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Als Gerhart Hauptmann im Schwabenalter stand, zog es ihn ins Schwabenland des »armen Heinrich«, für den das Bauernmädchen Blut und Leben lassen will. Hauptmann lernte die Legende wohl zunächst aus dem Gedichte Chamissos kennen, das dieser zaghaft den Brüdern Grimm gewidmet hatte. In fünffüßigen, reimlosen Trochäen erzählt Chamisso trocken und reizlos, wie der miselsüchtige Graf sich und sein Leiden in einem Meierhofe verbirgt, wie die Meiersleute ihn betreuen, wie ergeben ihm das Haustöchterchen ist. Als sie den Ausspruch des Salerner Arztes erfährt, daß ihn nur das Herzblut einer reinen, opferfreudigen Magd heilen könne, ist sie entschlossen, ihr Herz dem Messer des Salerners preiszugeben. Mühsam überwindet sie den Widerstand der Eltern, mühsamer und doch zu leicht den Widerstand des kranken Herrn. Nun liegt sie nackt auf dem Seziertische, trotzt den Widerreden des Arztes, hört, wie er das Messer wetzt, und erwartet freudig zuerst den Opfertod, dann aber auch den himmlischen lohn.
Der arme Heinrich ist es selbst, der im allerletzten Augenblicke das Furchtbare verhindert, das nackte Mädchen losbindet, ihr Opfer ablehnt. Unverrichteter Sache kehren beide nach Schwaben heim; aber unterwegs wird er gesund. Der »Spectator cordis« oder, wie Chamisso übersetzt, »der die Nieren prüft und Herzen« begnügt sich mit des Kindes gutem Willen und macht ihren geliebten Herrn auch ohne Opfer und Himmelslohn gesund. Nun wird aus dem armen Heinrich wieder ein glücklicher Heinrich; er führt das Bauernkind als ebenbürtige Gemahlin auf sein Grafenschloß. Vielleicht war es zunächst die Überwindung der Standesunterschiede und Standesvorurteile, wodurch sich der Dichter des »Schluck und Jau« auch zu diesem Stoff hingezogen fühlte. Diese sozialen Schranken sollten winzig und kläglich erscheinen gegenüber einer Größe der Nächstenliebe, der Entsagung, der Todesbereitschaft, wie sie das kleine Bauerndirnchen bewährt. Der Fürst und das Landkind hatten sich im Allermenschlichsten, Allernatürlichsten so innig gefunden, daß jede künstliche Mauer fiel. Schon die Achtjährige nannte der arme Heinrich »sîn gemahele«. Chamisso übersetzt »seine kleine Frau« oder »seine liebe Frau«. Hauptmann schließt sich auch hier, wie so oft, enger an den mittelhochdeutschen Urdichter Hartmann von Aue und findet für das profetische Liebeswort die trauliche Form: »Mein klein Gemahl«.
Der moderne Dichter fühlte sich dem mittelalterlichen Dichter so genähert, daß er ihm die Rolle des Vertrauten in seinem Drama zuwies. Hartmann von Aue ist der erste Dichter, den Hauptmann in seine Werke eingeführt hat. Aber er ist in dem Drama mehr dienender Ritter als Dichter. Der historische Hartmann hatte zum niedrigen Adel gehört und zu den Dienstmannen der Herren von Aue. Hauptmann macht den legendarischen armen Heinrich selbst zum Grafen von Aue, und so wird Heinrich der Herr seines ritterlichen Dichters. Diskreter Weise bleibt Hartmann im Drama eine episodische Nebenfigur. Er erscheint bloß im zweiten und fünften Akt. Eine phantasievolle Anschauung der Natur führt ihn als Poeten ein:
Und sind die kleinen Vöglein auch verstummt:
Es zwitschert unterm Rosseshuf der Schnee
Bei jedem Tritt, so daß ich lausch' und spitze
Und horch' und mich versinn' und fast verliere,
Wie Petrus Forschegrund, als ihm das Vöglein
Des Paradieses sang und tausend Jahre
Gleich einer flüchtigen Stunde ihm verrannen.
Doch ist Hartmann der erste, der aus Heinrichs eignem Munde nicht nur Heinrichs Schicksal erfährt, sondern auch den tiefsten Einblick in Heinrichs Seele empfängt. Der antipapistische aber gottesfürchtige Ritter muß es erleben, wie sein Herr von wildem Pessimismus befallen ist, Gott lästert, seine Weisheiten aus dem Koran schöpft und endlich im Verzweiflungsschrei einer Weltanklage bekennt, ihn habe das Schicksal Hiobs getroffen: »Da fuhr der Satan aus vom Angesichte des Herrn und schlug Hiob mit bösen Schwären von der Fußsohle bis an den Scheitel. Und Hiob nahm einen Scherben und schabte sich und saß in der Asche«. Diese Stelle bezieht Heinrich fast wörtlich auf sich selbst. Hartmann von Aue verstummt ob solchem Bekenntnis, das in gewaltiger dramatischer Steigerung den zweiten Akt bis dicht vors Ende führt. Wir sehen die treuherzige Rittergestalt erst wieder, als sein Herr und Held geheilt und mit dem Gotte der Christenheit versöhnt ist. Auch jetzt verleugnet Hauptmanns Hartmann den Dichter nicht. Mehr als in seinem eignen kleinen Epos erklärt er hier im modernen Drama das psychophysische Motiv, das zu jener Opferwilligkeit des Kindes führt. Die Urheberin, meint er, sei Frau Venus. Er hält das Mädchen für geschlachtet und setzt ihm die Grabschrift:
Im Tode hat ihre Liebe triumphiert:
Er war ihr lieberzwingendes Bekenntnis.
Ähnlich hatte auch Michael Kramer gedacht: »Der Tod ist der ewigen Liebe Meisterstück«.
Der Jubelruf »Hartmann« ist das erste Wort, das wir aus dem Munde des heimgekehrten, genesenen Heinrich hören. Das zweite Wort ist ein freudiges Bekenntnis zu Gott. Das dritte Wort ist die frohe Botschaft, daß auch sein klein Gemahl heil und lebendig sei. So erfährt Hartmann von seinem Herrn und Helden selbst nicht bloß dessen Elend, sondern auch dessen Glück, also Anfang und Ende seines poetischen Stoffes. Auch Hartmanns letztes Wort im Drama ist das Wort eines Dichters:
Wir wollen an die erzenen Schilde schlagen,
Und dieses alten Schlosses Fenster sollen,
Wie Munde, Freude über die Täler schrein!
Was jedoch im modernen Drama zwischen Anfang und Ausgang liegt, vollzieht sich in der Abwesenheit Hartmanns von Aue, der inzwischen seinem verschollnen Grafen das Land hütet.
Was in der Mitte liegt, konnte Hartmann nicht erleben; denn sonst hätte schon er es gedichtet. Hier geht Gerhart Hauptmann eigne Wege. Sein Gefährte ist nicht der naive Geschichtenerzähler des Mittelalters, dem die Oberfläche der Begebenheiten genügte. Sein Gefährte ist eher der tief grübelnde Verfasser des Buches Hiob. Der dritte und vierte Akt lösen sich von der mittelhochdeutschen Dichtung los und erregen deshalb bei einigen Germanisten Ärgernis.
Gerhart Hauptmann braucht zwei umfangreiche Akte zur Behandlung der großen Kernfrage des Stoffs: wie kommt Heinrich dazu, das Opfer des Kindes anzunehmen, wie wird es ihm möglich, das Kind bis an den Seziertisch des Salerner Arztes zu führen? Dem treuherzigen mittelhochdeutschen Dichter genügt das Faktum:
Ze jungest dô
bedâhte sich
ihr herre, der arme Heinrich
Diese epigrammatische Knappheit zieht Chamisso nur in schwatzhafte Breite, wenn er erzählt:
Als der arme Heinrich jetzt erkannt,
Daß einmütig doch das Ungeheure
Alle wollten und von ihm begehrten;
Stieg in ihm aufs neue
Lebenslust auf,
Sah er schon im Geiste sich genesen,
Andres nicht
gedacht er, und mit Grausen
Sprach er leis und langsam:
»Also sei es!«
Hauptmann, der tiefste der drei Dichter, braucht die beiden Hauptakte des Dramas allein zu dieser Ergründung, der auch die beiden früheren Expositionsakte vorbereitend zu dienen haben.
Der erste Akt spielt in der Morgenfrühe eines frischen Herbsttages unter der großen Ulme vor dem Hause, wenig Stunden nach Heinrichs Einkehr in den Meierhof. Die Meiersleute wissen nicht, was ihm fehlt. Aus seinem seltsamen Benehmen, aus seinen andeutenden Worten schließen sie auf seelisches Leid. Aber ihr Töchterchen weiß es schon besser. Den Ausspruch, des Salerner Arztes erfuhr sie nie von Heinrich selbst, sondern von einem plauderhaften Kriegsknecht, der aus Angst vor Ansteckung durchbrennt. »Sie lebt von seinem Blick«, wie es im »Hamlet« heißt. Um ihm Honig zu holen, läßt sie sich schon am ersten Morgen von schwärmenden Bienen zerstechen. Der Dichter motiviert diese Zuneigung dadurch, daß sich beide schon von früherer Zeit her kannten, da Herr Heinrich seinen Pachthof öfters besuchte. Schon damals nannte der Kerngesunde das Kind »sein klein Gemahl«. Diese Abweichung vom Urtext ist eine Abschwächung und schiebt das zarte Verhältnis auf ein einseitig erotisches Motiv zurück. Viel feiner entsteht bei Hartmann von Aue die Liebe des Kindes aus Mitleid mit dem kranken Manne, die Liebe des Mannes aus Dankbarkeit für das sorgende Kind. Bei Hauptmann ist das Kind nicht mehr achtjährig, sondern im Alter der Pubertät mit Anzeichen von Bleichsucht und Hysterie. In diesem krankhaften Stadium der natürlichen Entwicklung mischen sich erotische und religiöse Ekstase. Sie denkt nicht anders, als daß ihr geliebter Herr mit seiner Krankheit für begangne Sünden büßt, und will das Lamm Gottes sein, das ihn erlöst. Die großen Wirkungen des zweiten Aktschlusses steigern sich endlich zu ihrem leidenschaftlichen Entschluß: »Ich hab's gelobt! Du mußt versühnet sein.«
Hauptmanns Heinrich beteiligt sich nicht, wie der Hartmannsche, an dem kümmerlichen Hin und Her und Für und Wider, das dieser Entschluß des Kindes bei den Eltern hervorruft. Auf das Gelübde des Mädchens antwortet Hauptmanns mannhafter Heinrich mit jäher Flucht. Er verläßt das freundliche Obdach bei den Meiersleuten und ist verschollen.
Seit jenem ersten Herbstmorgen verging ein Jahr; es will wieder Winter werden. In einer Wildnis von Wald und Fels ist der arme Heinrich verwildert. Er lebt von dem, was er findet, er gräbt sich selbst sein Grab, aber er lebt. Die Lebenslust, die Lebenskraft erhält ihn am gräßlichsten Leben. Wer sich ihm naht, den scheucht er durch Steinwurf oder durch Warnung vor der ansteckenden Seuche von hinnen. Aber es sucht ihn niemand seiner selbst wegen auf, außer dem Mädchen. Der Spürsinn ihrer Liebe hatte ihn schon drei Tage nach der Flucht gefunden; als er sie mit Steinwürfen weggetrieben hatte, war sie nochmals zu ihm in die einsame Wildnis gekommen und hatte den Ohnmächtigen betreut. Nach seiner hier gewiß zu rechtfertigenden Manier enthält uns der Dichter diese beiden Szenen vor. In diesem dritten Akt erscheint das Mädchen gar nicht. Statt ihrer kommen ihre beiden Väter: Stiefvater und Beichtvater; auch der Beichtvater, der dieses übersinnlich sinnlichen Kindes rechter Vater zu sein scheint. Ihnen erst erzählt der Waldmensch von jenen Begegnungen mit dem Mädchen. Wie: so oft im »Florian Geyer«, wird statt der Ereignisse selbst der Bericht davon gegeben; statt der Hauptperson des Prozesses sprechen Anwälte. Dadurch wird die Bühnenwirkung geschwächt; selbst ein so durchdringender Darleger wie Josef Kainz konnte das Publikum im Wildnisakte nicht vor Ermüdung schützen. Selbst seinem dialektischen Genie gelang es nicht, die poetischen Kräfte dieser Reflexszenen dramatisch zu beleben. Was bei jenen heimlichen Begegnungen zwischen dem spröden, kranken Mann und dem reinen, in Unschuld werbenden Mädchen geschah und nicht geschah, ersetzt dem Leser Heinrichs wundervolle, Grausigstes und Süßestes vermischende Erzählung. Wie ihn die Verführung packte, wie er der Verführung widerstand! Wie er, unrein am ganzen Körper, rein in seinem Gewissen blieb! Wie er noch einmal vor dem Kinde und ihrem Liebreiz in weite Fernen floh, nun auch von ihr nicht mehr zu finden! Man müßte das alles so genau kennen, wie man etwa die Klassiker kennt. Dann müßte man es auch auf der Bühne zu würdigen wissen.
Zufällig entdeckt Heinrichs neues Versteck jener furchtsame Kriegsknecht, der nun zum zweiten Male vor Heinrichs Krankheit ausreißt. Von ihm erfahren es die beiden Väter des Kindes. So kommen sie zu ihm, nie ganz miteinander einig, aber doch einig in der blinden Hoffnung, der arme Heinrich könne durch seine Rückkehr ihr verwirrtes Kind zur Raison bringen. Diese besorgten Väter nehmen sogar die Miselsucht in Kauf, wenn nur das ekstatische Kind wieder zu sich kommt. Aus dem, was sie erzählen, und aus dem, was Heinrich von ihr erzählt, wird das holde Märtyrerbild des abwesenden Mädchens dennoch ganz gegenwärtig. Wie die drei Freunde zum duldenden Hiob, so spricht hier der geistliche Vater zum gottverfluchten und Gott verfluchenden Heinrich. Nur Heinrich spricht anders als Hiob. Hiobs »Auge tränet zu Gott«, Heinrich hört Gottes Hohngelächter. Wie Gott seinen Knecht Hiob in Satans Hände gab, um ihn zu prüfen, so sieht Heinrich in allem, was Gott ihm schickt, »des Teufels schlimmstes Bubenstück«. Das süße, reifende Kind schickte ihm der höllische Versucher in die Waldwildnis; denselben »verfluchten Engel, der ritterlich die Blöße Gottes schont« erkennt er nun aus der Bitte wieder, mit der sich die beiden Väter an ihn wenden. Er möge doch zu ihrem Kinde kommen! Sie bitten ihn, als wäre er ein Arzt. Auch dieser Versuchung widersteht er noch. Er verschmäht das dargebotene Obdach. Er will in der Wildnis überwintern. Er will sein Grab weiter graben. Aber seine Sinne verwirren sich, sein Geist schwärmt, sein siedendes Blut sieht hoch aufgerichtet über allem Heldentume und Heiligtume nur noch das rettende Kind. Heinrich ist am Ende aller seiner physischen und moralischen Kräfte, also auch am Ende seiner Entsagungskraft.
Den Zustand des Mädchens zeigt erst der vierte Akt. Der Dichter nennt sie Ottegebe. Dieser gute altdeutsche Name fehlt bei Hartmann, aber er klingt wie aus volksetymologischem Kindermund an einen Vers an, worin der mittelhochdeutsche Dichter von ihr sagt:
iedoch geliebte irz aller meist
von
gotes gebe ein süezer geist.
D. h. als Gottes Gabe war in ihr ein Geist der Liebe.
Ottegebe ist nicht mehr bei den Eltern, sondern der Sicherheit wegen in ihres geliebten Beichtvaters Waldkapelle. Dort hält man sie verborgen, denn zur Nachtzeit um den Meierhof herum klappert die Klapper eines Miselsüchtigen. Davon soll Ottegebe nun doch nichts hören. So will es die Mutter. Nun sitzt das Kind in der Waldkapelle, geißelt seinen jungen opferfreudigen Leib, und das aufgeregte Blut spritzt. Sie geht und spricht wie eine Nachtwandlerin, aber wachsam wie die klugen Jungfrauen wartet sie auf ihren Herrn. In ihrer frommen Verblendung ist sie Hellseherin. »Pater, heut wird er kommen!« sagt sie. Und wirklich kommt er heute. Aber sie sieht nicht bloß den armen Kranken, der nach ihrer Heilkraft schreit, sondern auch die Gnade Gottes, die des Richterspruches Härte bricht. Hartmanns Motiv vom Himmelslohn ist hier innerlicher gefaßt. Nicht um Gottes Lohn für sich, sondern um Gottes Gnade für den Geliebten zu erlangen, geht Ottegebe-Gottesgabe ihren schweren Gang.
Heinrich, der Gotteslästerer, tritt in die Waldkapelle. Sein Gebet mißlingt. Ihm fehlt Hiobs Geduld. Auch seine unverwüstliche »Lebenslust«, seine Scheu vor dem Selbstmord macht er Gott zum Vorwurf und doch bittet er mit trotzigen Worten Gott um Vernichtung. Aber »die Schlangen der Sonne rasen ihm im Haupt«, sein kranker Geist verfällt wieder in eine wilde Wollust zu leben. Wie ein zweiter Aussatz, wie ein Aussatz des Gemütes packt ihn das, was Chamisso so glatt und artig »Lebenslust« nannte. Und nun schreit er aus kränkster Seele heraus nach dem Kinde, das ihn erlösen, das ihn versühnen wollte; überzeugt, daß sein Schrei nicht gehört wird. Nun erst schreit er nach Ottegebe, da er glaubt, daß sie tot sei. Das Verbrechen, das Raubtier erwacht in diesem standhaften Menschen erst, als er glaubt, daß nichts mehr zu rauben, nichts mehr zu töten da ist. Schon längst hatte ihm sein Mißgeschick das eigne Ich zerspaltet und ihn für sich selbst zu einem Doppelwesen gemacht.
Ich nahm den Rest, ich raffte mir zusammen,
Was mir von mir geblieben war, und lief
Vor mir davon. Es lief ein Fürst! und der
Ihm folgte in der fürchterlichen Hatz,
War der zertretne Knecht, der annoch lebt.
Er schrie nach mir! Er winselte! Er bot
Mir junge Kindesleiber an zum Kauf ...
Ottegebe ist nicht tot. Ottegebe lebt. Ottegebe ist da. Wie ein Engel des Himmels erscheint sie ihm. Wie ein Engel des Himmels spricht sie zu ihm: »Komm, es ist spät geworden, armer Heinrich.« Und wie die Engel Gottes das träumende arme Hannele in die Stadt der Ewigkeit führen, so führt »Sankt-Ottegebe« ihren außer sich selbst gesetzten armen Heinrich aus Vater Benedikts Waldkapelle nach Salerno. Nicht er zieht sie, sondern sie zieht ihn dorthin. Sein Wille ist unfrei, unterworfen einer stärkeren Macht, und wer darf entscheiden, ob diese Macht von außen nach innen oder dennoch von innen nach außen wirkt? Nicht darauf kann es dem Dichter ankommen, sondern auf die Seelenkämpfe, in denen der Mensch gegen sich selbst zu streiten hat.
Als Heinrich und Ottegebe wieder daheim sind und im Glück, erfahren wir einiges von dieser märchenhaften Wanderung aus dem Schwarzwald nach Salerno. Der Dichter weiß aus Erfahrung, welch schöner Weg durch Gottes Welt das seltsame Paar führte, und das ekstatische Schwabenmädchen blieb nicht unempfindlich gegen die neuen Wunder der Landschaft. Aber ihr Ziel blieb der Seziertisch des Salerners. Natürlich hat der Dichter auf die große Szene in Salerno verzichtet. Aber Heinrich schildert sie seinem treuen Hartmann so wundervoll, daß man sich wundert, warum Hartmann nicht mehr davon für sein kleines Epos profitiert hat. Auch den bängsten Augenblick schildert er, als der Arzt das nackte Mägdlein auf den Opfertisch legt:
Da schloss er sich mit ihr in seine Kammer. – –
Ich aber ... nun, ich weiss nicht, was geschah ...
Ich hörte ein Brausen, Glanz umzuckte mich
Und schnitt mit Brand und Marter in mein Herze.
Ich sah nichts! Einer Türe Splitter flogen,
Blut troff von meinen beiden Fäusten, und
Ich schritt – mir schien es – mitten durch die Wand! –
In diesen Versen steht der geheilte, von Krankheiten des Leibes und des Seele genesene, der große, starke, edle, ritterliche Mann und Held und Fürst leibhaftig so wieder da, wie wir ihn aus Hartmanns Erzählungen kannten.
In der Zeit, als dieses große Drama entstand, hat man sich über Heinrichs unappetitliche Leibesbeschaffenheit entrüstet und über den glücklichen Ausgang lustig gemacht. Oft wurde über beides dieselbe Nase gerümpft, und derselbe unweise Mund sprach bald von Lazarettpoesie, bald vom Benedixischen »Sie kriegen sich«. Den zweiten Einwand abzuweisen, genügt wieder ein Blick auf Grimms Märchen: »Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute«. Der erste Einwand trifft nicht dieses Werk allein, sondern den ganzen Dichter, dem seit frühester Zeit das Hiobslos der Menschheit ans mitleidige Herz greift. Nie aber hat er so gewaltig an diesem Elend gerüttelt, wie hier. Nirgends sonst wurde es so offenbar, wie aus physischem Jammer seelischer Jammer entsteht, wie äußere Schicksalsschläge auch den innern Menschen verwandeln. Nie zuvor auch siegte so triumphierend Gerhart Hauptmanns dichterische Sprachgewalt.
Das kleine, schlichte Epos Hartmanns von Aue ist sechshundert Jahre alt. Die Philologen edieren und kommentieren es; ab und zu findet es im deutschen Volke sonst noch einen willigen Leser. Man möchte Schleier der Zukunft lüften, um zu wissen, wie nach abermals sechshundert Jahren Gerhart Hauptmanns »armer Heinrich« in Deutschland geschätzt wird. Wird man im Volke die Kunst und den Charakter, ja auch nur den Laut seiner Sprache noch verstehen? Wird zunehmende Gelehrtheit Anachronismen aufmutzen oder lieber jenen Geist verspüren, der an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert in seiner besondren Weise der Psyche des Menschen auf den Grund zu kommen suchte? Wir ahnen nichts davon und müssen mit dem Begriffe der Unsterblichkeit auch unsern Größten gegenüber vorsichtig sein, aber jetzt darf jeder seine Meinung sagen. Und so sage ich, daß »der arme Heinrich«, 1902 entstanden, die deutsche dramatische Dichtkunst des neuen Jahrhunderts in großer Art eröffnet hat.