Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war ein schöner Junimorgen in einem engen Schwarzwaldtal. Die Sonne war noch nicht so hoch gestiegen, daß sie sehen konnte, was unten in der Sägmühle vor sich ging. Sie vergoldete erst die hohen Wipfel der Tannen, die oben zu beiden Seiten der engen Schlucht standen, an deren Ausgang die Sägmühle lag, aber man konnte wohl sehen, daß ein schöner, lichter Tag heraufzog.
In der Sägmühle war schon alles lebendig. Das Wasser des Flüßchens, das die Mühle trieb, schoß rauschend und schäumend über das Wehr hinunter und drehte das Rad herum, und die Säge schlug ihre scharfen Zähne in einen großen Baumstamm, der zu Brettern zerschnitten werden sollte. Der Sägmüller und sein ältester Sohn, der vierzehnjährige Adam, schleppten schon wieder einen neuen Stamm herbei. Aber sie ließen ihn gleich wieder liegen, als aus dem Küchenfenster eine Stimme rief: »Kommt auch zum Morgenessen.« Denn sie waren schon eine gute Zeit an der Arbeit und spürten jetzt plötzlich einen guten Hunger. An der grasigen Böschung unter dem Flüßchen waren zwei lustige, braune Geißen schon am Frühstück, aber der zwölfjährige Andres, der sie herausgeführt hatte, warf seine Weidengerte ins lange Gras und strebte auch auf das Haus zu. Aus dem schmalen Blumengärtlein über der Straße drüben kamen zwei, das 248 Gretle und das Agnesle, und beide hatten Sträuße von feuerroten und weißen Nelken in der Hand, die sie jetzt gerade gepflückt hatten. Drinnen im Haus aber, da krabbelten und purzelten noch allerlei kleine Sägmüllerlein umeinander. Denn es war ein kinderreiches Haus, es konnte einem nur wundernehmen, wo sie alle schlafen und sich aufhalten konnten. Wer nicht wußte, wie es in der Sägmühle war, der mußte nun freilich meinen, daß jetzt gleich die Mutter, die zu einem solchen Haus gehören mußte, aus der Küche treten und alle an dem gedeckten Tisch versammeln müsse.
Aber es trat nur ein fünfzehnjähriges Mädchen heraus, das sah ein wenig verkümmert aus seinem jungen Gesicht heraus und trug eine schwarze Schürze und ein schwarzes Halstuch. Es war das Annemeile, das älteste von den Sägmüllerskindern, und die Mutter war nicht mehr im Haus, die lag mit dem Allerkleinsten im Arm drunten auf dem Kirchhof im vorderen Tal und hörte nichts mehr von all dem lustigen Lärmen, der in der Sägmühle von den vielen Kindern vollbracht wurde. Sie hatte ein fröhliches Gemüt gehabt und hatte es immer für alle so sonnig und freundlich als möglich gemacht, und jetzt fehlte sie auf allen Schritten und Tritten.
Zwar das Annemeile tat, was es nur konnte. Aber es war schon von Haus aus ein wenig still und ernst, das hatte es vom Vater ererbt, und jetzt sah es so aus, als ob alle Freude für immer aus seinem Gesicht weggewischt sei und nur noch Dunkles und Schweres auf der Welt.
Der Vater sah es wohl; er warf einen kummerhaften Blick auf seine Große, aber er konnte nichts Tröstliches sagen; es war ihm selber schwer genug. Jetzt sammelten 249 sich alle Kinder um den Tisch zu der Morgensuppe, und sie war gut gekocht; das Annemeile war gut angelernt, das sah man gleich; es schmeckte allen gut.
Am unteren Ende des Tisches, da, wo die beiden Mädchen mit den großen Blumensträußen und der Geißbub Andres saßen, ging es lebhaft zu. Die drei mußten jetzt gleich aufbrechen, um in die Schule zu gehen, die auch draußen im Vortal war, und man konnte wohl sehen, daß sie noch etwas Besonderes im Sinn hatten, etwas, das nicht alle Tage geschah, denn sie hatten es wichtig mit irgend einer Ausmachung. Die Mädchen hielten die Sträuße in der einen Hand und führten mit der anderen den Löffel hin und her vom Teller zum Mund und umgekehrt. »Die strecken wir ihr gleich von weitem hin,« sagte Gretle, »daß sie dann sieht, daß alles wieder ganz gleich ist im Garten, wie voriges Jahr.« »Ja und die Nelken, die hat sie am allerliebsten gehabt,« sagte Agnesle. »Sie hat gesagt, das ist wie Arznei, wenn man dran riecht.« »Ja, ja, und dann sind sie welk bis heut mittag um zwölfe, und ihr könnet ihr nur das Heu hinhalten, zum Dranriechen,« sagte der große Bruder Adam; »und es ist, denk' wohl, nicht alles gleich wie voriges Jahr, das wird sie schon merken.«
Aber die Mädchen hatten nicht im Sinn, ihre Empfangsfeierlichkeiten abzustellen. Sie machten, daß sie mit ihren Sträußen zur Tür hinauskamen, und Andres kam hinter ihnen drein, sobald er den letzten Löffel voll von seiner Suppe verschluckt hatte. Sie waren alle barfüßig, und sie kamen leicht vorwärts auf der glatten, guten Straße, die ins Vortal führte. Schräg über von der Sägmühle lag auf der andern Seite des Wassers, ein klein wenig an den Berg hinausgebaut, ein hübsches Häuschen, mit 250 braunem Balkenwerk und grünen Läden. Es war nicht viel anders gebaut als die Bauernhäuser da herum, nur zierlicher. Die Läden und Fenster standen offen, und die drei warfen fröhliche Blicke dort hinauf, als sie vorüberkamen. Denn sie waren gut bekannt in dem Häuschen, noch vom vorigen Sommer her, und jetzt war es wieder geöffnet, nachdem es den ganzen Herbst und Winter hindurch fest zugeschlossen dagestanden hatte. Ein zierliches Brücklein führte über das Wasser zu dem Häuschen hinüber, da waren die Sägmüllerskinder jeden Tag herüber und hinüber gerannt und hatten den lustigen Rolf, den elfjährigen Sohn der Frau Hory, der das Häuschen gehörte, mit sich geführt.
Und am Abend war die Frau Hory oft mit den Kindern allen auf den Stämmen vor der Sägmühle gesessen, bis die Sonne hinter den Bergen hinuntersank, und sie hatten alle miteinander gesungen. Dann war auch die Mutter aus dem Haus gekommen mit dem Jörgle, der jetzt gerad laufen gelernt hatte, auf dem Arm, und es war ein schönes Dabeisein gewesen. So schöne Geschichten konnte aber auch sonst niemand erzählen als die Mutter des lustigen Rolf, die das ganz gleiche krause Haar und die gleichen braunen Augen hatte wie ihr Bub, und die alle Menschen liebhaben mußten. Das würde nun alles wiederkommen wie voriges Jahr. Die drei, die miteinander in die Schule gingen, gehörten zu der lustigen Hälfte der Familie, die nach der Mutter artete; sie konnten nicht immerfort daran denken, daß daheim alles anders sei, wie es das Annemeile tat und der Adam und der Vater. Sie wollten soviel als möglich wieder aufrichten von dem fröhlichen Leben des ganzen Sommers.
Darum stellten sie sich auch mit ihren Sträußen ganz 251 vorne hin an die Straße, auf der der Wagen von der Bahn herkommen mußte, das Tal herauf. Die Schule war aus, und jetzt mußte es Zeit dazu sei. Da kam auch der Wagen, aber er fuhr ganz langsam daher, gar nicht wie zu einem Freudenfest, und es waren doch die beiden festen Schimmel des Sonnenwirts davor gespannt. »Der fährt wie ein Schneck im langen Gras, so langsam,« sagte verächtlich der Andres. »Da wollt' ich anders fahren, wenn ich solche Gäule im Geschirr hätte.«
Aber als der Wagen nahekam, da sahen die drei freilich wohl, warum er so langsam fahren mußte. Denn der lustige Rolf, den sie immer nur mit lachenden Augen gesehen hatten, und der so flink und gewandt wie ein Eichhörnchen hatte springen und klettern können, der lag ganz erschreckend bleich und in Kissen gebettet im Wagen, und seine Mutter stützte und umfaßte ihn, daß er die Stöße nicht spüren sollte, die es beim Fahren gab.
Aber alle beide, die Mutter und der Sohn, erhellten ihre Gesichter in der alten, fröhlichen Weise, als sie ihre Nachbarskinder vom vorigen Jahr dastehen sahen; und es konnte sich nun gleich wieder zeigen, daß die Nelken schon beim Sehen und Riechen wie Arznei wirken, denn über die bleichen Wangen des kranken Buben flog eine helle Röte, als er den einen, flammendroten Strauß in den Händen hielt und seinen Duft einsog. »Hier muß man doch gesund werden, Mutter,« sagte er, und seine Augen leuchteten, daß man sah, es war doch noch der alte Rolf, wenn man ihn schon beim ersten Sehen fast nicht mehr erkannte.
* * *
252 Es war am späten Abend. Die Säge stand still, und auch im Haus waren die vielen, lärmenden Kinderstimmen verstummt. Hoch am Himmel standen schon die Sterne und sahen in das tiefe Waldtal herunter; droben am Berg wehte der Nachtwind in den Tannenwipfeln, und ihr leises Sausen mischte sich mit dem Rauschen des Waldwassers, das jetzt in der Nacht noch viel vernehmlicher war als am Tage.
Da kam von dem Landhäuschen her Rolfs Mutter über das Brücklein herüber, und auf der anderen Seite stand schon das Annemeile und sah ihr entgegen. Sie hatte gewartet, bis drüben das Licht erlösche, denn sie hatte ja wohl gewußt, daß Frau Hory heute noch zu ihnen komme, und sie konnte kaum erwarten, bis es geschah. Denn das Annemeile und die feine, liebe, mütterliche Frau hatten immer eine besondere Freundschaft miteinander gehabt, und sie hatten im vorigen Jahr einen wunderschönen Plan miteinander gemacht, der lag nun zerbrochen am Boden. Das Annemeile hatte von jeher eine besondere Freude am Lesen und Lernen gehabt, an feinen, schönen Handarbeiten und allerlei Beschäftigungen, zu denen es in der Sägmühle nicht recht Zeit und Gelegenheit gab. Frau Hory hatte einmal mit der Mutter gesprochen, die rasch und rüstig und lebenstüchtig war und das Töchterlein wohl glaubte entbehren zu können, und sie hatten miteinander beschlossen, daß das Annemeile diesen Herbst mit in die Stadt gehen solle, um unter Frau Horys Anleitung noch vieles zu lernen und in allerlei Dingen tüchtig zu werden, die da draußen in dem stillen, abgeschlossenen Tal nicht zu finden waren, und die dem Annemeile helfen sollten, einen Weg zu gehen, das seiner Gemütsart und seinen Gaben entspreche.
253 Aber davon konnte nun keine Rede mehr sein, denn das Annemeile war auf viele Jahre hinaus ganz unentbehrlich daheim, ja, wenn es sich hätte verdoppeln können, dann hätten immer noch beide Teile genug zu schaffen gehabt, damit nur jeden Tag alles Nötige geschehe, wie es sein mußte. So war das Wiederfinden mit der mütterlichen Freundin ein bewegtes. Denn auch Frau Hory hatte inzwischen Schweres erlebt und brachte es mit sich in den Wald heraus, da ihr fröhlicher, gesunder Knabe so traurig verändert war und man doch gar nicht absehen konnte, wie es mit ihm weiter werden solle.
Er hatte im Winter einen bösen Fall getan und sich das Rückgrat verletzt und viele Wochen lang hatte die Mutter in der Angst gelebt, daß sie ihr Kind hergeben müsse, das doch ihr einziger Besitz war, seit sie den Gatten nicht mehr hatte.
»Aber jetzt ist er wieder in der Besserung,« sagte die Mutter, als sie mit Annemeile auf einem Bretterstoß saß; denn da hatten sie sich in alter Weise niedergelassen, da die Nacht so schön und mild war. »Er ist heut abend so schnell und so tief eingeschlafen, wie schon lange, lange Zeit nicht mehr. Das machte die reine, frische Luft und der Duft von den Tannen und das Abendlied, das die Amsel auf dem Birnbaum vor unserem Häuschen sang. Mutter, da muß man ja gesund werden, sagte er noch, fast im Einschlafen, und jetzt sieht er im Schlaf ganz glücklich aus.«
»Ja, und wenn er aufwacht, dann ist er doch noch krank und kann gar nie mehr ganz gesund und stark werden,« brach Annemeile los. »Und wenn er noch so gern Offizier werden wollte, so kann er doch nicht. Und alles kommt immer wieder anders, als man will, und die 254 Mutter ist auch nicht mehr da, und ich kann alles nicht halb so gut als sie, das weiß ich gut; das kommt auch nie anders. Und nie kann ich etwas lernen, und alles ist aus.«
Frau Hory hatte das Annemeile ganz ruhig ausreden lassen, denn sie wußte schon, daß sich das alles angesammelt hatte und vom Herzen herunter wollte. Sie sagte auch nachher nicht viel. Es war eine so schöne, friedliche Nacht, man konnte wohl still zusammensitzen; so faßte sie nur die hartgeschaffte Hand des Mädchens und behielt sie eine Weile in der ihrigen. Man war ja jetzt noch lange beisammen, man konnte noch oft reden, es pressierte nicht so sehr damit.
Aber als das Annemeile nachher in sein Schlafkämmerlein hinaufging, da spürte es seit langer Zeit zum erstenmal wieder etwas wie Fröhlichkeit in seinem Herzen, und für jetzt einmal erschien ihm das Leben nicht so unerträglich schwer.
Nun waren die alten Beziehungen wieder neu angeknüpft, herüber und hinüber, von einem Haus ins andere. Frau Hory hatte das Haus und die Säge, den Geißenstall und das Gärtlein drüben genau betrachtet, sie hatte alle Fortschritte gesehen, die die Kleinen gemacht hatten, der Jörgle und das Lisebetle und der Hannesle, sie wußte alle wichtigen Dinge, die das Gretle und das Agnesle und der Andres im Vortal draußen in der Schule und sonst erlebten, und sie hatte es alles ihrem Rolf erzählt, der nun nicht wie sonst mit den Kameraden vom vorigen Sommer herumspringen konnte.
Er lag an guten Tagen draußen vor dem Haus auf seinem bequemen Liegstuhl, und er hatte es am 255 allerliebsten, wenn die Mutter mit einem Buch oder einer Handarbeit neben ihm saß.
Dann rauschte der Waldbach in seinem engen Bett zu ihren Füßen unten, und die hohen Tannen schauten von links und rechts von den Höhen herunter und am Waldrand standen Glockenblumen und Farnkräuter, und der kranke Knabe sagte immer wieder aufs neue: »O Mutter, hier muß man gesund werden.« Und die Mutter sagte dann immer: »Für jetzt wollen wir einmal dankbar sein, daß es dir soviel wohler ist als in der Stadt, und daß du essen und schlafen kannst, mein lieber Bub,« denn sie wußte wohl, daß es mit dem fröhlichen Laufen und Springen auf lange hinaus vorbei sei für ihren Sohn, vielleicht für immer. Und so stark sie auch im Herzen hoffte, daß es einmal noch besser komme, so wußte sie doch, daß es nicht immer nur so geht, wie wir möchten, sondern daß die Menschen auch manchmal etwas aufgelegt bekommen, das sie ihr Leben lang tragen müssen; und sie hatte schwer daran zu lernen, für sich und für ihr Kind, wenn sie auch nicht viel davon merken ließ. Das mußten ja nun die Sägmüllerskinder merken, daß man es nicht erzwingen kann, eine vergangene schöne Zeit ganz gleich wieder heraufzuholen, wenn man auch noch so gern will; der heurige Sommer wurde anders als der vorige. Aber er hatte auch sein Schönes. Sie gewöhnten sich daran, daß Rolf und seine Mutter immer zu finden waren, und sie schleppten alles Schöne, das sie fanden, an diesem Platz zusammen: Erdbeeren und grüngoldige Käfer, Nelkensträuße aus dem Garten und glatte, runde Quarzkiesel, die der Bach abgeschliffen hatte. Das legten sie alle auf dem Liegstuhl des kranken Kameraden nieder, und dann setzten sie sich daneben und breiteten ihre 256 Erlebnisse aus. Das war für das Annemeile sehr geschickt; denn wenn es sonst nach allen Seiten hatte hinauslaufen müssen, um am Abend seine Schar zusammenzusuchen, so konnte es jetzt nur über das Brücklein gehen und dort drüben das ganze Nest ausnehmen. Manchmal nahm es auch einen Arm voll zerrissener Röcklein und Höschen zusammen und setzte sich eine Zeitlang dazu, und Frau Hory gab dann etwa einen guten Rat, wie dem und jenem Stück noch aufzuhelfen sei, und gab auch gleich dem Hausmütterlein sonst noch ein gutes, freudiges Wort mit darein. Denn sie wußte sich ins Leben zu schicken, wie es eben war, weil sie wohl wußte, daß nur kommt, was gut für uns ist; das wußte das junge Annemeile noch nicht so recht. Aber es ging ihm doch hier und da eine Hoffnung auf, daß es nicht ganz zerdrückt werden müsse, und so sahen seine schwarzen Augen nicht mehr gar so trostlos in die Welt hinein. Das sah denn auch der Vater und der Bruder Adam, und sie atmeten auch ein wenig auf, und so ging ein kleines bißchen Fröhlichkeit im Kreis herum, da konnte vielleicht auch noch mehr hinzukommen.
Es war ein Sonntagabend. Gestern war ein guter, bequemer Fahrstuhl für Rolf angekommen. Man konnte ihn ganz flach machen, und der Kranke konnte darin liegen wie in einem Bett. »Man kann auch aufrecht drinsitzen,« sagte Rolf, als man ihn zum erstenmal hineinlegte, »und das werd' ich jetzt bald tun.« Die Mutter hatte einen scharfen Stich im Herzen, als sie ihren Sohn in den Fahrstuhl legte; wenn und wie würde er wieder herauskommen? Aber sie bezwang sich rasch. »Nun wollen wir auch gleich ein Einweihungsfest für den Stuhl feiern,« sagte sie. »Wir wollen über das Brücklein hinüberfahren und ein Stück weit die Straße hinunter, bis da, wo man in das weite 257 Tal hinaussieht. Und dann wollen wir andern alle uns wieder einmal vor der Sägmühle auf die Steine setzen, wie im vorigen Jahr, und ich will euch eine Geschichte erzählen, zu der ich ein Bild mitgebracht habe.«
Für Feste waren sie alle, der Rolf und die Sägmüllerskinder. Der Andres durfte den Fahrstuhl schieben, und Gretle und Agnesle gingen daneben her und schleppten immer neue Sträußle von Bachvergißmeinnicht und zarten Farnblättern und wildem Akeley herbei, bis Rolf wie unter einer lebendigen, blühenden Decke lag. Er hatte auch eine leichte Röte auf seinen Wangen, und seine Augen leuchteten, und das gefiel den Sägmüllerskindern so gut, daß sie gleich ein Lied anstimmten; denn den Rolf wieder lustig zu sehen, das war ihr größter Wunsch, sie konnten nicht gut lang mitleidig und wehmütig sein, das lag nicht in ihrer Art.
Dann saßen sie alle auf den Steinen herum, als schon die Sonne hinter den hohen Bäumen verschwand und die Amsel ihr Abendlied sang. Das Annemeile saß auch dabei in seiner sauberen Sonntagstracht, und der Vater in weißen Hemdsärmeln und mit der Sonntagspfeife im Mund, und alle die kleinen Sägmüllerlein bis auf den Jörgle herunter, das auf Annemeiles Schoß gestiegen war.
Frau Hory hatte ein Bild mit herübergebracht. Es hatte keine Farben, aber es sah doch sehr lebendig aus, und nun streckten sich alle die Köpfe darüber zusammen, die kurzgeschorenen der Buben und die langgezöpften der Mädchen, und auch der Vater sah über Frau Horys Achsel weg dazu hinein, bis es dann auf Rolfs Knie gelegt wurde.
Es war eine enge, tiefe Schlucht zwischen hochaufstrebenden Felsen, die sich oben fest zusammenschlossen. 258 Weiter hinaus sah man in ein schönes, sonniges Land, in dem ein Fluß aufglänzte; hier in der Schlucht drinnen schäumte und brauste es gewaltig über große Steinblöcke hin in einem engen Bett daher. Es war ein bißchen ähnlich wie in dem Tal, in dem die Sägmühle stand, nur noch viel wilder und enger und reißender.
Auf der einen Seite des wilden Wassers führte ein schmales Weglein vom Felsen herunter. Auf der andern Seite war, ein wenig gegen die Höhe hinaufgebaut, ein kleines Kapellchen zu sehen. Aber es führte keine Brücke herüber und hinüber. Und mitten im Wasser drin watete ein großer, starker Mann, der stützte sich schwer auf seinen Stab und ging mühsam und gebückt einher und trug doch nur ein feines, zartes Knäblein auf seinen Achseln.
Andres fand zuerst Worte, denn es kam ihm ein wenig verächtlich vor, daß der große Mann nicht einmal ein kleines Kindlein sollte tragen können und so dabei keuchen müsse.
»Der ist anders schwach,« sagte er. »So ein Bürschlein wie der Hannesle, das könnt' ich hinübertragen und noch Sprünge machen dazu.«
»Tät' dir bald vergehen in dem wilden Wasser, Bub,« sagte der Vater. »Mußt nicht so daherreden. Aber wunder nimmt's mich schon auch, er ist ein Mann wie ein Eichbaum, wie er so stark schleppt an dem Kleinen.«
»So will ich euch die Geschichte erzählen,« sagte Frau Hory. »Es trägt ein mancher, was den andern vom Zusehen leicht scheint. Es ist die Geschichte vom Christophorus. Es war in alten, grauen Zeiten ein starker, großer Mann, ein rechter Riese. Und weil er so stark war, so wollte er gar keinem dienen als nur dem Allergrößten, Stärksten. Und er ging an den Hof des Kaisers, das war damals der 259 mächtigste Mann auf der ganzen Welt, und bot ihm seine Dienste an. Die konnte der Kaiser auch gut gebrauchen, und er hieß den Offerus, denn so hieß der Riese, viele Dinge vollbringen, die allen andern zu schwer waren, und er tat sie alle, und war ihm nichts zu groß. Da hielt der Kaiser einmal ein großes Fest in seinem Saal, da waren viele Fürsten und Ritter und Herren geladen, und es ging hoch her. Aber so gegen den Abend hin, da begannen die Leute in der Weinlaune vom Teufel zu reden und schlechte Späße über ihn zu machen. Und der Kaiser wurde ängstlich und sagte: ›Seid still von ihm, er könnte es hören, und es könnte uns schlecht ergehen.‹ Da spitzte Offerus die Ohren und fragte, wer denn das sei, vor dem sich der Kaiser fürchte, und weil er nur dem Allerstärksten dienen wollte, so nahm er seinen Wanderstecken und ging in den Abend hinaus und dachte: ›Wenn ihn der Kaiser fürchtet, so muß er stärker sein, so will ich ihn suchen und ihm dienen.‹
Er war aber noch nicht lang gegangen, da trat ein Unbekannter zu ihm, der trug einen großen Mantel und einen Schlapphut, mit einer Hahnenfeder darauf, und grüßte den Offerus und sagte: ›Ich weiß wohl, daß du mich suchst, und da tust du auch recht, denn ich bin der Fürst dieser Welt und tausendmal mächtiger als der Kaiser.‹
›Wenn das so ist, so will ich dir schon dienen,‹ sagte Offerus und ließ den fremden Mann aufsteigen, da dieser begehrte, daß ihn Offerus auf seinem breiten Rücken trage, wohin er wolle, denn er hatte ein hinkendes Bein. Sie kamen weit umher in der Welt, und der Offerus sah wohl, daß sein neuer Herr gewaltig mächtig sei und daß sich viele vor ihm fürchteten. Das war ihm gerade recht. Aber 260 eines Tages kamen sie miteinander an einen Feldweg, und als Offerus in diesen einbiegen wollte, da hielt ihn der Teufel mit aller Macht zurück. ›Nicht dahinein,‹ sagte er und zitterte am ganzen Leibe, so, als ob er sich ganz erschrecklich fürchte. Es war aber niemand auf dem Feldweg zu sehen, es stand nur ein hölzernes Kreuz daran, an dem ein Mann, auch aus Holz geschnitzt, angenagelt war, der trug eine Krone aus Dornen und blutete aus vielen Wunden. Als aber der Teufel in seiner großen Angst sagte, daß er sich vor dem Kreuz fürchte, da stellte ihn Offerus ab und zeigte ihm an, daß er nunmehr einen andern Herrn suche, nämlich den, vor dem sich der Fürst der Welt so sehr fürchte. Denn der müsse doch wohl mächtiger sein.
Und er suchte und suchte und kam zu einem alten Einsiedler, der sagte ihm, daß der Mann am Kreuz der Herr Christus sei und daß er ihm wohl dienen könne. ›Da ist der alte Bruder gestorben, der sonst die Pilger über das wilde Waldwasser trug, die gern in der Kapelle da oben beten wollten. Wenn du willst, so kannst du es jetzt tun, damit dienst du ihm. Taufen kann ich dich noch nicht, denn du hast solang dem Teufel gedient.‹ Da ging Offerus hin und lebte in der Klause, die in den Felsen gehauen war, und wenn bei Tag oder Nacht, bei Sturm oder Sonne ein Pilger rief: ›Offerus, hol über,‹ so kam er und lud ihn auf seine starken Achseln, so leicht, als wäre er ein Spielzeug, und wurde nie müde darin. Da rief ihn eines frühen Morgens, als eben die Sonne aufging, ein zartes Stimmlein: ›Offere, hol über.‹ Und er stand auf und sah am andern Ufer ein feines Knäblein stehen, das wollte über den Fluß getragen sein. Offerus nahm es auf seine Achseln und dachte, das sei eine leichte 261 Last, so leicht wie für unsereins eine Nelke hinters Ohr. Aber das Knäblein wurde ihm schwer und schwerer, und als er in der Mitte des Wassers war, da zitterte der starke Riese so sehr, daß er sich auf seinen Stab stützen mußte und schier in die Knie sank. Und das Knäblein sprach zu ihm: ›Ich bin der, dem du schon lange dienst, ohne ihn zu kennen, und ich will dich nun in diesem Wasser taufen, daß du Christophorus heißest; denn du hast den Christ getragen.‹ Dann verschwand das Knäblein, und der Riese watete leichten und frohen Herzens vollends durch das Wasser und trug fürderhin die Pilger herüber und hinüber, bis zu seinem Tod. Nach größeren Dingen begehrte sein Herz nicht mehr, denn er hatte dem Allergrößten gedient, und das war ihm genug.«
* * *
Als Annemeile an diesem Abend in ihr Kämmerlein kam, da fand sie das Bild mit Reißnägeln über ihrem Schränkchen an der Wand befestigt, und sie sah es noch einmal lang und still an. Frau Hory hatte wohl gesehen, wie Annemeile während der Erzählung den kleinen Jörgle auf ihrem Schoß fest an sich gedrückt hatte, und sie wußte auch schon, daß sie eine große und schwere Last in ihrem jungen Leben zu tragen hatte und daß die Last sie manchmal niederdrücken wollte. Da sollte sie denn sehen, wie es bei dem Riesen Offerus gegangen war, daß gerade das, was die Menschen am allerschwersten drückt, oft das allerbeste ist, das in ihr Leben hereinkommen kann; sie wissen es nur nicht gleich.
So hatte sie denn, als sie nach der Erzählung alle auseinandergingen, dem Bruder Adam das Bild übergeben, daß er es in Annemeiles Kämmerlein aufnagle, 262 und der hatte es auch gut besorgt. Er hatte auch selber so seine Gedanken über die Geschichte, denn er hatte stark im Sinn, dann in ein paar Jahren, wenn der Andres dem Vater im Geschäft helfen konnte, in die Welt hinauszuziehen und dort so vieles zu verrichten, daß sich jedermann wundern müßte. Es wollte ihm nicht so ganz gefallen, daß der Riese jetzt nur noch Pilger hin und her trug, und er dachte, das Christuskind hätte ihm wohl auch eine größere Arbeit auftragen können; einmal, er wollte schon auch noch etwas anderes schaffen, was, wußte er freilich noch nicht so recht. Das hatte ja aber auch noch Zeit. So nagelte er nur das Bild an die Wand, solang Annemeile die Kleinen besorgte, und legte sich in seiner Dachkammer ins Bett. Denn das haben wir schon gesehen, daß in der Sägmühle der Tag früh begann, und für jetzt mußte sich der Adam noch nicht besinnen, was er schaffen wolle; das war ihm vom Vater deutlich vorgezeichnet und in genügender Menge.
Der Nachtwind wehte stark in den Tannen, als Annemeile noch am offenen Fenster ihres Kämmerleins stand. Und von drüben herüber, aus dem Nachbarhäuschen, trug er eine schöne, innige Melodie, dort sang Frau Hory sich und ihrem Sohn ein Abendlied, und wenn Annemeile auch schon die Worte nicht verstehen konnte, so kannte sie doch das Lied und sagte es im stillen mit:
»Gott, laß Dein Heil uns schauen,
Auf nichts Vergänglich's trauen,
Nicht Eitelkeit uns freu'n.
Laß uns einfältig werden,
Und vor Dir hier auf Erden,
Wie Kinder fromm und fröhlich sein.«
263 Dann löschte sie ihr Lämpchen und legte sich zur Ruhe, und noch lange tönten von drüben her sanfte, leise Töne an ihr entschlummerndes Ohr und hüllten sie ganz weich und friedlich ein, daß sie alle Kümmernisse für jetzt einmal vergaß.
Frau Hory hatte früher eine ganz andere Zuhörerschaft für ihr Singen und Spielen gehabt als so ein Annemeile in einer Schwarzwaldmühle. Sie hatte in großen, glänzenden Sälen vor lauter vornehmen Leuten gesungen, die hatten ihrer vollen, weichen Stimme atemlos gelauscht, und nachher war denn immer ein großer Beifallsturm losgebrochen. Aber sie hatte nie so ein rechtes Gefallen daran gefunden, sich vor so vielen fremden Menschen zu zeigen und sich von ihnen anstarren zu lassen, und als sie einmal Rolfs Mutter geworden war, da sang sie am allerliebsten nur noch ihrem Mann und ihrem Bübchen vor und etwa ein paar guten Freunden, die in ihr Haus kamen. Und als sie ihren Mann verloren hatte, da hatte sie gar keine Freude mehr am Singen; sie hätte am liebsten den Mund gar nicht mehr dazu aufgemacht. Aber sie lernte es ihrem Kind zulieb wieder. Denn der lustige Rolf sollte nicht eine ganz stille, trübselige Kindheit haben, weil seine Mutter ihrem Gram nachhängen wollte. Nur den fremden Menschen mochte sie nicht mehr gern vorsingen. Da war sie hierhergekommen in das stille Schwarzwaldtal und hatte da eine Zuhörerschaft gefunden, wie sie sie nur wünschen konnte, wenn die Sägmüllerskinder mit großen Augen an ihrem Gesicht hingen, und sie konnte auch gleich einen Chorgesang einrichten, denn sie hatten alle frische, helle Stimmen; so tönte es schön zusammen. Das war schon im vorigen Jahr so gewesen, nur daß da noch die helle, kräftige 264 Stimme der Mutter und die des lustigen Rolf mitgeklungen hatte. Jetzt war die Mutter nicht mehr da, und Rolf konnte nicht singen, es tat ihm weh, und doch sangen die andern an manchem schönen Abend wie im vorigen Jahr. Das machte, daß Frau Hory es gelernt hatte, an die andern zu denken und mit ihnen fröhlich zu sein, so konnten sie es auch hier und da vergessen, daß ihnen etwas fehlte, auch der Vater und das Annemeile, denen es von allen am schwersten fiel.
Aber nun ging der Sommer immer mehr vorbei. Der rote Fingerhut und die stolzen Königskerzen, die so prächtig an der Schlucht standen, verblühten. Die roten Erdbeeren, die die Sägmüllerskinder eine gute Zeitlang jeden Tag in großen Sträußen heimgebracht hatten, gingen auf die Neige, dann kamen die glänzend blauschwarzen Heidelbeeren, von denen ganze Körbe voll ins Haus geholt wurden und an denen sie alle miteinander schmausten, daß es eine Art hatte, und die Himbeeren, die an den langen Ranken über den Uferrand fast bis in den Waldbach hineinhingen.
Sie gingen alle nacheinander vorüber. Die Nelken im Garten hatten längst verblüht, und jetzt erschlossen schon die hochaufgeschlossenen Malven und die ersten Astern ihre Blüten, und eines Tages, als die drei Schulkinder aus dem Vortal herauf heimzu gingen, ging die alte Ursel mit ihnen, die der Frau Hory immer tagsüber die nötigen Dienste tat. Sie trug einen gefüllten Korb auf dem Kopf, darin war allerlei, was sie für die Haushaltung eingekauft hatte, und keuchte ein wenig daher unter ihrer Last.
»Ja, ja,« sagte sie, »es ist gut, daß es bald aus ist mit der Bedienung da oben; ich bin nicht mehr die Jüngste, ich kann nicht mehr so. Es fliegen schon die Herbstfäden 265 in der Luft herum, da wird die Frau ans Einpacken denken, mein' ich.«
Nun war das ausgesprochen, was die Sägmüllerskinder schon lang hatten kommen sehen. Sie hatten es sich nur seither immer sorgfältig verschwiegen, denn das war etwas, an das sie nicht gern denken wollten, sonst konnten sie nicht mehr so vergnügt sein wie bisher. Aber es schien sich nun nicht mehr umgehen zu lassen.
Andres war der erste, der zum Reden kam.
»Wenn das gut sein soll, daß es aus ist mit der Bedienung da droben, dann kann von mir aus alles fort sein und aus und vorbei,« brach er so heftig los, daß die Ursel ihn erstaunt ansehen mußte. Sie hatte nicht gedacht, daß sie in ein Wespennest steche mit ihrer Bemerkung. Die beiden Schwestern schienen ganz der Ansicht des Andres zu sein, denn sie machten so finstere Gesichter, daß es aussah, als ob nun gleich ein Gewitter losbrechen würde mit Blitz und Donner und Regen. Aber sie konnten nicht mehr sagen, was ihnen auf dem Herzen lag, denn eben kam eine Kutsche hinter ihnen hergefahren und überholte sie schnell, und in der Kutsche saß ein bärtiger Herr mit einer Brille, das mußte gewiß ein Doktor sein, so sah er aus und nicht anders. Die Kutsche hielt bei dem Brücklein, das zu Frau Horys Häuschen hinüberführte, und da stieg der Herr aus, ging über das Brücklein hinüber und verschwand in dem Häuschen. Die Ursel keuchte mit ihrem Korb, so schnell sie konnte, hintendrein, denn sie sah voraus, daß nun etwas zu richten sein werde, eine Erfrischung oder so, und es nahm sie auch stark wunder, was der Herr etwa bei Frau Hory wollte, denn das gedachte sie auch zu erfahren. Die drei Schulkinder gingen in ihr eigenes Haus hinein, und da sie das Annemeile am 266 Herd fanden, konnten sie gleich anfangen, ihr Herz auszuleeren, denn das konnte man seit einiger Zeit so gut bei Annemeile wie früher nie. Sie hörte auch alle Klagen darüber, daß der Sommer jetzt aus sei und alle Freude vorbei, ganz geduldig an, dann sagte sie tröstend: »Sie sind ja noch nicht fort; es kann schon noch etwas kommen, daß sie dableiben müssen. Und wenn sie schon gehen, so dauert es nur den Winter lang, so kommen sie wieder, und man kann sich immer freuen, bis der Schnee schmilzt, denn dann wird es Frühling.« Das Annemeile dachte auch mit Angst an die düstere Zeit, da das Häuschen geschlossen werden müßte und der freundliche Verkehr, den sie fast nicht mehr entbehren konnte, für die ganze lange Winterzeit aufhörte. Aber sie war nicht umsonst so viel mit der lieben Frau zusammen gewesen, sie hatte ihr schon auch etwas abgelernt, das konnte man deutlich spüren. Das Häuflein stand noch in der Küche beisammen, da kam auf einmal Frau Hory herein in großer Eile und sagte: »Wir müssen gleich nachher abreisen, Rolf und ich. Draußen hält noch der Wagen des Herrn Doktors; ich habe ihn kommen lassen, und nun will er Rolf gleich mit sich haben in sein Krankenhaus in Freiburg drunten, und ich fahre natürlich mit. Kann der Andres geschwind zum Schreiner ins Vortal hinauslaufen, daß der kommt und den Fahrstuhl verpackt? Es hat Eile.«
Sie wollte gleich wieder hinausgehen, da sah sie noch, wie sich Annemeile vom Herd abkehrte und ans Fenster trat mit bleichem Gesicht und wie das Agnesle seine Büchertasche in eine Ecke schleuderte und der Andres mit dem Fuß aufstampfte vor Erregung, und sie kehrte sich noch einmal um und sagte: »Ich komme dann noch einmal wieder, denn ich kann jetzt nichts mehr ordnen für 267 den Winter. Dann sehen wir einander noch einmal.« Es erbarmte sie des mutterlosen Häufleins, aber für jetzt konnte sie nichts tun als abreisen. Und Annemeile ging und hob den friedlich spielenden Jörgle auf und legte seine festen Ärmchen um ihren Hals, denn sie mußte ganz deutlich spüren, warum sie dablieb und nicht mit in die Welt hinaus ging; vielleicht, das kann man nicht wissen, dachte sie auch an den Riesen Offerus und an das Kind, das er tragen mußte. »Warum heulst?« fragte der Jörgle. Da drückte sie ihr Gesicht in sein Lockenhaar hinein, und als sie es wieder aufhob, da war es ganz hell, und nur ein einsames Tränlein lief noch über Annemeiles Wange herunter, wie ein vergessener Regentropfen, wenn schon die Sonne scheint.
* * *
Es waren schon vier Wochen vergangen, seit der Reisewagen die beiden, Mutter und Sohn, davongeführt hatte, und es war an einem kühlen Abend im Oktober. Das Annemeile hatte ein Feuer in dem großen Kachelofen angezündet, der von der Küche aus geheizt wurde, und ging geschäftig hin und her, denn draußen kochte die Abendsuppe und drinnen war die ganze kleine Gesellschaft versammelt, da ging es lebhaft zu. Ein wenig müd sah das Annemeile aus; es konnte manchmal nicht recht mit dem wilden Volk fertig werden, das dem jungen Vizemütterlein nicht immer folgen wollte. Dem Vater wollte sie nicht gern klagen; der seufzte dann gleich und sagte: »Es ist ein Elend, daß die Mutter nicht mehr da ist,« und das wollte das Annemeile nicht gern heraufrufen, das wußte es selber. Es sah noch oft sein schönes Bild an und wußte dann gut, wie es sei, wenn man ganz 268 zusammengedrückt einhergeht. Eben jetzt waren die Geschwister aber friedlich versammelt; sie waren an dem großen Gesprächsstoff, der immer wiederkam: Rolf und seine Mutter. »Sie kommt nicht mehr, ich glaub's nicht,« sagte Andres; »es ist schon so unmenschlich lang her, seit sie fort sind. Vielleicht ist der Rolf in dem Krankenhaus schon gestorben, und dann ist alles aus.« Annemeile wollte soeben ein berichtigendes Wort sagen, da ging die Tür auf und Frau Hory kam herein, den ganzen wohlbekannten Sonnenschein auf dem Gesicht, man mußte es ihr ansehen, eh' sie etwas sagte, daß es ihr froh ums Herz war; sie hatte keine traurige Botschaft zu verkünden. Sie konnte nicht gleich zu Wort kommen, denn es entstand ein so großer Freudenlärm in der Stube, daß sie sich zuerst ein wenig setzen und ihn vertosen lassen mußte. Dann sagte sie: »Der Rolf schickt euch allen einen schönen Gruß, und ob ihr wohl über den Winter seine Mutter haben wollet, bis er dann im Frühling zu euch wiederkommt und dann vielleicht wieder herumgehen kann, denn so hat es der Herr Doktor mit ihm im Sinn, und seine Mutter hofft es nicht weniger.« Da gab es aber bei den Sägmüllerskindern noch ein viel größeres Freudengetöse als vorher, denn die freundliche Frau, die allen so lieb war, den ganzen Winter in solcher Nähe in dem Häuschen drüben zu finden und zugleich zu denken, daß im Frühling ein neues Freudenleben mit dem lustigen Rolf beginne, das war mehr, als sie alle gehofft hatten, und mußte recht gefeiert werden, Annemeile schrie nicht mit. Aber auf ihr Gesicht war ein solcher Freudenschein gekommen, daß Frau Hory auch ohne Worte sah, wie es ihr im Herzen wohl tue, was jetzt geschehen sollte, und sie konnte darum mit ruhigem Herzen an ihr Büblein denken, das sie im 269 Krankenhaus zurückgelassen hatte und das sie von hier aus oft besuchen wollte. Denn sie wußte, daß für alle alles komme, wie es gut sei.
Au diesem Abend hallten die hohen Bergwände von einem so frohen Gesang wider, der aus dem Häuschen der Frau Hory schallte, aus vielen Kehlen, daß ein einsamer Wanderer, der vorüberging, zu sich selber sagte: »Denen da drinnen ist's wohl, so wohl sollte es unsereinem auch ums Herz sein.«