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Als Gerhart Hauptmann im Herbst 1891 »Die Weber« nach Berlin brachte, besuchte er im »Berliner Theater« eine Vorstellung des Molièreschen »Geizigen«. Unter dem Eindruck dieser tragikomischen Figur drangen alte Pläne, alte Bekanntschaften wieder auf ihn ein. Es nahte sich ihm wieder eine schwankende Gestalt. Er reiste in den Schnee seiner Berge zurück und dichtete in wenig Wochen die fünfaktige Komödie vom »Collegen Crampton«, die mit dem »Geizigen« manche technische Verwandtschaft hat. Hier wie dort eine überragende Hauptperson, um deren moralische Schwäche sich alles übrige dreht. Hier wie dort mitten aus komischen Situationen ein kühner Zug in die Tragik der menschlichen Seele. Denn hier wie dort, nicht zu weit von Narretei und Torheit, das drohende Gespenst des Wahnsinns! Dort freilich im Mittelpunkt des Ganzen ein menschlicher Typus, der nur von einer einzigen, ebenso lästerlichen wie lächerlichen Charaktereigenschaft beherrscht wird, hier eine menschliche Natur, die in ihrer individuellen Vielfältigkeit lebt. Dort eine moralische, hier eine psychologische Komödie.
In der Kunstschule einer großen Provinzialhauptstadt (die Dienstmänner dort reden den schlesischen Dialekt) hat Professor Crampton ein Meisteratelier. Eines Tages bricht über ihn viel Unglück herein, das ja selten allein kommt. Ein fürstlicher Gönner gibt ihn auf. Seine Wohnung wird ausgepfändet und versiegelt. Seine Frau verläßt ihn. Die Akademie enthebt ihn seines Lehramts. Er ginge zugrunde, wenn sich nicht ein paar Seelen fänden, die ihn lieben. »Die kleine Trude, das ist ihm sein Höchstes.« Sie ist sein jüngstes Töchterchen, sein »Polizistchen«, das freiwillig beim armen Papa ausharrt, während Mutter und Schwestern zu den reichen, adligen Großeltern flüchten. Ein wohlhabender, junger Schüler ihres Vaters ist dem Mädchen gut. Diesem glückhaften Umstand ist zu danken, daß der Professor nicht ganz untergeht. Die blutjungen Leute richten ihm ein Nest her. In dieser Glücksatmosphäre faßt der arme Kerl neuen Mut und – vielleicht – auch neue Kraft.
Ist Professor Crampton seines Unglücks eigner Schmied? Die Komödie gibt sich nicht viel damit ab, seinen gegenwärtigen Zustand aus seiner Vergangenheit zu begründen. Es wird nicht in Ibsens Weise durch gelegentliche Auseinandersetzungen das Vergangene aufgehellt. Wenn er selbst zuweilen auf Erinnerungen zurückgreift, so geschieht das in seiner konfusen Art und ist bezeichnender für seine gegenwärtige Seelenbeschaffenheit als für sein vergangenes Leben. Er steht fertig vor uns, wie ein Porträt. Seine geistige Entwickelung ist abgeschlossen. Sein Weltlauf stoppt. Er kann nur noch versinken oder von treuen Händen rechtzeitig im Hafen geborgen werden. Eins so möglich wie das andere. Der Abgrund allerdings wahrscheinlicher als der Hafen. Der Dichter aber wollte seinen Mann retten und entschied für den Hafen. Man hat den Eindruck: ein altes gutes Wrack soll in Sicherheit gebracht werden, oder, um Lebendiges mit Lebendigem zu vergleichen: ein guter, alter Hund, der nicht mehr recht schwimmen kann, soll aus der Flut gezogen werden. Als dem Professor alles quer geht, ruft er selber aus: »Bin ich denn ein räudiger Hund?«
Bei Rettungsversuchen geht es selten ohne kleine List und Hinterlist ab. Hier ist der Punkt, wo auch diese Komödie an Intrigenspiel erinnert. Aber die spinnwebzarten Fäden werden nicht, wie bei Scribe und seiner deutschen Schule, von einem ränkevollen Verstand gelenkt, sondern von der natürlichen, gesunden Empfindung der helfenden Menschlein, die im Gegensatz zur massiven Hauptfigur etwas Diminutivisches haben. Gehen die beiden ersten Akte mit der Charakteristik der Hauptfigur und der Darlegung ihres unglückseligen Zustandes hin, so beginnt im dritten das Rettungswerk. Dort ist der Professor aktiv, hier passiv. Durch diesen Wechsel der Zustände erhält und steigert sich das Interesse. Die Frage bleibt, welche Gefühle sich im Zuschauer mit diesem Interesse verknüpfen, wie man sich zu dem Professor persönlich stellt. Man wird das erstemal mehr ergriffen, das zweitemal mehr belustigt werden. Die Gewißheit des guten Ausgangs entscheidet. Wenn jemand ins Wasser fällt, so zittern ringsumher alle Herzen. Kommt er dann pudelnaß und mit einem festen Schnupfen ans Ufer, so gesellt sich gerne zum Schaden der Spott. So überwöge auch gegenüber dem Collegen Crampton zum erstenmal das menschenfreundliche Mitgefühl, das sich sagt: so miserabel kann es manchem werden; beim zweitenmal überwöge der behagliche Spott, womit gut gebettete Korrektheit gern auf die schnurrigen Kundgebungen eines armen Teufels oder eines armen Schelmen oder eines armen Sünders hinsieht. Die Kunst des Dichters besteht darin, und darin liegt auch die reiche Erfindung dieses scheinbar so erfindungsarmen Werkes, daß sich Mitleid und Spott, Rührung und Lust zu einunddemselben Eindruck vermischen; deshalb ist das Stück in seinem Humor eine Komödie besten Schlages. Der Eindruck wird dadurch erzielt, daß die Hauptgestalt in jedem Augenblick naiv bleibt und niemals unsere Sympathie verliert. Man sieht ein altes Kind. Dabei schillert diese Gestalt wie ein Opal, man könnte auch sagen: wie die Nase des guten Professors, in allen Farben. Die ganze lebendige Mannigfaltigkeit dieser Charakteristik tritt für Augen, die sehen können, zutage. Gewiß ist der Professor im Grunde immer derselbe, mag er im Atelier gegen die Schulpedanten wettern oder in der Bumskneipe sich mit den Stubenmalern anfreunden oder endlich im Glück der Tochter selber froh werden: die Einheit der Individualität ist festgehalten. Die gute Seele und das jähe Blut; das bis zum Dünkel gesteigerte Selbstbewußtsein und die bis zur Zerknirschung sinkende Bescheidenheit; der feine, ironisch das schlagende Wortspiel und Gleichnis findende Kunstsinn und der aufbrausende Grobianus; die freie, hochstrebende Künstlernatur, voll Phantasie und Schwärmerei, und das wüste Sumpfhuhn – alles und noch viel mehr springt eins aus dem andern, spielt herüber und hinüber. Dazu das allmähliche Sinken der ganzen Existenz: die zunehmende Dumpfheit, die auf Willen und Gedächtnis lagert, die Spuren des Verfolgungswahns und seines feindlichen Zwillingsbruders, des Größenwahns, die Krankhaftigkeit des Durstes, alles wehmütig verklärt vom Sonnenglanz eines goldnen Herzens, das seinen Zauber nicht bloß auf die eigene Tochter und den dankbaren Schüler, sondern auch auf einen treuherzigen Mann aus dem Volk und auf die gutmütige ordinäre Schenkmamsell ausübt. Wird nun in seiner Geborgenheit dieses Herz den Frieden finden? Solche Fragen stellen auch Kinder, die ein Märchen hörten, und auf solche Kinderfragen gibt das Märchen über seine Leute immer noch jene Antwort, die noch immer die beste ist: wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Wie aus Rembrandtschem Dunkel ein Rembrandtscher Charakterkopf vorleuchtet, so beherrscht die Hauptfigur des Collegen Crampton den Hergang und drängt alle andern in den Schatten. Auch wo er nicht auftritt, im mittelsten der fünf Akte und in der ersten Hälfte des letzten Akts, dreht sich alles nur um ihn. Während des dritten Akts ist er spurlos verschwunden. Man sucht ihn in der ganzen Stadt. Nur zu tief liegt es in seiner Natur begründet, daß eben hier, wo er selbst nicht mitwirkt, am redlichsten und erfolgreichsten für sein Wohl gesorgt wird. Eben hier, wo sich edle, hilfreiche und gute Menschen um ihn kümmern, Menschen, denen der Dichter den Namen Straehler, den Mädchennamen seiner Mutter gegeben hat. Denn College Crampton selbst ist doch stets sein schlimmster Feind gewesen. Schlimmer als die adelsstolze Gattin. Schlimmer als die »Kuchenbäcker« auf der Akademie mit ihrem Spion, dem polackischen Pedell. Schlimmer auch als der rüde, raffende Kneipwirt.
Wo aber die Hauptfigur der Bühne fernbleibt, hat der Dichter für Ersatz gesorgt. Im dritten Akt entfaltet sich eine Kontrastfigur: Herr Adolf Straehler, »der dicke Krämer«, der seinem Bruder, dem jungen Maler, lachend hänselnd, aber tatkräftig beim Rettungswerke hilft: ein urgemütlicher Kerl, immer fidel, immer gleichmütig, ewig auf dem Neckfuß, kein Spielverderber und auch kein Machtwortsprecher, sanguinisch wie der Professor, aber einer, der seinen Mann steht und in der Welt etwas erreicht hat: Gerhart Hauptmanns früh verstorbener ältester Bruder Georg. Die erste Hälfte des fünften Aktes bringt statt der Person des Helden ein reizendes Capriccio, ein junges himmelhoch aus jüngsten Herzen jauchzendes Liebesglück, das um so heller strahlt, je mehr es ein Glück wird auch für andere. Diese Szene zwischen der kleinen Trude und dem nicht viel größeren Max wird von jener andern Liebesszene zwischen Alfred Loth und Helene an Reinheit und Echtheit natürlichen Empfindens nicht übertroffen. Auch hier neckt sich, was sich liebt, in der entzückendsten Weise; mitten im unschuldigen Minnespiel steigen auch hier wehmütige Gedanken an Vergänglichkeit und Abschied auf; aber doch wie ganz anders alles dort, wie ganz anders alles hier! Dort die Schicksalswolke nah und schwer über ahnungsvollen Gemütern, hier klarster, leuchtendster Sonnenschein. Gleichmäßig sind die Wangen dieser liebenden Jugend frisch gerötet von der hellen Winterluft draußen und vom Frühling in ihren Herzen.
Im übelsten Humor stößt College Crampton auf dieses Jugendglück, das zugleich sein eigenes Altersglück werden soll. Aber dieses Glück leuchtet so tief und so zart in sein eigenes verdumpftes und versumpftes Innere herein, daß der wetterwendische Sinn des alten Burschen sofort wieder umgewandelt ist. Lebensfreude, sogar Arbeitslust sprudelt wieder in ihm auf, und froh erschüttert fällt er seinem alten hundetreuen Faktotum, seinem »lieben Löffler«, dem Dienstmann, um die blaue Bluse.
So sehr ist er gewöhnt, sich in allen Dingen an den »lieben Löffler« zu wenden, daß er auch in Fragen der Kunst und des Familienglücks zunächst an das Herz hinter der Bluse appelliert; denn das ist seine nächste Instanz – einer der kleinen, feinen Meisterzüge, an denen dieses Werk reich ist.
In den Breslauer Schlußkapiteln des Quintromans, in der wüsten Verbrecherkneipe läßt der Dichter das Urbild seines Professor Crampton noch einmal am Kneiptisch auftauchen. Malerisch in einen leichten römischen Mantel drapiert, mit schwarzem Faunsgesicht und roten feuchten Faunslippen hing ihm ein schwarzer Schopf wild über die düster funkelnden Augen. Es ist Professor Cramptons, des Rettungslosen, letztes Säuferstadium, kurz vor dem Delirium. So E.T.A. Hoffmannisch ist der College Crampton noch nie auf der Bühne dargestellt worden. Georg Engels bot eine glänzende Leistung und entschied, wohin er damit kam, den Erfolg des Stücks. Aber er spielte ihn doch abseits der Gestalt, die tiefer und weniger pompös, weniger atelierhaft ist.
Ein Jahr nach dem »Collegen Crampton«, im November 1892, brachte Gerhart Hauptmann ebenfalls unerwartet eine zweite Komödie aus Schreiberhau nach Berlin und las sie den Freunden vor. Es war eine »Diebskomödie« und wurde nach dem Gegenstand des Diebstahls » Der Biberpelz« genannt. Schon uns ersten Hörern fiel eine technische Ähnlichkeit mit dem Meisterlustspiele Heinrichs v. Kleist, dem »Zerbrochnen Krug«, auf.
Hier wie dort ist nächtlicher Weile in einem Dorf eine lichtscheue Missetat begangen. Die Frage nach dem Täter gelangt an die Dorfjustiz. Wer zerbrach den Krug? Wer stahl den Pelz? Dort eilt die Besitzerin des zerbrochnen Kruges zum Dorfrichter, hier eilt der Besitzer des gestohlnen Pelzes zum Amtsvorsteher. Beide Kläger, ansässig und angesehen im Dorf, finden an der Seite des Untersuchungsrichters eine dürftige, unterwürfige Schreiberseele, die mit ihrem subalternen Strebersinn bei Kleist deutlicher hervortritt als bei Hauptmann, und einen Büttel, der wiederum von Hauptmann als dienstunfähiger, sanfter Süffel genauer charakterisiert wird. Wichtiger aber als Schreiber und Büttel ist in beiden Fällen jener Adamssohn selbst, der von Amtswegen die Untersuchung einzuleiten und den Verbrecher zu entdecken hat. Daß diese Untersuchung und diese Entdeckung hier wie dort mit den größten Schwierigkeiten verbunden ist, daß immer wieder, hart vor dem Ertappen, in die Kreuz und Quer abgeirrt wird, und über jeden klarern Einblick in das kriminelle Rätsel gleich wieder Nebel fallen, daß sich die Sache ins Dunkel und in die Länge zieht, ist hier wie dort Schuld des Untersuchungsrichters.
Weder der altholländische Dorfrichter Adam noch der neupreußische Amtsvorsteher v. Wehrhahn haben Neigung, diesen Prozeß aufzuhellen. Beiden ist gerade dieser Prozeß fatal. Der Amtsvorsteher ist ein persönlicher und politischer Gegner des Bestohlenen; der Dorfrichter ist noch interessierter an der nächtlichen Missetat; denn der, der den Krug zerbrach, ist er selbst. Die Hauptperson der Komödie ist bei Kleist enger und bänger mit dem Vorgang verknüpft als bei Hauptmann. Für den Dorfrichter hängt am zerbrochnen Krug Existenz und Ehre. Dem Amtsvorsteher hingegen kann der Biberpelz des Rentiers Krüger ruhig gestohlen bleiben; sein persönliches Gewissen wird nicht betroffen, seine Ehre steht nicht auf dem Spiel. Und nur darin ist er dem Dorfrichter Adam ähnlich, daß sich beide als unfähig erweisen, die Prozeßverhandlung zu führen. Sie richten, der Dorfrichter wissentlich, der Amtsvorsteher unwissentlich, in kürzester Zeit eine solche Verwirrung an, daß es in der Amtsstube einen Heidenlärm gibt, bei dem Beamte und Zeugen hart aneinander geraten.
Hier wie dort sind Zeugen aufgetreten. Und wenn der Dorfrichter aus triftigem Grunde diese Zeugen durch Anschnauzen und Dreinreden ins Bockshorn jagt, so verfährt auch der Amtsvorsteher nicht viel anders, als hätte er selbst den Pelz gestohlen. Ohne Nebenabsichten, ohne Ansehen der Person sitzt auch er nicht zu Gericht. Der Dorfrichter Adam hatte seine eigene Nichtswürdigkeit zu vertuschen; denn statt des Krugs war er ausgegangen, eine Mädchenehre zu zerbrechen, und aus dem Lustspiel hätte leicht eine Tragödie werden können. Harmloser an Gemüt, ist der Amtsvorsteher von der Oberspree in seinem Treiben nicht viel ungefährlicher als der Dorfrichter. Er will den Herrn spielen und Karriere machen. Dazu mißbraucht er sein Amt. Wer den Pelz gestohlen hat, kümmert ihn nicht; aber wer in seinem Amtsbezirk freigeistige Bücher kauft und demokratische Schriften liest oder gar verbreitet, wer bei Kaisers Geburtstag nicht illuminiert, welcher Gastwirt seinen Saal den fortschrittlichen Gesinnungsgenossen des bestohlenen Rentiers Krüger vermietet – das alles will er genau wissen. Dazu benutzt er seine Untergebenen, dafür verbrüdert er sich mit Spitzeln, die vor dem Meineid nicht erschrecken. Ein stiller, scheuer Privatgelehrter kann ihn auf die rechte Diebsspur führen, aber er hört ihn gar nicht an, weil dieser gewissenhafte Zeuge ihm »politisch« verdächtig ist, auch erhofft er sich durch dessen Maßregelung Lohn von oben.
Dieser moderne Strebertypus ist an sich weder tragisch noch komisch, sondern gemeinschädlich; eine Dichtung, die ihn rein als Typus hinstellen wollte, unterschiede sich nicht von guten polemischen Leitartikeln oder Flugschriften. Zu seiner künstlerischen Bewertung muß der Typus in eine Individualität gesteckt werden. Wie Kleist sinnreich andeutet, daß nicht nur in Huisum, sondern auch in Holla und Hussahe »lüderliche Hunde« sitzen, die »Recht so jetzt, jetzo so erteilen«, so wird das von Hauptmann aufs Korn genommene Strebertum der Beamten außer an der Oberspree auch sonst im Lande gefunden. Aber es gibt je nach individueller Veranlagung Schlauköpfe und Dummköpfe unter den Strebern. Hauptmann hat sich den Spaß gemacht, einen Dummkopf aufzuzeichnen.
Er hat die Komödie der streberhaften Dummheit gedichtet. Ihr Held entwickelt eine wahrhaft bezaubernde Borniertheit. Wenn sich der Charakter des Amtsvorstehers langsamer auswickelte, würde es klarer, daß der Held der Komödie weniger der Pelzdieb ist, als der, der dieses Pelzdiebes habhaft werden soll. Die Diebsgeschichte vertritt das, was bei Molière, Holberg und andern Komikern der Tradition die Intrige war. Wie dort die Intrige dazu diente, den Heuchler als Heuchler, den Geizhals als Geizhals ad absurdum zu führen, so dient hier die Diebsgeschichte dazu, den streberhaften Dummkopf als blitzdummen Streber zu blamieren. Und wie könnte seine Blamage größer sein als da, wo ihn der Dichter entläßt, wo Wehrhahn, im traulichen Beisammen zwischen Hehler und Stehlerin stehend, beide miteinander in aller gesellschaftlichen Form bekannt macht, und wo er die Diebin nicht nur für eine fleißige Waschfrau, was sie ist, sondern auch für eine »ehrliche Haut« erklärt.
Nach der Größe dieses innerlichen Schlußeffekts, was schiert uns da noch der Biberpelz und sein Geschick? Wer ihn stahl, wissen wir. Daß man dem Dieb auf der Spur ist, wissen wir auch, und ganz wohl in der eigenen »ehrlichen« Haut wird sich weder der Hehler noch die Stehlerin fühlen, trotz der Menschenkenntnis des tiefblickenden Herrn v. Wehrhahn. Alles Psychologische ist mithin klar. Was übrigbleibt, ist Sache des Gerichtsreporters, nicht des Dichters. Wenn aber das gesamte Publikum der ersten Berliner Aufführung über das unerwartete Ende verblüfft war und die Gescheiten erst beim Warten auf die Garderobe über den Schlußwitz lachten, so ist der Dichter nicht ganz schuldlos. Schuld daran ist ein Vorzug und ein Mangel seiner Arbeit. Der Vorzug liegt in der Charakteristik, der Mangel in der Komposition. Der Vorzug liegt in der prachtvollen Gestalt der Diebin, der fleißigen Waschfrau Mutter Wolff, einer Person, mit der man gern zusammen ist, einer dichterischen Saft- und Kraftschöpfung, die den schematischen Rahmen der Traditionskomödie fast ebenso sprengt wie Shakespeares Shylock. Der Mangel liegt darin, daß man durch diese prachtvolle Gestalt in seinen verschiedenen Interessen geteilt wird und zuletzt noch hinter der Blamage des Amtsvorstehers sie, die besagte Wolffin mit ihren Schicksalen, sehen will. Hinter der boshaften Ironie, mit der der Dummkopf im Amte belassen wird, verlangt man noch vom Dichter ein moralisches Endurteil über Mama Wolff. Sie war von je ein Bösewicht, drum treff sie, wenn schon nicht Wehrhahns, so doch Gottes Strafgericht! Ein solches moralisches Endurteil, worauf unsere Ästhetik einen alten Gewohnheitsanspruch geltend macht, ist in Kleists »Zerbrochnem Krug« zu finden. In der Person des Revisors, der wie ein Blitz aus heiterm Himmel kam, geht durch das Drama eine höhere Gerechtigkeit, die den Dorfrichter seines Amtes entsetzt; während unser armes Publikum über die Schicksale des Pelzes ganz im Dunkeln bleibt, ist dort Aussicht vorhanden, daß in Utrecht dem Kruge doch noch soll sein Recht geschehen.
So schließt geschlossen die einheitlichere Komödie Kleists. Hauptmanns Komödie ist zwiespältig. Wie der Schauplatz der vier Akte zwischen Wehrhahns Amtsstube und dem Wohnraum der Wolffin wechselt, so verteilt sich das Interesse auf beide. Bei Kleist waren Richter und Missetäter vereinigt in einer Person. Und wie sich im Amtsvorsteher mancher Vergleichspunkt mit dem Dorfrichter Adam fand, so findet er sich auch in der Mutter Wolffin. Wie den Adam ein ganz menschlicher Zug, der Hang zum süßen jungen Blut, in den Bereich des Kruges lockte, so lockt auch sie ein rein menschlicher Zug zum Biberpelz hin. Es ist die Sorge um ihre Familie. Sie ist in ihrer Art das, was man eine gute Mutter nennt. Sie beweint mit treuen Tränen ihr heimgegangenes Söhnchen. Mit ihren beiden Töchtern will sie hoch hinaus. Sie sollen auf Gummirädern fahren und auf dem Theater gefeiert werden. Darum sind sie auch Adelheid und Leontine getauft. Zu ihrem dußlichen Vater sagen sie Papa und geben Gutenachtkuß. Für diese Kinder und ihren Papa arbeitet Mutter Wolffin unermüdlich. Für sie raubt sie sich den Schlaf der Nächte. Für sie raubt sie Rehböcke, Knüppelholz und den Biberpelz. Sie ist ein Gemütsmensch. Man gewinnt diese naive Niedertracht so lieb, daß man ihr zuletzt nichts Böseres wünschen möchte als einen Amtsvorsteher, der nie hinter ihre Schliche kommt.
Aber man möchte noch länger bei Mutter Wolffin bleiben. Der Dichter selbst fühlte dieses Bedürfnis. Sechs Jahre später ist er noch einmal auf sie und ihren Wehrhahn zurückgekommen. Er hat uns dann in wundersamer Weise ihre letzte Lebensstunde gezeigt, in der sie es durch die naive Kraft ihres Wesens wieder dahin bringt, daß ungefährlichster Todfeind Versöhnung mit ihr trinkt. Wir erleben auch ihr seliges Ende, wo sie, ohne Schmerz, die Hände jubelnd nach ihrem vorangegangenen Julian langend, plötzlich nicht mehr da ist. Diesen schönen Schlußakt war sich der Dichter schuldig. Er hat uns darüber beruhigt, daß der Wolffin nun doch Gefängnis und Zuchthaus erspart blieb, daß sie im Gedanken an ihr kleines durch den Tod verklärtes Söhnchen dahinging und nun ganz geborgen ist. Freilich war sie auch als Julian Wolffs Witwe, als Frau des Flickschusters Fielitz, der im Nebenamt Wehrhahns Spitzel ist, ihren Weg weitergegangen. Sie hatte sich sogar entwickelt. Sie gibt sich nicht mehr mit Kleinigkeiten ab, wie Wildfrevel, Holz- und Pelzdiebstahl. Sie verübt Größeres. Auf die baufällige, aber hochversicherte Hütte ihres Flickschusters setzt sie »den roten Hahn« und richtet es so ein, daß der Verdacht dieser Brandstiftung auf einen blödsinnigen jungen fällt. Im Vater dieses Kretins erwächst ihr jener rachsüchtige Feind, den sie aber doch noch in letzter Stunde beim Glase Wein begütigt, weil er selbst ein verbrauchter, lebensmüder armer alter Hund ist, der nur noch bellen, nicht mehr beißen kann, und – weil noch immer die undurchdringliche Dummheit des Herrn v. Wehrhahn auf dem Dorfrichterstuhle sitzt, Der irdischen Gerechtigkeit entgeht sie. Aber geholfen hat ihr die ganze Betriebsamkeit ihres unverfrorenen Strebens auch gar nichts. Sie stirbt als arme Frau. Abgesehen von der Schlußszene und einem großartigen Zusammenprallen aller Gegensätze im Gerichtsakt ist » Der rote Hahn« (so heißt die Fortsetzung) ein loseres Stück als der »Biberpelz«. War es schon im »Biberpelz« eine überflüssige Wiederholung, daß zuerst Holz und dann erst der Pelz gestohlen wird, so zeigt sich auch die Brandstifterin in keinem anderen Lichte als die Diebin. Wir wissen schon genau, wie sie so etwas anstellt. Daher erwacht das Interesse an ihr erst wieder gegen Ende. Eine Anzahl neuer Personen, die ziemlich verworren auftreten, wie der jüdische Arzt Boxer, ein weibstoller Schmied und sein weltphilosophisch-mephistophelisch lächelnder Geselle, auch Adelheid Wolffs Mann, ein kratzbürstiger Bauspekulant, sie können sich nicht mit den lebensvollen humoristischen Nebengestalten des Biberpelzes vergleichen. Nur der alte Racheengel Rauchhaupt, der Gegenpart unserer Wolffin, könnte in seiner hilflosen Verzweiflung und in seiner Liebe zum trottelhaften Jungen, die erst mit der Gefahr erwacht, in ergreifendsten Lebensszenen stehen.
Während sich der »Biberpelz« immer weiteren Raum auf den Bühnen eroberte (der Sieg ging diesmal vom Wiener Deutschen Volkstheater aus), konnte ihm »Der rote Hahn« auf diesem Wege nicht folgen. Der Dichter hat ihn mit zu lockrer Hand aufs Dach gesetzt.