Anna Schieber
Gesammelte Immergrün-Geschichten
Anna Schieber

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Einen Sommer lang.

Sie trollten sich miteinander von der Stadt her, die lag ganz im goldenen Glanz der Maisonne. Alles schimmerte und flimmerte, die weißen Häuser, die sich an den Bergen hinaufzogen, die hohen Gartenmauern, über die die schweren, blütenvollen Ranken der Kletterrosen herabhingen, die Ufer, und der Hafen mit den vielen Masten und Segeln. Und das Meer. Es war ein Glanz. Man sagt nicht umsonst: Genua Superba, die Herrliche.

Aber die beiden braunen Jungens, Monio und Gian, sahen nicht viel danach hin. Was sollten sie auch? Das hatten sie immer gesehen. Sie trugen einen leeren Waschkorb, den schwenkten sie hin und her und machten Sprünge dazu wie junge Ziegen. Und als sie an einem breiten, hohen Grasrain vorbeikamen, draußen, gegen den Friedhof hin, da purzelten sie ins Gras und streckten die nackten, braunen Beine in die Luft und guckten in den blauen Himmel hinein. »Gian,« sagte Monio, »die Mutter wird schelten. Eilt euch, hat sie gesagt, eilt euch, sonst –« »Es ist noch früh,« sagte Gian und reckte sich. Zweierlei gab es, was er gern tat, jetzt im Sommer, wo die Luft vor Wärme zitterte. Entweder draußen in der Flut schwimmen und tauchen, wie die Fische taten, die Glieder jauchzend recken in dem kühlen Gewässer, oder in der Sonne auf dem Rücken liegen und sich wärmen wie die Salamander, die aus den Felsritzen schlüpfen und auf den 88 warmen Steinen sitzen. Das hätte er den ganzen Tag tun mögen. Aber das ging nicht an. Solch ein Faulenzerleben, das hätte der Mutter gefallen sollen! Die Mutter stand den ganzen Tag am Waschzuber, hinten im Hof, und rieb und rieb und rührte drunterhinein mit einem langen Stock in dem Kessel, der auf drei Füßen stand, und in dem über einem offenen Feuer die Wäsche kochte. Für den eigenen Haushalt, da gab es nicht allzuviel zu waschen, aber die Mutter war eine Wäscherin und wusch ums Geld für die Herrschaften in der Stadt drin.

Sie setzte ihren Stolz darein, die allerweißeste Wäsche zu liefern, und zog die Nase hoch, wenn sie drinnen in Genua in den engen Straßen die Wäscheleinen von einer Straßenseite zur andern gespannt und daran, fünf, sechs Stock hoch übereinander, die Wäsche baumeln sah. Bei ihr, draußen vor der Stadt, wo es Licht und Luft und Raum genug gab, da bleichte das weiße Zeug in der Sonne und schimmerte wie Schnee, wann es zu den Kunden kam. Und wozu waren denn die beiden, Monio und Gian, die gesunden Buben, die daherwuchsen wie die Kürbisse hinten an der Wand des Häuschens? Sollten die dem Herrgott den Tag abstehlen, wenn der Vater drüben lag auf dem Campo santo, auf dem Gottesacker, dessen weiße Marmorsäulen bis hier herüberleuchteten in der Sonne? O nein, die sollten sich rühren und sollten die Wäsche austragen, in der ganzen Stadt herum und bis hinauf auf den Righi, in das Hotel, von dem man über die ganze Stadt hinsieht und über das Meer und weit, weit an den Ufern entlang, und sollten gut darauf achten, daß sie das Geld richtig mitbrachten, oder es setzte etwas. Ohne Zweifel setzte es etwas.

Die Mutter hatte ein stattliches tönernes Schwein in 89 der Truhe stehen, das bekam jeden Samstagabend, wenn die beiden mit klingenden Hosentaschen und leeren Körben heimkamen, ein großes Silberstück zu fressen. Und die Buben wußten es, die Mutter hatte es ihnen oft genug gesagt: Wenn das Schwein ganz voll war, dann wurde es an der steinernen Tischplatte zerschlagen, und dann wurden die Silberstücke gezählt, und wenn es reichte, dann kaufte die Mutter das Häuschen, das eine Stube und eine Kammer hatte, und das jetzt noch dem reichen Padrone gehörte, drüben in dem weißen Haus, gleich über der Straße. Es lag in einem großen Garten, das weiße Haus nämlich, und der Garten war von einer Mauer umgeben, über die nur die grünen Wipfel der Zypressen und der Pinien guckten und die neugierigen Rosenranken kletterten. Aber Gian und Monio wußten darum doch, wie es in dem Garten aussah. Besser als der Padrone und seine Frau selber wußten sie es, wenn sie gleich zum Hintertürchen an der Mauer hineingingen und die vornehmen Leute vornen zu dem großen Gittertor. Denn der Padrone war alt und fast blind, und seine Frau, die saß immer in einem weichen Lehnstuhl auf der großen Terrasse, die nach dem Meer hinaussieht. Da sah sie freilich, wie es vorn heraus war. Den Springbrunnen und die weißen, marmornen Frauen, die um sein Becken standen, und die glühenden, blühenden Rosenbüsche. Aber nach hinten, da kam sie nicht, denn sie hatte lahme Füße. Da wußten die beiden Buben Bescheid. So lang die Haushälterin die Wäsche zählte und das Geld holte, strichen sie ungehindert dort herum, standen bei den Pfauen und Truthähnen still, gingen durch die Steineichenallee, wo sich die Weinrebenranken wie Triumphbogen von Baum zu Baum hängten, guckten, wenn's Zeit war, nach dem 90 Reifestand der Orangen und Mandarinen und sagten zu hundert Malen zueinander: »Ah, wenn wir dem gehörten, dem Padrone! Das wär' ein Leben! Maultiere und Pferde im Stall und zwei weiße Kühe und eine Kutsche zum Fahren. Madonna! Das wär' wie im Paradiese.« Aber der Padrone hatte keine Kinder, und die beiden Buben mußten jedesmal wieder durch ihr Hintertürchen hinaus, und ihr höchstes zu erreichendes Ziel war der Besitz des kleinen Hüttchens, das die Mutter kaufen wollte, wenn das tönerne Schwein fett genug war. Ja, da mußten sie denn nun wieder aus dem Gras aufstehen und vollends nach Hause gehen, das half alles nichts. Es kam keine Kutsche, die solch braune Bübchen auflas und mitnahm.

Eine Kutsche? Ja, da kam eine. Zwei glänzende Rappen waren darangespannt, und auf dem Bock saß ein Kutscher mit einem hohen Hut und blauen Rock, der war mit Silbertressen geschmückt. Kein Mensch hätte denken sollen, daß er, der da oben thronte wie ein König, der alte Antonio sei, den die beiden oft genug gesehen hatten in schlottrigen Stallhosen, das Hemd offen auf der braunen Brust, die kurze Pfeife zwischen den Zähnen. Er war ein alter Freund von ihnen, aber nun kannte er sie nicht. In kurzem Trab fuhr er vorbei und hielt vorne an dem großen Gittertor. Das stand weit offen, und in der Öffnung stand die alte grauhaarige Gigia, die Haushälterin, in ihrem besten Kleide und in einer ungeheuren Haube, und knixte in einem fort. Und dann stieg aus der Kutsche ein Herr mit einem mächtigen Vollbart und einem großen Schlapphut, den er schwenkte, und rief: »Guten Tag, Gigia! Kennst du mich noch? Siehst du, das ist mein Junge, den bring' ich euch auf eine Zeitlang. Du 91 mußt ihn gut halten, Gigia, so, wie mich einst. Komm heraus, Manfred.« Und er streckte einem kleinen, aber kräftig gebauten Jungen die Hand zum Aussteigen hin. Der aber sprang ohne diese Hilfe mit einem Satz heraus, schwenkte den Matrosenhut, ganz wie sein Vater getan hatte, und sagte mit heller Stimme: »Guten Tag, Fräulein Gigia!« und schüttelte sein hellbraunes Lockenhaar dazu.

Dann ging die ganze Gesellschaft miteinander dem Hause zu, wo auf der Terrasse der alte Herr neben dem Lehnstuhl seiner Frau stand, und das Gittertor fiel klirrend zu. Antonio führte seine Pferde und den Wagen durch eine Seitenpforte in den Hof, Gian und Monio aber gingen über die Straße und das Stückchen Wiese nach ihrer Hütte. Ja, nun mochte die Mutter, die unter der Hüttentür stand und, die Arme in die Seite gestemmt, Ausschau nach ihren Sprößlingen hielt, nun mochte sie wohl ein wenig schelten. Sie würde schon aufhören, wenn sie das Erlebnis zu hören bekam. Ein kleiner Junge da drüben! Und ein mächtig großer Herr, mit einem Bart, wie Garibaldi einen hatte auf seiner Bildsäule, drinnen auf dem freien Platz in der Stadt. Ob die wohl dableiben? Die Mutter hatte ein paar Püffe auszuteilen, bis ihre Buben wieder bei der Sache waren. Erst mußte das Geld stimmen. Monio trug es in einem Zipfel seines Hemdes eingeknotet, da sonst kein sicherer Platz in seinen wenigen Gewändern war, die Hosentasche hatte ein großes Loch. Aber was tat das? Es stimmte, das war die Hauptsache. Darauf fütterten sie das Schwein und hörten andächtig zu, wie es in seinem Innern leise klirrte, und aßen ihren Maisbrei, und als die Sonne ins Meer sank, da gingen sie alle zur Ruhe.

*     *     *

92 Ja, wo war Manfred her? Wenn er das sozusagen gewußt hätte! Erstens konnte er nicht in der Sprache der beiden Buben reden, sein Vater hatte ihn nur so unterwegs ein paar Worte gelehrt, die er beim Empfang als Gruß gebrauchen konnte. Und zweitens war das überhaupt schwer zu bestimmen. Er war nun acht Jahre alt, und war in diesen acht Jahren schon da und dort gewesen. Ganz oben an der russischen Grenze, wo sich lange, dunkle Wälder hinstreckten, und wo er im Winter im Schlitten gefahren war, dann in einer großen Stadt, die ihm als etwas Rauchiges, Nebliges vorschwebte, und wo er zwischen hohen, hohen Häusern gewohnt hatte. Auch einmal eine Zeitlang auf dem Land, das war aber schon lang her, in einem kleinen Häuschen mit grünen Läden und einer freundlichen Stube mit einer weißhaarigen Frau. Der Vater sagte, das sei seine Großmutter gewesen. Seine Mutter hatte er nie gekannt. Nein, er konnte nicht so recht sagen, wo er her sei. Er kam jetzt eben mit dem Vater von England her. Der Vater hatte dort und überall, wo er mit Manfred gewesen war, in Geschäften zu tun, und nun war er schon wieder fort. Manfred hatte von der Terrasse aus, neben dem Sessel seiner Großtante stehend (denn die gelähmte Frau des Padrone war seine Großtante), dem Dampfer nachgesehen, der ihn davontrug, bis er kleiner und kleiner wurde, bis er endlich nur noch wie ein weißer, schimmernder Möwenflügel am blauen Horizont geschwommen und dann verschwunden war. Die alte Frau hatte gefürchtet, er werde in Tränen ausbrechen. Aber Manfred hatte sich nur ruhig umgewandt und gesagt: »Jetzt kann ich wohl in den Garten gehen?« Er war den Wechsel gewohnt geworden in der Mannigfaltigkeit seines jungen Lebens. Wenn ihm dennoch etwas fehlte, 93 so wußte er's nicht, heute noch nicht, wenigstens nicht klar und deutlich.

Und nun stand er an dem Hinterpförtchen der Gartenmauer, die ins Freie führte, und Gian und Monio standen vor ihm und guckten ihn mit neugierigen, dunklen Augen an. Ja, das war freilich ein Junge, der eignete sich wohl dazu, dem Padrone anzugehören. Mit seiner hellen Haut und den blauen Augen. Wie ein Prinz sah er aus in dem weißen Flanellanzug, obgleich Gian und Monio noch keinen Prinzen gesehen hatten. Sie selbst trugen ein jeder ein rot und gelb gestreiftes Hemd und ein leinenes Höschen, das ging knapp bis oben an die Knie. Basta. Und überall guckte die bräunliche Haut heraus, zu unzähligen Luftlöchern, die so allmählich in das Zeug geraten waren. Sie kümmerten sich nicht groß darum. Sie hatten ein Sonntagsgewand daheim im Schrank, und Strümpfe und Schuh. Aber hundertmal leichter ging es sich so, jetzt, zur warmen Zeit, wo die Sonne den ganzen Tag am Himmel stand.

Alle drei hatten sie Lust, eine Unterhaltung anzuknüpfen. Aber man sieht, es geht nicht so leicht damit, wenn man nicht dieselbe Sprache redet. Sie halfen sich aber, so gut sie konnten. Woher er gekommen sei? Da zeigte Manfred nach dem Meer. Der Herr mit dem Bart? Gian strich sein glattes Kinn und machte eine mächtige Handbewegung drum herum, denn der Bart war stattlich. Manfred verstand. »Das ist mein Vater,« sagte er, »er ist wieder fort.« Er machte einen weiten Bogen mit der Hand, es mußte eine große Reise sein, die sein Vater unternommen hatte. »Eh, Vater, das ist padre.« Sie verstanden auch, und zeigten nach dem Friedhof hinüber. Dort lag der ihrige, unter der Erde, das konnte man alles mit 94 Gebärden zeigen. Es ging allmählich gut voran. Sie erfuhren auch, daß er keine Mutter habe, aber eine goldene Taschenuhr und viele schöne Dinge in einem roten Lederkoffer, drinnen im Haus. Sie wußten nicht recht, was begehrenswerter sei. Die Mutter? Sie konnten sich nicht recht denken, wie das wäre, wenn sie nun eines Tages fehlte. Dann wären sie ganz allein in dem Häuschen gewesen, und niemand hätte ihnen den Maisbrei gekocht. Freilich, es setzte auch viele Schelte und Püffe. Ach, das alles war ja aber bei Manfred ganz anders. Man brauchte nicht lang darüber nachzudenken. Man konnte lieber sogleich anfangen, Boccia zu spielen. Dort lagen schon die Kugeln in dem gelben Sande. Und sie spielten und spielten und bekamen glühende Köpfe, bis von der einen Seite her die alte Gigia kam und von der andern Angiolina, die Mutter von Gian und Monio, und beide ihre Jungen zurückholten in die gehörigen Grenzen.

Aber darum machte die Freundschaft doch Fortschritte. Manfred sollte Ferien haben, den ganzen, schönen Sommer lang. Im Spätherbst, da sollte er nach Deutschland kommen in eine Schule, und dort bleiben, bis er ganz erwachsen sein würde. »Er soll sich vorher noch gehörig vertoben, und zwar hier, an den Orten, wo auch ich als Kind gespielt habe,« hatte der Vater gesagt. Denn auch er war einst, als kleiner, mutterloser Junge, hier gewesen. Antonio, damals ein junger Bursche, hatte ihn reiten gelehrt, und Gigia, die zu jener Zeit noch ein frisches, schwarzköpfiges Mädchen war, hatte mit ihm im Garten gespielt. Und die Tante, die jetzt gelähmt im Sessel saß, hatte ihm dort im Gartensaal schöne Lieder zur Zither gesungen. Es war eine sonnige Zeit gewesen. Die wollte er seinem Kinde auch gönnen, ehe es ganz und auf die 95 Dauer seiner Bubenjahre in den geregelten Ernst des Schul- und Pensionslebens eingetaucht würde. Aber das hatte er freilich nicht bedacht, daß alle die jungen, fröhlichen Menschen von damals nun alte Leute waren, zitternd und gebrechlich zum Teil und, da sie des Umgangs mit der Jugend schon lang entwöhnt waren, auch nicht mehr jungen Herzens. Sie lebten alle ein bißchen mühselig dahin, und die Freude an dem frischen Jungen Manfred glich eher einer zitternden Rührung als einem fröhlichen Mitleben.

Manfred ließ sich's nicht groß anfechten. Die Welt war schön hier, und für Unterhaltung wollte er sich schon sorgen.

Ja, da hatte er nun die beiden Nachbarsbuben getroffen. Gigia hatte zwar einen großen Wortschwall losgelassen, darüber, daß Gian und Monio keine Gesellschaft seien für den jungen Herrn. Man denke, das seien zerrissene Fischerjungen (denn ihr Vater war ein Fischer gewesen), und die Mutter sei eine arme Wäscherin. Aber erstens hatte Manfred das wenigste von dem allen verstanden, und zweitens gefielen ihm die beiden Buben, die so vergnügt aussahen in ihrem löcherigen Zeug, als ob es ihnen am allerbesten ginge von der ganzen Welt. Also, die Freundschaft wurde darum doch geschlossen. Zwar Gian und Monio mußten dreimal in der Woche mit ihrem Buch unter dem Arm in die Stadt, zum Pater Giuseppo in die Unterweisung, und außerdem mußten sie der Mutter Botengänge tun, wie man weiß. Aber die Tage waren lang, es fiel viel goldene Zeit der Freiheit heraus. Da lagen die drei im Grase und ließen sich von der Sonne bescheinen, oder Manfred tat das Hintertürchen an der Gartenmauer auf und strich mit den beiden, die 96 er da hereingelassen hatte, durch den weiten Garten, oder sie störten Antonios beschauliche Ruhe, wann er, aus der kurzen Pfeife rauchend, unter der Stalltür saß. Erzählen sollte er, Gian und Monio wußten, daß er voll alter Geschichten stecke. Da nahm er dann seinen alten Kopf zusammen und erzählte dem jungen Blut, was er wußte. »Sag mir von meinem Vater, als er so groß war wie ich,« bettelte Manfred. »Wie war das? Was tat er? Was sprach er?« Da wurde Antonio auf Augenblicke jung und frisch, und über seine braunen Runzeln lief ein Lachen. Manfred machte reißende Fortschritte im Italienischen. Es war, als ob er's vom nächsten besten Baum genommen hätte wie eine reife Orange. Freilich, es war auch danach. Die drei, Antonio, Gian und Monio, die sprachen, wie ihnen der Schnabel gewachsen war, und so sprach Manfred es nach. Gigia schlug die Hände überm Kopf zusammen. Aber davon wurde es nicht anders. »Laß ihn,« sagte die lahme Frau in ihrem Sessel, als ihr die Dienerin vorjammerte. »Laß ihn, er soll fröhlich sein, das ist die Hauptsache. Er verlernt's wieder, wenn er nach Deutschland kommt.«

Da mußte Gigia es gehen lassen, wie es wollte. Ja, so ging es auch. Es ging hauptsächlich hinüber in das kleine Häuschen überm Weg. Oder, um es recht zu sagen, um das Häuschen herum, denn drinnen waren die Bewohner nur zum Schlafen, und hier und da zum Essen. Hinten, da war der Hof, da stand Angiolina, die Mutter der Buben, am Waschzuber. Und wenn alles gut ging, dann sang sie dabei. Es ging aber meistens alles gut. Da rankten die Kürbisse in die Höh' und kamen mit Leichtigkeit an das niedrige Dach und ließen ihre reifen Früchte gleich leuchtenden Vollmonden über die 97 Dachrinne herabhängen. Da bedeckten die Kletterrosen die ganze baufällige Laube an der Seitenwand, und in der Laube, da ging das Familienleben vor sich, soviel da zu erleben war den Tag über.

Und da wurde nun noch eine Freundschaft geschlossen. Gian und Monio kannten ihre Mutter nicht recht wieder. Sie war eine heitere, kräftige und wohl auch etwas derbe Natur; mit ihnen beiden ging sie nicht eben zart um. Aber was fand sie nun auf einmal für sanfte, mütterliche Töne für das Kind des Reichtums, das nicht wußte, was eine Mutter und was eine Heimat sei! Die beiden rissen die Augen nicht schlecht auf, als sie dem Manfred so fein und leicht über die Locken strich mit ihrer schrumpeligen Hand und sagte: »Povero piccolo!« »Armer Kleiner!« Der und arm? Und hatte doch, was nur das Herz begehrte, und konnte nur wünschen, was er wollte, so kam es.

Sie staunten auch, daß Manfred von nun an aus allem fröhlichen Spiel immer wieder weglief, und sei es nur auf Augenblicke, um einmal neben ihrer Mutter zu stehen am Waschfaß, oder wenn sie das Linnen auf den Rasen legte zur Bleiche. Was hatte er davon? Das wußten sie nicht so recht. Es kam ein Sonntagnachmittag. Manfred hatte eigentlich mit den beiden alten Leuten, dem Padrone und seiner Frau, ausfahren sollen und hatte schon am Morgen vergeblich mit Gigia gekämpft, daß diese es herausschlagen solle, daß Gian und Monio mitgenommen würden. »Sie haben Sonntagsgewänder an und Schuhe, Gigia, und sie sind meine Freunde.«

Aber Gigia hatte den Kopf geschüttelt, daß ihre weißen Haubenflügel hin und her wackelten, als ob sie privatim für sich die Hände zusammenschlagen wollten. »Aber Signor Manfred, das soll der Onkel nicht hören! Ist im 98 Senat der Stadt gewesen, bis er alt wurde, und einmal, da hat ihn der König besucht, hier in diesem Hause, und meine Augen haben gesehen, wie er ihm die Hand gab. Und nun soll er mit diesen ausfahren? Diesen –« Gigia hatte ihre Rede nicht bis zum Ende halten können, denn die Klingel von der Herrin Zimmer hatte scharf und schrill dazwischen hinein gebimmelt, und Gigia hatte nur noch im Enteilen den Kopf geschüttelt, bis sie hinter dem Vorhang verschwand, der die Zimmer voneinander schied.

Und dann war weder von Manfreds Freunden noch vom Ausfahren überhaupt mehr die Rede gewesen. Denn die Großtante hatte starkes Kopfweh und blieb den Tag über im kühlen Zimmer, und Gigia pflegte sie. Und als Manfred eine Zeitlang durch Haus und Garten gestreift war wie einer, der etwas sucht und weiß nicht was, da war er durch das Mauerpförtchen geschlüpft, und nun saß er mitten im vollen Behagen drüben in der Rosenlaube.

Frau Angiolina war heut schön, so schön, wie Manfred sie nie gesehen hatte. Sie hatte ein leuchtend blaues Seidentuch kreuzweis umgebunden, und ihre Schürze war bunt wie ein Blumenbeet im Sommerflor. Und in ihrem schwarzen Haar stak ein großer Silberpfeil. Manfred blieb stehen, als er hereinkam. »Du bist schön,« sagte er, und sein ganzes Gesicht staunte. Da lachte sie, und Gian und Monio lachten zur Gesellschaft mit, und davon wurde Manfred angesteckt, und es gab ein so vergnügtes Beisammensein, als man nur wünschen konnte. Der Himmel lag in leuchtend reinem Blau über der Welt, die Rosen blühten, in dichtgedrängten Büscheln füllten sie alle Lücken des Laubwerks, im Grase zirpten die Zikaden, und die vier fröhlichen Menschen in der Laube paßten so gut in den sonnigen Sonntag hinein, daß man denken konnte, 99 die Welt sei eigens ihretwegen so schön und Werktag und Mühe liege irgendwo weit, weit dahinten.

Die Mutter war heut heiter, wie bei einem Fest, holte ihre Zither aus dem Haus und sang dazu ein Lied ums andere, und Manfred war es, als ob er hier zu Hause sei, schmiegte sich an sie, als ob er sich wärmen wollte, und sah von diesem sicheren Ort aus zu, wie Gian und Monio, die längst wieder Schuhe und Strümpfe ausgezogen hatten, im Gras vor der Laube Purzelbäume schlugen.

»Was?« sagte die Mutter, als Antonio gekommen war und Manfred zur Abendmahlzeit nach Haus geholt hatte, »was, ihr denket, er sitzt dem Glück im Schoße? Die Madonna in der Kirche hat das kleine Jesuskindchen auf dem Arm und schlägt den Mantel um seine Glieder. Aber wer hat Manfred auf dem Arm getragen, als seine Mutter ins Paradies kam, da er ein Kindchen war von drei Wochen? Wollt ihr wohl die Sonntagskleider in den Schrank hängen, ihr Schlingel, die ihr eine Mutter habt und bald, so der Herr will, daß das Geld reicht, ein eigenes Haus? Müßt ihr vielleicht in die Welt hinaus, wie er, der poverino? Vorwärts, ins Bett, und morgen, so die Sonne heraufkommt, geht ihr in die Stadt und holt das schmutzige Zeug im Hafenhotel, das eure Mutter waschen wird, ihr Faulpelze ihr, meine beiden Liebsten!«

Da läutete das Glöckchen in der Kapelle drüben, und drinnen in der Stadt fing es an zu läuten, und viele, hohe und tiefe Glockenstimmen riefen, daß es Zeit sei, zu beten.

Und die Mutter hielt inne in ihrem liebkosenden Schelten, und alle drei falteten sie die Hände und dachten des Segens Gottes, der über Land und Meer dahingehe und alles Geschaffene in seinen Schutz hülle, da nun die Nacht ihren dunklen Mantel ausbreitete.

100 Vielleicht sprechen sie andere Worte dazu als du und ich. Aber Gottes Segen wird alles zu finden wissen, das in Einfalt die Hände ausreckt, um sich segnen zu lassen.

Wie der Sommer dahinging! Wie die Sonne über dem Land stand und über dem Wasser! Es war heiß am Tage und warm in der Nacht. Wenn die Sonne hinunterging am Abend, kamen die Sterne heraus, groß und leuchtend, zu Hunderttausenden. Dann rauschte das Meer in der nächtlichen Stille, und in den Bäumen sangen die Nachtigallen, und auch die Nacht war schön, wie es der Tag gewesen war.

Manfred genoß seinen freien Sommer, wie nur ein glückliches Kind tun kann. Es kam etwas dazu, das war an sich nicht erfreulich, aber es machte, daß Manfred in Freiheit lief wie ein Eichkätzchen im Wald.

Das war: der Großonkel, der alte Herr, wurde krank und brauchte viele Pflege. Da war Antonio selten an seinem Platz unter der Stalltür zu finden, und Gigia hatte den Kopf voll nötiger Dinge und konnte sich nicht besinnen, ob der junge Herr sich standesgemäß betrage. Der Lehnstuhl mit der Großtante aber stand im Zimmer, wo die Vorhänge herabgelassen waren und Eiskübel zur Kühlung standen. Manfred erschien pünktlich zum Essen, täglich sonnverbrannter, immer ein bißchen schmutzig und immer seelenvergnügt, aß mit Hunger, fragte, wie es dem Onkel gehe, und – verschwand bis zur nächsten Mahlzeit. Ja, was da alles dazwischenlag! Da müßt ihr die Fische fragen draußen im Golf von Genua, mit denen die drei um die Wette schwammen und tauchten. Und die Barkenführer, die an der Hafenmauer standen und rauchend warteten, bis Fremde kämen, die fahren wollten, und denen die drei nicht nur einmal im Handumdrehen das 101 Boot losketteten und jauchzend hinausruderten zwischen den Schiffen hindurch, bis aufs offene Meer. War das ein Glück! Wann sie wiederkamen, wetterten die Bootsleute, was das Zeug halten wollte, und einmal nahm einer Monio übers Knie und gab ihm einen Denkzettel, indes die beiden andern um die Ecke schlüpften und zusahen, was da werden wolle. Aber es war selten einer im Ernst böse. Die drei waren eine so vergnügte Gesellschaft, und eines Tages brachte Manfred eine ganze Traglast von Tabakspäckchen, für die er all sein Taschengeld hingegeben hatte, und verteilte sie an der Hafenmauer entlang. Da schlugen sich die braunen Gesellen beifällig aufs Knie und stopften die Pfeifen und füllten die Luft mit großen Rauchwolken und sagten, daß der mit den blauen Augen ein benedetto – ein gesegneter Junge – sei.

Ja, und das sagten sie auch noch, als die Geschichte passierte, die ich jetzt erzählen will. Sie bildete so ziemlich den Schlußstein des Sommers, und wenn ihr Gigia fragt, so wird sie beträchtlich mit dem Kopf nicken und sagen, daß es allerhöchste Zeit gewesen sei, »dem Ding« ein Ende zu machen, da man nicht wissen könne, was sonst noch aus dem jungen Manfred geworden wäre. Wir wissen, daß sie mit »dem Ding« die Bubenfreundschaft meinte, die von Anfang an ihren grauen Kopf mitsamt der Haube so stark ins Schütteln gebracht hatte.

Also das war so: »Es war ein Samstagabend gewesen, an dem hatte das tönerne Schwein die Silberlira nicht mehr fressen wollen. Sie hatten es gerüttelt und geschüttelt, aber die Silberlira war im Schlitz auf dem Rücken steckengeblieben. So stand es fest: das Schwein war ganz und gar vollgepfropft mit Silberstücken, und der Augenblick war da, an dem es in Stücke gehen sollte. 102 Sie standen miteinander um den steinernen Tisch her, und auf dem Tisch, da stand das Schwein, und Monio sagte (und es verschlug ihm die Stimme, so feierlich war der Augenblick): ›Mutter, so um tausend herum mögen drin sein.‹ Er meinte aber tausend Lire damit, und es hätte müssen freilich ein großes Schwein sein, wenn so viele in seinem runden Bäuchlein Platz gehabt hätten. Aber kostete nicht das Häuslein achthundertundfünfzig Lire? Und hatten sie nicht seit undenklichen Zeiten jeden Samstagabend, der kommen wollte, eine Lire in das Schwein gesteckt? Es mußte eine Unmenge Geld darin stecken. Und dann geschah ein Stoß und ein Krach, und es lag auf dem Tisch die ganze Bescherung. Braune, glänzende Scherben, ein Kopf mit zwei kleinen Äuglein, ein rundes Ringlein, das war der Schwanz, und die Füße, und der zerschlagene Leib, und dazwischen lag es schimmernd, harte, runde, glänzende Silberstücke. Und jedes Silberstück war aus vielen fleißigen Stunden heraus sauer erarbeitet.

Da standen sie und staunten, Angiolina, die Mutter, und ihre beiden barfüßigen Schelme, und Manfred stand auch dabei und staunte mit. Dies hier war ganz anderes Geld als all das viele, das er so gelegentlich zu sehen bekam, beim Vater oder drüben in dem weißen Hause. Er hatte sich nie besonders für Geld interessiert; aber das hier war ganz anders. Ob es reichte? Es war Manfred so gut wie den andern, als ob das so ganz und gar nicht anders sein könne.

Und dann zählten sie und legten lange Reihen auf die steinerne Tischplatte und zählten wieder und wieder, und die Mutter holte noch aus dem Grund der Truhe ein leinenes Beutelchen herauf, das enthielt fünf Goldstücke, und sie legte das Gold mitten auf den Tisch und 103 sagte, daß es hundert Lire wert sei. Aber sie mochten zählen, wie sie wollten, es kam nicht mehr heraus als fünfhundertundzwanzig Lire, und obgleich das eine Unsumme Geldes schien, so reichte es doch lange nicht hin, um das Häuschen zu kaufen. Und das legte sich wie lähmend auf alle vier. Nun war doch alles richtig zugegangen bis jetzt, ganz wie sie es sich ausgedacht und vorgenommen hatten, und nun stimmte das nicht. Sie wußten im Augenblick nicht weiter. Denn das tönerne Schwein, das war zerschlagen, wie sollte es nun in Zukunft zu halten sein? Darüber mag lachen, wer will.

Sie hatten nicht gerechnet, das war alles. Sie waren Kinder, alle miteinander. Die Mutter war auch eins gewesen; sie war ebenso erschrocken als die drei Buben. Aber dann gab sie sich einen Ruck. ›Also, das ist nichts gewesen,‹ sagte sie. ›Ich hab's gleich gesagt, beim Händler schon, ich hätte das allergrößte Schwein nehmen sollen. Er hatte eins, das war wie eine junge Katze so groß. Madonna! Es dünkte mich sündhaft, solch ein großes zu nehmen. Eine arme Wäscherin! Aber seht ihr's, nun reicht es nicht. Wollt ihr wohl andere Gesichter machen? Seid ihr Waisenkinder oder wie? Ich kaufe das große Schwein, das allergrößte, und dann geht's weiter. Tragt die Scherben zusammen; hinaus damit. Das Geld, das kommt in einen Strumpf, bis das neue Schwein da ist.‹

Da waren sie alle wie erlöst. Ja, ja, das war das Richtige. Das Schwein war zu klein gewesen, das war alles. Was denn für Not? Man kaufte ein größeres und machte weiter wie bisher; es war weiter nichts umzudenken, man mußte nur etwas länger warten.

– Ja, aber das Warten, das war so eine Sache. Es ist nicht jedermanns Ding. Gians und Monios Ding war 104 es auch nicht. Der Plan mit dem Hauskauf bestand schon, seit sie denken konnten. Der große, feierliche Moment, in dem die Sparbüchse zerschlagen und die Silberlire gezählt und die Kaufsumme rund und voll auf dem Tisch liegen würde, der Moment, in dem die Mutter das blauseidene Tuch umlegen und das Geld in die Schürze nehmen und hinübergehen würde in das weiße Haus zum Padrone und vorne am Gittertor läuten – der stand schon allzulang flammend deutlich vor den Augen der kleinen Familie, als daß es so ganz leicht zu ertragen gewesen wäre, ihn wieder so weit hinausgerückt zu sehen.

Konnte man nicht machen, daß es ein wenig schneller ginge? Die Mutter dachte nicht daran. Sie stand wieder an ihrem Waschzuber wie sonst, sang, wenn's gut ging, schalt ein weniges, wenn's nötig war, und lachte von weitem wenn Manfred kam, der povero bambino, dessen Vater nächstens wiederkommen wollte, ihn abzuholen, weiß Gott, wohin. Sie hätte ihn am liebsten behalten. Der Maisbrei und die Gemüsesuppe und die Makkaroni am Sonntag hätten auch für drei gereicht. Hatte sie nicht ein Bübchen im Paradiese, das jetzt so groß wäre wie er? Und hätte sie nicht ihrer drei erzogen, so es Gottes Wille gewesen wäre?

Manfred aber hatte ein Geheimnis mit Gian und Monio. Sie wollten der Sache ein wenig auf den Leib rücken. Konnten sie nicht schwimmen und tauchen wie der Meermann, von dem die Mutter erzählte? Und kamen nicht genug Schiffe in den Hafen von Genua, und die Leute standen auf dem Verdeck und sahen ins Meer und an den Strand? Oh, da mußten doch Soldi genug zu verdienen sein. Angiolinas Buben durften nicht betteln, die Mutter hatte es streng verboten. Aber das, was sie 105 tun wollten, war nicht gebettelt, das war ehrlich gearbeitet. Es kam ein Vergnügungsdampfer von Portofino her. Musik ertönte auf dem Hinterdeck, und vorne saßen unter weißen Zelttüchern die Passagiere. Das Meer schien ganz mit dem blauen Himmel zusammenzufließen, und weiße, lichte Wolken spiegelten sich darin. Es war ein Tag voll Licht und Sonne. Aber daran dachten die zwei braunen Buben nicht, die links von der Landungsbrücke ihre paar Gewändlein ablegten wie eine zerrissene vertrocknete Eidechsenhaut und sich jauchzend ins Wasser stürzten. Sie dachten jetzt gerade nur ans Geschäft. Heidi, wie das ging! Wie sie die Wellchen, die kleinen Uferwellchen, plätschernd teilten und hinausschwammen, bis wo in der blauen Flut das weiße Schiff gefahren kam.

Da regten sie ihre glänzend bräunlichen Glieder, schossen lachend kopfüber in die Tiefe und kamen pustend und blinzend wieder in die Höh'. Wie die Fische taten sie, die schnalzend aufspringen an schönen Sommerabenden und dann wieder untertauchen in ihr kühles Hans.

Die Passagiere oben auf dem Verdeck hatten denn auch ihr helles Vergnügen daran. Helle Kleider und lachende Gesichter drängten sich über die Brüstung. Und die Soldi, die großen italienischen Kupfermünzen, flogen klatschend ins Wasser, und flink wie die Schwalben, die im Flug die Mücken fangen, schossen die Bübchen hintendrein, hinunter in die Tiefe, und die sinkenden Stücke erhascht, eins ums andere. Da und dort war eine halbe Lira darunter, wenn ein Reisender so recht seine Freude an den flinken Kerlchen hatte.

In den Mund schoben sie's, bis sich die runden Wangen spannten über der Beute, und stolz und froh kamen sie ans Ufer, wo Manfred bei den Schiffern stand 106 und von einem Fuß auf den andern trat vor Ungeduld. Und hinein in das bißchen Zeug, und in eine Ecke geflüchtet, und zu dreien das Geld gezählt. Sie schoben's in eine Mauerritze, droben an der Gartenmauer des Padrone, dort mochten's die Eidechsen hüten, bis mehr dazukam.

So ganz leicht war's nicht, es ganz und gar zu sparen. Was hatte Donna Cäcilia, drunten an der Piazza Cristofero Colombo, die alte Freundin der Buben unter dem weißen Zeltdach, was hatte sie für köstliche Dinge zu verkaufen. Den Buben wässerte der Mund danach. Aber sie waren stramme Jungen. Sie schluckten leer und schluckten das Gelüste hinunter. Es mußte auch so gehen.

Manfred schwoll das Herz vor Lust am Mittun. Er dachte nicht daran, daß er ein goldenes Zehnlirestück in seinem Beutel daheim habe und daß er es zu dem wichtigen Zweck opfern könne. Dies hier war anderes Geld. Es war eine jauchzende Lust, es zu verdienen. Und er wollte nicht mehr am Strande stehen und zusehen. Ja, und dann kam der Tag, von dem ich eigentlich erzählen wollte. Er war blau und warm, und es war September, und von draußen herein kam ein Schiff, ein großer Dampfer. Und Gian und Monio gaben ihren leeren Waschkorb in seine, Manfreds, Hut und plätscherten schon in den Wellen.

Nein, nun wollte er nicht länger hier stehen wie die Bootsleute und Lastträger. Er wußte nicht, wie ihm geschah, aber plötzlich hatte er es den andern nachgetan. Dort, am Ufer, an dem Brückenpfeiler, lagen seine Kleider, und da, in der lauen Flut, schwamm ein kleiner Junge mit weißen Gliedern und braungebranntem Gesicht und Händen. Und steuerte hinter den beiden andern drein, 107 die einen kühnen Bogen machten, um an den Wellen vorbei, die das Schaufelrad aufwarf, und an die Seite des Schiffs zu kommen: ›Heia, holla, Soldi, Signore!‹ Sie riefen es zu dritt und im Eifer immer lauter, und da flogen auch schon die schweren Stücke herunter. Manfred tat mit, als ob er sein Leben lang nach Kupfermünzen getaucht wäre. Da ließ ihn eine bekannte Stimme aufhorchen. ›Na aber, da hört alles auf. Manfred, Junge, bist du das?‹ Und da stand sein Vater und lehnte sich über die Brüstung und schwenkte den mächtigen Hut und sagte zu einer Dame, die neben ihm stand: ›Nun sieh, Elisabeth, so empfängt er dich! Es war hohe Zeit, daß wir kamen.‹ Manfred wußte sich nicht zu helfen vor Verlegenheit. Er konnte nichts sagen, er hatte seinen Tauchergewinn im Mund, und er fühlte, wie ihm das Blut in Wellen ins Gesicht schoß. Er machte, daß er davonkam, das war alles, was er tun konnte. Da war nun sein Vater! Manfred hing an ihm, aber, die Wahrheit zu gestehen, er hatte nur selten an ihn gedacht, die letzte Zeit daher. Nun war er unerwartet früher gekommen. Und was war das für eine Dame? Sie hieß Elisabeth, und es sei hohe Zeit, daß sie komme, hatte der Vater gesagt. Manfred machte, daß er in die Kleider kam, und da stand er, als die Reisenden über die Landungsbrücke schritten, ziemlich braun, ein bißchen schmutzig von Gewandung und sehr verlegen, als die fremde Dame ihn lachend küßte. ›Ich habe dir eine Mutter mitgebracht,‹ sagte sein Vater; ›aber ich weiß nicht, ob sie dich jetzt haben will, so einen italienischen Strandräuber.‹ Aber er sah dabei aus, als ob ihn etwas von innen heraus stark erheitere, und die neue Mutter faßte Manfreds Hand, als ob da kein irgendwelcher Zweifel bestehe. Da wuchs dem Jungen schnell der Mut. Eine 108 Mutter, das wollte er gern, er hatte wohl gesehen, wie es sei, wenn man eine habe, und er winkte mit großer Selbstverständlichkeit die beiden Kameraden heran, die sich in einiger Entfernung herumdrückten. Und darauf erfuhr der Vater die ganze Geschichte. Da nickte er sehr ernsthaft: ›Natürlich muß man zusammen helfen bei so etwas. Ich hoffe nur, man läßt mich da auch mittun. Das tönerne Schwein, das müssen wir auch klirren hören, nicht Elisabeth?‹ Sie war sehr einverstanden damit, und nun mochte Gigia sich lang entsetzen, Manfred fürchtete sich kein bißchen mit solchen Bundesgenossen!

Ja, und nun kam des Ende des Sommers. Es drängte sich noch vieles in die letzten Tage zusammen, so, wie es auf diesem letzten Blatt zusammendrängt. Man kann es nur leider nicht alles erzählen. Wie Manfreds Vater entdeckte, daß ihn eine alte Kinderfreundschaft mit Angiolina, der Wäscherin, verbinde, und wie sie alle drei, die Eltern mit dem Sohn, in das Häuschen hinübergingen und das tönerne Schwein zum Klirren brachten, nur weil Manfred nicht glaubte abreisen zu können, ehe der große Augenblick kam, an dem Angiolina im Sonntagsstaat an der Gitterpforte läuten und das Geld in der bunten Schürze tragen würde, das ihr und ihren Buben das niedrige Dach, unter dem sie wohnten, zu eigen gab. Und wie dieser Augenblick denn auch erschien und den Abreisetag versüßte, für die Reisenden und für die, die dablieben.

Das liegt nun alles weit dahinten. Vielleicht kennt einer oder der andere unsern Manfred. Er ist ein großer, freundlicher, lustiger Junge. Und er geht mit dem Bücherpack unter dem Arm in die Schule.

Neulich sah ich ihn, da kniete er auf dem 109 Straßenpflaster und half dem Bäckerjungen seine Brezeln auflesen. Den hatte ein großer Hund umgerannt, und er war gar sehr erschrocken. ›So,‹ sagte Manfred, und gab ihm den Korb auf den Kopf, ›jetzt heißt's laufen, sonst komm' ich zu spät,‹ stäubte sich ab und rannte um die Ecke. Und ich dachte mit Vergnügen, daß man doch nie wissen könne, was alles in so einem herrenlosen, sonnigen, schulfreien Sommer zu lernen sei, wenn man das Zeug dazu habe.« 110

 


 


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