlichen Tags, an dem die Glocke zum erstenmal läuten sollte, bringen sie auf einer Tragbahre den Glockengießer seiner Frau ins Haus zurück. Meister Heinrich liegt auf den Tod. Im Fieber sucht er nach Ursachen seines Unglücks. Er sucht sie in seinem verlornen Werke selbst. In eignen Zweifeln an der Bühnenkraft des »Florian Geyer« mag es gewesen sein, daß Meister Gerhart den Meister Heinrich klagen ließ. »Ja, mein Werk war schlecht: die Glocke, Magda, die hinunterfiel, sie war nicht für die Höhen – nicht gemacht, den Widerschall der Gipfel aufzuwecken ... Im Tale klingt sie, in den Bergen nicht ... Noch einmal denn: mein jüngstes Werk mißlang. Beklommnen Herzens stieg ich hinterdrein ... Sie fiel hinab, wohl hundert Klaftern tief und ruht im Bergsee. Dort im Bergsee ruht die letzte Frucht von meiner Kraft und Kunst. Mein ganzes Leben, wie ich es gelebt, trieb keine bessre, konnte sie nicht treiben: So warf ichs denn dem schlechten Werke nach ... So Glock, als Leben, keines kehrt mir wieder ... der Dienst der Täler lockt mich nicht mehr.«
Wie der Dichter der »Einsamen Menschen«, der »Weber«, des »Hannele« im »Florian Geyer« zum erstenmal den Anstieg aus räumlichen und zeitlichen Engen des eignen Daseins auf die weltgeschichtliche Höhe der Jahrhunderte gewagt hatte und scheinbar dabei gestrauchelt war, so wollte auch Meister Heinrich fortan »im Klaren überm Nebelmeere wandeln und Werke wirken aus der Kraft der Höhen.« Weil er das nicht vermochte, will er trotz Weib und Kindern sterben. Aber er wird auf wunderbare Weise gesund. Er wird »noch einmal seinen Schritt ins Leben wenden, noch einmal wünschen, streben, hoffen, wagen – und schaffen, schaffen.« Dies Wunder hat kein tröstendes Preisgericht vollbracht. Dies Wunder, das Frau Magda zunächst ach! so jubelnd begrüßt, dies Wunder, an dem sie dann mit ihren Knäblein selber sterben soll, vollführt der junge Zauber eines fremden, weiblichen Wesens. Ein Mädchen küßt ihn gesund.
Kaum erstanden, verläßt Meister Heinrich sein Dorf im Tal, seine Frau und seine Knaben. Er steigt hinauf zu jenen Waldeshöhen, wo im Turm des Kirchleins, das, kaum erbaut, ein Blitz zerschlug, seine versunkene Glocke erklingen sollte. Dort läßt er sich in einem verlassenen Hüttenwerk nieder und schmiedet Schmuck für sein Liebchen. Das Heimatdorf ist entsetzt über so unerhörten Frevel. Der Seelenhirte des Dorfes macht sich auf, »das verstiegne Lamm zurückzuretten«. Zunächst kanzelt dieser Pastor die reizende Verführerin ab:
Du freches Ding!
Nicht mir, dem Weib allein, noch seinen Kindern –:
Du nahmst der ganzen Menschheit diesen Mann!
Alsbald tritt ihm dieser Mann selbst entgegen, so frei und leicht und stark und frühlingsfroh und königlich, wie ihn der gute Pfarrer nie zuvor gesehn, und auch so schaffensfreudig und so voller Zuversicht, wie er ihn noch nie gesehn hatte:
Was in mir wächst, ist wert, daß es gedeihe,
Wert, daß es reife. Wahrlich, sag ich euch! –
Es ist ein Werk, wie ich noch keines dachte:
Ein Glockenspiel aus edelstem Metall,
Das aus sich selber klingend sich bewegt.
Keiner Kirche gilt dies Glockenspiel der Einbildung. Es gilt einem Tempel der Einbildung. Aus seinem Kunsthandwerk ist dem Meister das Sinnbild für Höheres, für Unbestimmtes geworden. Der Realist schwebt zum Ideal empor. Der Arbeiter wird Künstler, der Schaffende wird Schöpfer. Selber menschlich-übermenschlich beglückt, erfüllt ihn ganz ein Menschheitsbeglückungstraum. Wie aber seine Worte und in ihnen seine Gefühle immer höher auf steigen, kehrt unser leiser Gedanke von diesem verzückten Glockengießer heim zu einem Dichter, der durch die unbeschönigte Darstellung irdischen, zeitlichen Jammers Menschenfurcht und Menschenmitleid erregt hatte und nun in hellen Jubeltönen das neue Lied von der Glocke, das Lied einer versöhnten, schönen Zukunft singen läßt. Die Sehnsucht, die den aufgereizten Webern aus dem Eulengebirge nie gestillt wurde, die Hoffnung, die sich dem sterbenden Bettelkind nur im Todestraum erfüllt, hier springt und singt sie aus dem Glauben einer Manneskünstlerbrust hervor und jauchzet dem zu, was vorhin der Pfarrer in so viel engerm Sinne »die ganze Menschheit« genannt hatte.
Und nun erklingt mein Wunderglockenspiel.
... ... ... ... ... ... ... ... ... ...
Und wie es anhebt, heimlich, zehrend-bang,
Bald Nachtigallenschmerz, bald Taubenlachen –
Da bricht das Eis in jeder Menschenbrust,
Und Haß und Groll und Wut und Qual und Pein
Zerschmilzt in heißen, heißen, heißen Tränen.
Das Buhldirnchen an seiner Hand versteht ihn, denn sie ist in der Freiheit, in Luft und Licht auf den Höhen geboren. Der Seelsorger vom Tal unten, obwohl kein starrer Eiferer, sondern nur ein milder Mahner, ein geistlicher Onkel Schubert auf Lederose, kann ihm nicht folgen. Väterlich warnend tritt er vor ihn hin, wie einst der alte Vockerat vor seinen Johannes. Der Geistliche, der seiner Gemeinde über das Jenseits predigt, will in diesem Falle von »überstiegnen Dingen« nichts wissen und hält sich an das, was diesseits von Gut und Böse liegt. Er hält dem »Überstiegnen« nicht blos seine Christenpflicht vor, sondern noch mehr seine Bürgerpflicht, seine Gatten- und Vaterpflicht und sagt dem Ungläubigen noch eins. Von jener Glocke, die unten im Bergsee liegt und nun beiden ein Symbol des vergangnen Meisterlebens unten im Tale wird, weissagt der Priester:
Sie klingt euch wieder, Meister! Denkt an mich!
Aber mit dem häuslichen Herd, wo sie entstand, soll für den Meister auch die versunkene Glocke abgetan sein. Mit übermenschlichen Kräften arbeitet er, vom Glockengießer unversehens zum Baumeister geworden, an seinem neuen Werk (halb Kirche und halb Königsschloß), dessen »hochgetürmter Bau in einsam freier Luft zur Sonnennähe seinen Knauf soll heben«. Aber dieselben geheimen Kräfte, die ihm halfen, versagen sich dem Vollbringen. Dieser Mann der Tat, der nicht wie Johannes Vockerat die feiernde Dämmerstunde liebt, der nur entweder wach schaffen oder sich schlafend zu neuem Schaffen stärken will, fällt in einen qualvollen Halbschlummer. Was er träumt, ist – der Pfarrer hatte recht – die alte versunkene Glocke. Tief niedergeschlagen, ungestärkt zu neuem Schaffen wacht er auf und sucht bei der Liebsten vergebens müßige Labung. »Gib meiner Seele den erhabnen Rausch, des sie bedarf zum Werk!«
Sie will ihn durch die gewohnten Genüsse trösten. Er aber klebt an seiner unverrichteten Sache. Sie fühlt schmerzlich, daß sein eingebildetes Werk ihm mehr gilt als ihre spielenden Reize. Aber als ihm die Nöte des Lebens, die Rache seiner Schuld auf' den Leib rücken, schüttelt er noch einmal alles ab, im Hoffnungsblick auf die Geliebte: »Du bist die Schwinge meiner Seele, Kind, zerbrich mir nicht!«
Und nun, da Körper und Geist im Sieg über die Mächte der Vergangenheit gestärkt sind, ist er wieder zum Spiel der Liebe bereit. Aber die Mächte der Vergangenheit sind nicht so ganz besiegt. Zu den Küssen der Geliebten drängt kältende Reflexion, die sich wiederum bis zur Gespensterfurcht erhitzt. Sein böses Gewissen – der Pfarrer hat es geweissagt – hört den Klageton seiner versunkenen Glocke, sieht, von den eignen Kindern im Krüglein dargebracht, die Tränen der ertrunkenen Frau, die er verließ.
Aus nassen Grüften steigt seine Vergangenheit wider ihn auf; geängstigt und fluchend stößt er die sündhaft-holde Gegenwart des schwangeren Liebchens weg. Was er besitzt, verläßt er. Was er verloren hat, findet er nicht wieder. Den ungetreuen Hausvater, den schlimmen Christen empfangen die Nachbarn unten im Dorf mit Steinwürfen und hetzen ihn wieder hinauf in die Wildnis des Waldes, wo er seine Bergschmiede und den Bau seiner Zukunft in Flammen aufgehn sieht. Ein Gebrochner schleppt er sich bis vor die Hütte jenes verrufnen, alten Weibes, wo er schon einmal zu Tod erschöpft niedergesunken war. Die Alte ist eine kluge Frau. In ihrer Weltweisheit blitzt noch einmal sein ganzes Leben an ihm vorüber. Dann gibt sie ihm den Erlösungstrank. Und dann ist es vorbei.
Dieses Künstlers Erdenwallen hängt nicht ab von Raum und Zeit. Der Dichter hat Zeit und Raum auch nur flüchtig angedeutet. Als Schauplatz sind wieder dieselben schlesischen Heimatberge gedacht, wo auch das Hannele her ist; man denkt am liebsten an das steile, dicht bewaldete Zackental, das von den Schneegruben nach Schreiberhau herunterkommt. Die alte Waldfrau spricht (ein großer dichterischer Gedanke) im Dialekt der Weber. Aber in die Bergbezirke Rübezahls zog fremde Kultur ein. Was Heinrich der Glockengießer in seinen guten Bürgerjahren schafft, deutet auf Blütezeit und Blüteort des deutschen Kunstgewerbes. Als Gerhart Hauptmann zugunsten Florian Geyers jene fränkische Forschungsreise unternahm, bannte seine entzückten Sinne fast noch mehr als Rotenburg und Würzburg die alte Stadt Nürnberg mit ihren Kunstschätzen und Künstlererinnerungen. Schon sein Florian Geyer sprach das Wort: »Gott grüß die Kunst« aus der vollen Seele Adam Krafts, Veit Stoßens, Peter Vischers. Nun schmücken Werke Peter Vischers und Adam Krafts auch die gute Stube des schlesischen Glockengießers, der in seinen Wanderjahren gewiß einmal die Glocken von Sankt Lorenz und Sankt Sebaldus hat läuten hören. Seine Hausfrau Magda darf ehr- und tugendsam gekleidet gehn, wie die Frau des Hans Sachs oder des Dürer, obgleich ihre Kinder den Vater Papa nennen, obgleich Tabakspfeife und Schwefelhölzchen sogar für Waldteufel schon im Gebrauch sind. Aber auch die finstern Seiten jenes glänzenden Zeitalters deutscher Kunst treten hervor: ein qualmiger Abglanz, der Florian-Geyer-Läufte. Für Ketzer und Sünder brennen Scheiterhaufen im Land. Die Alte im Walde gilt den Leuten als Hexe, die man schmoren sollte, und nur ein rationalistisch angewehter Schulmeister, der wieder aus Nicolais achtzehntem Jahrhundert zu stammen scheint, wagt sich zu der nüchternen These vor: »Hexen gibt es nicht!« Wer so weit wie der Glockengießer vom Wege bürgerlicher Pflichten abweicht, gilt seinen Zeitgenossen als besessen von bösen Geistern.
Dieser Volksaberglaube und jene Anachronismen schlugen dem Dichter die Brücke, um aus der Künstlertragödie ins Märchendrama zu gelangen. »Die versunkene Glocke« ist das erste Märchendrama, das Gerhart Hauptmann für die Bühne vollendete. »Hannele« wurde fälschlich so genannt. Bei »Hannele« liegt alles Ereignis in den Grenzen irdischer Wirklichkeit. Was dort überirdisch scheint, vollzieht sich nur im Fiebertraum des Kindes, der an sich auch eine, irdische Wirklichkeit ist. Die verderblichen Geister der »Versunkenen Glocke« hingegen führen in ihrer übermenschlichen Existenz ein reales Leben.
Die Bühnendarstellung, die den Traumgestalten Hanneles etwas Subsistenzloses, Schemenhaftes geben muß, darf hier bei diesem Wald- und Bergspuk fest ins Fleisch und Blut gehn. Von der Illusion des Zuschauers wird der sichere Glaube an diese Zauberwesen gefordert, denen der Dichter Böcklins Farbenfülle und Lebenswärme, denen er auch etwas von Böcklins Humor gab.
Überall greifen diese Geister leibhaftig ein, wo sich des Glockengießers Schicksal wendet. Jenes Wagenrad, das er am liebsten, wie das feurige Sonnenrad der Sage, zündend durch die Welt triebe, zerbricht der bocksfüßige, ziegenbärtige Waldschrat, ein urgesunder, munterer Bursch von strotzender Naturkraft, lustig, genußfroh, unanständig und stark, in seinem menschenfeindlichen Schabernack von naiver Grausamkeit, wie ein Knabe, der Fliegen quält; zerstörend wie ein Orkan, der durch die Baumkronen tobend bricht, doch ohne Größe. Seinen heidnisch-weltlichen Sinn ärgert das Glockengebimmel. Die Glocke stürzt daher in den Bergsee und gelangt so auf das Gebiet eines froschartigen Wasserkönigs, des aristophanischen Nickelmann, der an die Schwerkraft des Erdmittelpunkts so verhaftet ist, daß er aus seinen Brunnenbecken und Wassertrögen immer nur auf Nabelhöhe emporsteigen kann. Er hütet die versunkene Glocke, und er sieht auch, ihm selbst ein schauriges Wunder, wie Heinrichs Frau, die vor Gram ins Wasser ging, mit ihren Totenfingern dort unten der Glocke Klöppel rührt, so daß sie laut herauf dem Meister ans Gewissen schlägt. Der Wassernix' ist kulturbeleckter, tiefsinniger, schwermütiger als der Waldneck. Er ist schon ein philosophischer Frosch. Er kennt die Sehnsucht. Ihn plagen die Grillen seiner Eifersucht. Bedachtsam und betrachtsam, auch verachtsam blickt er von seinen Brunnenrändern ins Menschliche hinein. Wenn den Waldschrat die Menschen stören, so stellt er ihnen ein Bein: er wirkt körperlich gegen ihre Körper. Nickelmann hingegen macht sich seelisch bemerkbar. Er quält den Menschen, der ihn ärgert, mit Albdruck. Wie jedes feuchte Element, so sind ihm auch die Menschentränen dienstbar. In seiner Welterfahrung ist er mit christlichen Anschauungen so vertraut, daß er wie ein Pfarrer den strafenden Gott, das Schreckgespenst von Schuld und Sühne, vor ein beladnes Gewissen zu zaubern vermag. Mit derselben Glocke, die der Waldschrat ins Wasser stieß, läßt Nickelmann dem Glockengießer ins Gemüt läuten; denn er mißgönnt ihm das Liebchen. Nickelmann streckt seine feuchten, tausendjährigen Arme nach dem reizenden Kind aus, das er an eines Menschen Brust glühend erwärmen sieht, das bald auch ein Menschenkind unter dem Herzen trägt. Und wirklich, als auch sie vom Glockengießer verstoßen wird, als sie der Mensch zerbrach, zieht der Wassermann auch sie herab in seinen Brunnen und in seinen Schlamm. Berührt von Menschlichkeit sinkt das luftige, leichte Waldvöglein schwer in »der Erde moderigen Schlund« zu Kröten und Fröschen. So fällt eine Blüte ins Erdreich zurück, und aus ihrem Samen wächst dann neues Grün und Blühn.
Auch dieses liebliche Kind, Rautendelein (hochdeutsch Rot-Ännchen), ein Elfchen unter Elfen, ist in seinen Einwirkungen auf menschliche Schicksale kein guter Geist. Sie kennt sich und erzählt wie Shakespeares Puck selbst von ihren kleinen Schandtaten. Sie gehört nicht zu denen ihres Geschlechts, von denen Ariel vor dem Lager des schlummernden Faust sagt:
Kleiner Elfen Geistergröße
Eilet wo sie helfen kann,
Ob er heilig, ob er böse.
Jammert sie der Unglücksmann.
Als Rautendelein helfen möchte, ist es zu spät. Denn sie selbst ist es, durch die ihr Unglücksmann, der Glockengießer, entheiligt wird. Ihn verwandelnd, verwandelt sie sich selbst. Der Waldschrat, mit dem sie auf dem Neckfuße steht, war naiv und bleibt naiv. Nickelmann, der mit ihr äugelt, ist längst sentimentalisch geworden. In Rautendelein geht eine Entwicklung vor. Sie war naiv und wird nun sentimentalisch. Anlage zu dieser Wandlung war immer da. Schon früh beschäftigt sie ihre dunkle Herkunft. Aber sie ist rasch getrost: »Kann es nicht sein, füg ich mich drein.«
Doch als dem Kindersinn dieses unbekannten Wesens ein Menschenherz nahe tritt, lernt sie, die bisher nur lachen konnte, auch weinen. Sehnsucht überkommt sie zu den Menschen. Sie möchte es ihren Bergbächen, dem Zacken, der Elbe nachtun:
Da ist kein Wässerlein so dünn und klein,
Es will und muß ins Menschenland hinein.
Nickelmann warnt:
Laß du die Knechtlein ihrer Wege gehn,
Den Menschen Wäsche waschen, Mühlen drehn,
In ihren Gärten wässern Kohl und Kraut,
Ich weiß nicht, was verschlucken, brrr, mir graut.
Aber Nickelmann warnt und fleht umsonst.
Rautendelein eilet nun wirklich zu helfen. Als heilende Fee tritt sie an das Sterbelager des Glockengießers. Sein Leib wird gesund, aber seine Seele bleibt im Banne der, die seinen Leib genesen ließ. Rautendelein zieht den Sterblichen in ihren Zauberkreis. Unter ihrem Kusse scheinen sich ihm »alle Himmelsweiten« zu öffnen und »ahnungsweis ergreift er ihre Welt«. Er folgt ihr nicht am Gängelband. Gerade an ihr entfaltet sich seine Persönlichkeit freier. Zwischen Elfchen und Menschensohn entsteht ein Verhältnis von gegenseitigem Geben und Empfangen. Er wird Übermensch, wenn auch nur in seinem Willen; sie wird menschlich, wenn auch nur in ihren Wünschen. Kaum ist sie ihm nah, so tritt an sie die Auffassung heran, die von ihr und ihresgleichen unter Menschen gilt:
Aber wir dienen froh und bereit,
Weil uns beherrschet, der uns
befreit.
Sie ahnt etwas von einem Bann, von dem Geister ihrer Art zu erlösen wären, von einem Fluch, unter dem sie alle stehn, wissend oder nicht wissend. Sie nähert sich der christlichen Anschauung, daß in verderblichen Geistern ihrer Art das Heidentum der alten Gottheiten weiterspukt, und sie muß sich den Spott des Waldschrat gefallen lassen: »Den Heiland wirst du nicht gebären.« Indem sie aber den Menschen durch ihre natürliche Wildheit entheiligt, wird sie selbst durch ihn heiliger. Wie sein Fleisch und Blut in ihrem Körper zu quillen beginnt, so geht auch das Stück Christentum, das er verliert, in sie ein.
Er dagegen ist schon ein halber Heide. Wie die alten indogermanischen Sonnenanbeter schwört er schon »bei Hahn und Schwan und Pferdekopf«, den Symbolen des Sonnenkults. Die christliche Legende vom verlornen Sohne muß sich in seiner Anschauung mit Gott Freyr vertragen. Aus seinem überspannten, von ihr gesteigerten Selbstbewußtsein heraus sieht er in sich eine Einheit von Christus und dem heidnisch-germanischen Licht- und Frühlingsgotte Balder. Der tote Heiland soll »strahlend, lachend, ew'ger Jugend voll, ein Jüngling, in den Maien niedersteigen.« Wie dem Fiebergesicht Hanneles der Geist Gottes in geliebter Menschengestalt erscheint, so bildet sich im Glockengießer eine heidnisch-christliche Zweieinigkeit von Geist und Natur aus.
Seines Mädchens Zauberkünste, mit denen sie die äußere, sinnliche Natur beherrscht, wollen ihm auch die Wege zur höchsten innern, geistigen Vollkommenheit ebnen. Heinrich aber kann diese Wege so wenig wandeln, wie Rautendelein ihm diese Wege ebnen kann. Er hat Augenblicke, da seinem pflichtgewohnten Menschensinn ihr ganzes Wesen wie eine Kinderei vorkommt, die bunte Schmetterlinge zärtlich liebt und lachend tötet. Er erwehrt sich: »Ich aber bin was mehr, als solch ein Falter!« Sie jedoch ist kein Waldschrätlein und darf mit tiefem Ernste fragen: »Und ich? bin ich nicht mehr als solch ein Kind?« Dieser menschliche Ernst, der aufs Innere dringt, lähmt ihre übermenschliche Kraft, die bisher nur im Genießen lebte. Als menschlicher Eifer, sittliche Entrüstung gegen ihren Geliebten einschreiten, kann sie nicht mehr helfen, und bei allen Geistern ihrer Art sucht sie vergeblich Hilfe. Im Kampfe gegen menschlich-sittliche Mächte ist sogar seine Menschenkraft stärker als ihr Hokuspokus. Diese beiden, die miteinander ihr Bestes getauscht haben, zerbrechen aneinander; beiden wird derselbe Zwiespalt ihres Innern klar: »fremd und daheim dort unten – so hier oben fremd und daheim!« Aber in dieser Halbheit ist keine Dauer. Der Ruf der Urheimat zieht jedes von beiden wieder dorthin, woher es kam. Mit den dumpfen Schlägen seiner versunkenen Glocke treibt den Menschen das Gewissen weg, und Rautendelein sinkt über den Brunnenrand in Nickelmanns feuchtes Gebiet. Die Elfenwelt trauert über Balders Tod. Aber den sterbenden Balder umschwebt mit der ganzen Unbestimmtheit des Traumes, bald fern, bald nah, bald unbekannt, bald innig vertraut sein blasses, mattes, schon schmerzlich und schwer an seiner Liebe tragendes Verhängnis. Noch einmal umweht ihn ihr lichter Geist, noch einmal fühlt er die alte Kraft seiner Hände, aber beides flackert zum letztenmal auf, und dann stirbt Heinrich der Glockengießer in den Armen seiner Elfe; die Wirklichkeit stirbt am Märchen und im Märchen.
Dieses Märchen, aus Leben und Phantasie zusammengewoben, hat einen Schluß, in dem sich das Gewebe zu verwirren droht. Beide Welten fluten schließlich durcheinander wie im Traume, wo dieses Gewebe allein Realität hat, wo diese Realität gerade in ihrer Verworrenheit besteht. So geht der Dichter des Hannele zuletzt auch hier auf einen Todestraum aus, und zuletzt steht auch hier wieder die Bühne vor der schweren Frage, wie sie das Unbegreifliche begreifen, wie sie Symbole realisieren soll.
Zwischen Geisterwelt und Menschenwelt ließ der Dichter eine vermittelnde Gestalt treten. Es ist jene alte Frau, vor deren Hütte der Glockengießer zweimal im Sterben liegt. Sie hat in beiden Welten ihren Platz. Für die Menschen im Dorf ist sie die alte Wittichen, ein Weib wie andere mehr, die im Hexenrufe stehn; für die Geister ist sie die »Buschgroßmutter«, von der Rautendelein ihre Zauberkünste gelernt hat. Diese Alte tritt nur zweimal in den Vordergrund: ganz zu Anfang und ganz gegen Schluß. Dort gehört sie mehr zur Geisterwelt, denn sie füttert mit brummiger Güte die kleinen Kobolde des Waldes, und auch Waldschrat nennt sie Großmutter; die Menschen aber, die gegen sie zetern und zagen, läßt sie ihre geistige Überlegenheit fühlen, eine unerschütterliche Ruhe der Verachtung: sie ist unter den Geistern die einzige, die Größe hat. Was dem Glockengießer nicht glückt, Mensch zugleich und Übermensch zu sein, ist dieser uralten Frau gelungen. Sie weiß all seine Schmerzen und steht über solchen Schmerzen. Christ wie Heide gelten ihr gleich. Ihr klangen Heinrichs Glocken so wenig gut wie ihm selbst; denn sie wohnt nicht mehr im Tale; sie hat in den Bergen festen Fuß gefaßt. Wie sie ihren kleinen Holzmännerchen und Holzweiberchen wohl getan hat, so erweist sie zuletzt, wo sie Mensch beim Menschen steht, auch ihm eine Wohltat. Sie braut ihm Tränke, die ihn von den Qualen des Lebens erlösen. Und in ihre Weine mischt sie Wahrheiten und Weisheit. Sie ist einsilbig und regt doch mit kargen Worten die Erkenntnis seiner selbst breit in ihm auf. Die verrufne Hexe setzt ihm ein christliches Wort wider die Brust: er ward berufen, aber nicht auserwählt! Sie weiß es, daß ihm seine Toten zu mächtig sind. Und sie, die das Leben ihm nicht gibt, sondern von ihm nimmt, wird ihm wie eine Mutter.
Die alte Wittichen steht skeptisch über religiösen Dingen. Sie kümmert sich weder um Balder noch um Christus. Von Freya und Freyr, von Loki und dem Meister Thor, die in den Vorstellungen der andern Geister noch leben und herrschen, will sie so wenig wissen, wie von dem Gott, mit dessen Kreuz ihr der Priester entgegen tritt. Sie hält es mit der sichtbaren Sonne, die, wie sie selbst, weltlich, ist und überweltlich scheint. Aus der unmittelbarsten Naturanschauung, der erhabensten Bedingung alles Lebens nimmt sie ihr Gleichnis der Größe. Von dem Menschensohne, der zertreten vor ihr liegt, dem sie raten und helfen soll, sagt sie das stolz-mitleidige Wort: »Der dort hat die Sonne nie gesehn.« Sie selbst aber sieht die Sonne. Sie begrüßt sie schon frühmorgens nach altheidnischer Vorstellung als das güldne Ei, das dem – Sonnenaufgang verkündenden – Hahn seine Henne gelegt hat.
Auch Nickelmann, der Wassergreis, fühlt sich der Sonne näher als das arme Menschenvolk, von dem er verächtlich spricht:
Mit Schmachterarmen langt es nach dem Licht,
Die Sonne, seine Mutter, kennt es nicht.
Balder ist ihm ein »Sonnenbote«, der den Köcher mit den »Sonnenpfeilen« trägt. Auch in Rautendelein, dessen goldenes Haar aus Sonnenstrahlen gesponnen ist, lebt dieselbe Vorstellung. Im Geliebten erscheint ihr Balder, der Sonnenheld. Aber Meister Heinrich, der Mensch, sucht in sich selbst vergeblich den Sonnenhelden. Das mächtige Gottesauge, um das alle diese Geister schwärmen, wird auch ihm zum Sinnbild seines höchsten Strebens. Im Fieber schreckt ihn der Gedanke, daß die Sonne flieht. Als er sterben soll, beglückt ihn der Glaube, daß die Sonne kommt, daß ihm seine Glocken aus der Sonne klingen. Zeitlebens sucht er die Sonne. Ihren Untergang begleitet seine Klage:
Die Sonne, allen Purpur um sich hüllend,
Steigt in die Tiefen ... läßt uns hier allein,
Die wir, des Lichts gewohnt, nun hilflos schauern,
Uns ganz verarmt der Nacht ergeben müssen.
Die Sonne ist ihm Urmutter. Sie wird ihren verirrten Kindern das Erlösungsfest geben, das nach alter heidnischchristlicher Übergangsvorstellung Balder und Christus, beiden in einem, gelten soll. Für dieses Fest war Heinrichs Tempel bestimmt. Das war in guten Stunden seine Zuversicht.
Auch in bösen Stunden folgt seine Pein demselben Sonnenziel:
Ich bin der Sonne ausgesetztes Kind,
Das heim verlangt; und hilflos ganz und gar
Ein Häuflein Jammers, grein ich nach der Mutter,
Die ihren goldnen Arm sehnsüchtig streckt
Und nie mich doch erlangt.
Der Stoff des Märchendramas scheint einen andern Stoff verdrängt zu haben, von dem nur wenige Szenen fertig wurden. Das Fragment ist in den »Gesammelten Werken« gedruckt; ein Beweis, daß es der Dichter nicht fortsetzen will. Es gibt Rätsel auf, die kaum zu lösen sind. Ein junger, kranker König läßt sich nachts auf das Meer rudern, um auf dem Meeresgrund Glocken läuten zu hören, versunkene Glocken, die jeder hören und wieder hören muß, der sie einmal gehört hat, vergehend in Sehnsucht nach der Tiefe. Man denkt an Vineta, man denkt auch an Ludwig den Zweiten von Bayern. Alles ist mit dem König und um den König herum krank und matt: der Spielmann und der Schalksnarr, der alte Koch und sein Lehrjunge; ja sogar der schöne urgermanische Krieger sieht ein wenig blaß. Ort und Zeit liegen ganz im Unbestimmten: Wechsel von Heidentum und Christentum, Völkerwanderungsvorstellungen, orientalischer Menschenschacher, Verfall: alles deutet sich an, alles spukt hinein ins Kellerloch der Handlung, das an Nickelmanns Schlünde erinnert. Aber in diese Finsternis bricht plötzlich ein Strahl des Lichts. Ein »Sonnenkind« erscheint, ein junger, schlanker, kecker, heiterer Knabe mit goldenem Gürtel. Draußen ist es Nacht. Die Sonne hat sich im Westen verblutet. Der Mond bescheint den König im Ruderboot. Der Knabe blickt dem schönen, jungen, kranken König ins Gesicht und versinkt entzückt ins Schauen. Was weiter geschieht, wissen wir nicht. Wird dieser König der Nacht, der auf dem Heidenmeer schwimmt, auch den Knaben verdüstern wie all sein Volk? Oder wird der Knabe, wie der junge Tag, die Sonne wiederbringen? Der Knabe heißt »Helios« und seine Sehnsucht geht nach dem tanzenden, singenden, spielenden Apoll. Von diesem liegengebliebenen Heliosgedicht scheint der Dichter den Sonnenkult und einige Gedanken an die Vinetasage, die ihm auf Rügen nähergetreten war, in die »Versunkene Glocke« herübergeholt zu haben.
Wie Ikaros, fliegt auch Heinrich der Glockengießer zur Sonne. Er hebt sich von der Niederung, wo ihm Herd und Werkstatt mäßig gediehen. Sein Denken sucht eine überirdische Kunst, sein Fühlen eine übermenschliche Liebe. Am Übermaße dieses Doppelwollens stürzt er und sinkt mit allen seinen guten und bösen Geistern der versunkenen Glocke nach. Der Dichter des »Florian Geyer« aber stand nun lichtumflossen da, im wundersamen Schein einer höheren Poesie. Er kam durch dieses Werk in Mode. Aber gerade das, was den Zauber der »Versunkenen Glocke« ausmacht, das Übersinnliche, Übermenschliche, märchenhaft Sinnbildliche ist nicht ganz schlackenfrei. So köstlich Nickelmann und auch der Waldschrat, so berückend Rautendelein in unhold holde Zauberkreise zieht, so fein in ihrer schattenhaften Entferntheit die alte Großmutter über das Leben gestellt ist, so spukt doch allerhand blecherner Fabelkram umher, wie die Zwerge in Meister Heinrichs Höhenwerkstatt, die Ausweitung des Glockenmotivs zum Tempelmotiv, die undurchsichtige Symbolik der drei Becher, aus denen Heinrich Kraft, Licht und dann doch den Tod trinkt.
Der Dichter hatte sich hier starken Eigenwillens begeben. Er rief sich den Goethe des zweiten Faustteils und den schlegelisierten Shakespeare des Sommernachtstraums zu Hilfe, und diese Muster halfen ihm nun, eine Verssprache schmieden. »Die versunkene Glocke« war das erste dramatische Werk Gerhart Hauptmanns, worin er nicht mehr künstlerisch revoltierte. Als man es ihm ohne Vorwurf sagte, ward er stutzig und bewies sofort, daß er seine Urkraft nicht an schöne; alte Traditionen verloren hatte.