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Das Meer lag still im Glanz der Mittagssonne, und der Himmel über dem Meer stand so hoch und weit und tiefblau, als ob es noch nie etwas wie Wolken gegeben hätte in seiner unermeßlichen Weite. Leise nur, wie träumend, kamen die Wellen ans Ufer von Portofino her und schlugen mit sanftem Gesang an die felsige Küste an. Sonst kein Laut, auch das Städtlein schien zu schlafen, so viel man davon vom Ufer aus sehen konnte: die weiße, glänzende Kirche auf der Anhöhe, und die Villen, die da und dort zwischen hohen, dunkelgrünen Bäumen versteckt lagen, das Schloß mit seinen vornehmen Zinnen und Türmen, das weit übers Meer hinaussah, und die großen, weiten Gärten und Weinberge, die alle im hellen, heißen Schein der Sonne lagen. Weithinaus lag auch das Meer so blau und ruhig, es war, als ob es schlafe.
Da kam von ferne her mit hellen, fröhlichen Wimpeln ein Dampfer gezogen. Eine breite, silberne Furche ließ er hinter sich, wenn die Fluten, die er geteilt hatte, sich wieder zusammenschlossen. Fröhliche Musik von Flöten und Geigen erschallte auf dem Verdeck, und eine bunte, heitere Gesellschaft regte sich im Tanz nach den Klängen oder stimmte singend mit ein: festlich gekleidete Frauen und Mädchen und Männer. Es war eine Gesellschaft aus Genua, die sich heute einen frohen Tag machen wollte.
223 Nun fuhr das Schiff in die stille Bucht ein, und dann belebte sich zusehends das schlafende Städtchen. Es hatte aber nicht überall geschlafen. In den engen Gassen und auf dem Marktplatz saßen überall fleißige Frauen und junge Mädchen vor den Türen und klöppelten schöne Spitzen, Decken und Tücher, die sie nachher für gutes Geld an Fremde verkaufen wollten. Schwarzlockige Kinder spielten um sie herum, und als sie die Gäste sahen, die nun vom Strand heraufkamen, liefen sie ihnen lärmend nach und bettelten ihnen kleine Geldstücke ab. Das ist dort unten nichts Besonderes, es ist ihnen wie eine Steuer, die die Reisenden zahlen müssen dafür, daß sie dahin kommen dürfen, wo es so schön ist.
Vor einem schmalen, hohen steinernen Haus saß eine Frau, die auch klöppelte wie die andern. Neben ihr stand ein Kinderwagen, aus rohen Brettern zusammengenagelt, darin saßen gleich zwei bräunliche Buben, ein zweijähriger und ein einjähriger. Sie spielten mit Steinchen und Muscheln, wie man sie am Strande findet, und horchten daneben auf das Lied, das ein paar größere Geschwister miteinander sangen, die lustige, schwarzlockige Marietta und der um ein weniges ältere Manuelo. Die beiden hatten nicht mitgebettelt, die Mutter litt es nicht, sonst wären sie schon auch gern mit den andern Kindern hinter den Fremden hergelaufen mit lustigem Schreien. Die Mutter war ein wenig anders als die Frauen da herum. Das machte, daß sie jahrelang in der Fremde gewesen war, da hatte sie vieles gesehen und gelernt, das man draußen anders machte. Und das, was ihr davon gefiel, das setzte sie nun zu Hause fort. Sie hielt auch das Haus und die Kinder so sauber, daß man überall hinsehen durfte, es war alles erfreulich anzuschauen. Die Vorderseite des 224 Hauses war mit einem uralten Rosenstrauch fast ganz übersponnen; da hingen nun die weißen Rosen in dichten Büscheln herunter, in alle Fenster hinein und über die Mauer hin, und noch eine ganze Welle davon hing über die Türöffnung herunter. Hinter dem Haus aber da war ein Garten, der zog sich bis an den Strand hinunter in staffeligen Absätzen. Da ragten ein paar hohe Nußbäume auf und nahmen das ganze Haus in die Arme mit ihren dichten, grünen Ästen, und dann kamen die schönen Gemüsebeete, aus denen die Mutter viel Geld löste in den Hotels, und die farbig blühenden Blumenrabatten, in denen es schimmerte und leuchtete von dunkelroten, gelben und rosafarbigen Nelken, von Rosen auf hohen Stämmen, und dazwischen standen, wie ernst aufgehobene Finger, die schlanken, dunkeln Zypressen.
Wie die Mutter das alles fertigbringen konnte, das Haus und die Kinder und den Garten, und noch Spitzen klöppeln zum Verkauf, das machte immer alle Leute staunen, und das gefiel ihr nicht übel. Sie sollten es nur sehen, daß der Mann nicht schlecht gefahren sei mit ihr, wenn sie schon nicht von Portofino gebürtig und lang in der Fremde gewesen war.
Jetzt war die fröhliche Gesellschaft vorbeigezogen, und es war wieder in der Gasse wie vorher, da kam noch eine schwarzgekleidete Frau vom Landungsplatz her. Sie schien nicht zu den festlichen Leuten zu gehören, so sah sie nicht aus. An der Hand führte sie ein kleines Mädchen, es konnte ungefähr neunjährig sein, das hatte ein weißes Kleid an und eine schwarze Schärpe darum geschlungen, und unter dem großen Strohhut fielen lange, hellbraune Locken auf das Kleid herab, und ein frisches, weiß und rotes Gesichtlein sah fröhlich in die Welt hinein. Hinter 225 den beiden drein kam ein Lastträger, der trug einen schweren Koffer auf den Schultern und keuchte ein wenig dabei. Nun stellte er den Koffer unversehens vor dem Rosenhaus nieder und sagte gelassen: »Da sind wir am Platz. Das ist die Frau Manzoni, und wenn die euch aufnimmt, dann seid ihr nicht schlecht aufgehoben. Das weiß man in der Stadt und im Hotel drunten.« Frau Manzoni nickte sehr einverstanden zu diesen Worten, als wolle sie sagen: Der da ist recht berichtet, wenn er von mir redet. Jetzt fing die fremde Frau auch an, zu reden. Sie sagte, daß sie eine Wohnung suche mit guter Verpflegung für sich und das Kind für einige Monate; große Ansprüche mache sie nicht, es müsse nur ein stilles, freundliches Plätzchen sein zum Ausruhen, denn sie sei krank gewesen und habe Schweres durchgemacht.
»Da ist die Dame vor die rechte Tür gekommen,« sagte Frau Manzoni wohlgefällig. »Heute noch hab' ich's zu meinem Mann gesagt – er ist draußen auf dem Meer mit den Fischern –, Giovanni, hab' ich gesagt, wie im Paradiese ist's droben in den zwei Stuben, die ganz neu gerichtet sind. Da sehe die Dame nur,« und sie führte die Fremde unter dem Rosenvorhang durch ins Haus und hindurch in den Garten, »es führt ein Treppchen von droben herunter direkt in den Garten, und vom Fenster aus sieht man das Meer, fast mit der Hand kann man's greifen. Und was das Essen betrifft, da lasse die Dame nur Maria Manzoni sorgen, die wird schon« – sie wurde in ihrem Redestrom unterbrochen durch den lauten Jubel, in den das kleine Mädchen ausbrach: »Mama, o sieh, wie schön! Das Haus sieht man fast gar nicht, es ist mit lauter Rosen überzogen. Müssen wir da oben schlafen, Mama, da, wo das Treppchen 226 hinaufgeht? Soll ich gleich hinaufgehen und sehen?« »Das Kind hat Augen im Kopf, das sieht's, was schön ist,« sagte Frau Manzoni kopfnickend. »Es kann ihm auch gefallen hier, man darf ihn ansehen, den Garten, mein' ich.« Die Mutter des Kindes sagte nicht viel zu dem allem. Sie hatte ein liebliches, aber blasses Gesicht und sah müde aus, so, als ob sie Ruhe und ein Weilchen ungestörte Einsamkeit allem andern vorgezogen hätte. So stieg sie nur hinter der voranschreitenden Hausfrau drein. Das Kind hüpfte voraus und tat fortwährend Ausrufe des Entzückens bei allem, was es sah. »Mama, o Mama, da hängt ein Schiff von der Decke herunter, ein ganz echtes, es ist wie lebendig, es ist wie das, mit dem wir gekommen sind. Oh, oh, und der Fußboden ist von Stein, Mama, und das sind geflochtene Teppiche, aus Binsen, Mama.« Es war alles schön und gut, die Frau Manzoni mußte fortwährend mit dem Kopf nicken vor Vergnügen über das Kind; nun zog sie sich zurück, um gleich etwas zu kochen für die beiden Reisenden, daß diese sehen konnten, sie seien hier bei ihr vor die rechte Tür gekommen.
Nun packte die Mutter einiges aus, das sie in einer kleinen Handtasche bei sich trug, da der große Koffer noch nicht heraufgekommen war, ein paar Bücher und ein wenig Schreibgerät und ein blaues Schürzchen für das Kind. Zu unterst nahm sie ein Bild in schwarzem Rahmen heraus, das sie in ein Tuch gewickelt hatte, und stellte es auf das Tischchen zwischen den beiden Fenstern. Es war ein schönes, freundliches Männergesicht, das um den Mund und die Augen her etwas so Sonniges, Heiteres hatte, daß man es immer wieder anschauen mußte.
227 »Sieh, Agnes, da sind wir nun eine Zeitlang daheim miteinander,« sagte sie, »und ohne unsern lieben Papa. Er hat immer die Reise mit uns machen wollen, er hat so oft gesagt, wie wunderschön es hier sei. Nun hat er uns ganz allein gelassen und hat eine andere Reise gemacht, in den Himmel hinauf.« Das Kind hatte aufmerksam zugehört, aber nun sagte es schnell, als ob es etwas Ungutes wegschaffen müsse: »Ganz allein sind wir auch nicht, Mama. Du hast doch mich und ich dich, und wenn der Papa immer gesagt hat, daß es schön sei hier, so kann man das jetzt auch sehen, nicht, Mama, es ist auch schön? Sei du nur ganz fröhlich, Mama, du hast doch immer gesagt, der Papa könne ganz gut vom Himmel heruntersehen, wie wir's haben.« Agnes hatte das gleiche helle, heitere Gesicht wie der Vater, und die Mutter wollte es nicht trüb machen durch ihren Schmerz. So zwang sie sich, freundlich zu sagen: »Willst du ein wenig in den schönen Garten hinuntergehen, Kind? Vielleicht gibt dir die Frau ein paar von ihren Blumen, die stellen wir dann zu unsres Papas Bild hin, dann ist die Stube ganz schön.«
Das war nun so recht nach Agnes Geschmack. Sie brannte vor Begierde, alles das Neue zu sehen, das es da unten gab, und auch mit den Kindern Bekanntschaft zu machen, die sie vor dem Haus gesehen hatte. So sprang sie fröhlich das hölzerne Treppchen hinunter, das außen am Haus in den Garten hinunterführte, und die Mutter sah ihr nach, bis sie hinter einer Hecke von Taxusgesträuch verschwunden war. Jetzt erst durfte sie sich ein wenig nachgeben. Sie setzte sich in den Korbstuhl, der an dem einen Fenster stand, und sah lang hinaus über das weite Meer und den hohen Himmel, und eine große, 228 große Sehnsucht stieg übermächtig in ihr auf, dort hinauszuschiffen, weit, weit. Aber sie wußte schon, dorthin, wo ihr Herz hinwollte, führte kein Schiff. Das konnte man nur durch Warten erreichen, nicht durch Drängen und nicht durch Reisen. Fern am Horizont zog ein Schiff seine ruhige Bahn. Leise sagte sie:
»Ich zöge gar zu gern hinaus,
Ins große, weite Vaterhaus,
Doch halt in Seiner Kraft ich still,
Bis Er, bis Er mich lösen will.«
Derweil hatte Agnes ihre Entdeckungsreise angetreten. Drunten im Garten standen schon Manuelo und Marietta auf der Warte, ob sich nun etwas Neues ereignen werde mit den Fremden. Sie hatten nicht lange auszuschauen gehabt, da stand schon das kleine Mädchen vor ihnen. Es hatte nun die blaue Schürze über das weiße Kleid angezogen, und die Locken flogen ihm beim raschen Gehen ums Gesicht.
»Gehört euch das alles, der Garten und die Blumen und das Haus?« fing Agnes an. Aber darauf konnten die beiden nicht antworten. Sie verstanden schon ein paar deutsche Worte, aber nicht sehr viele, so schnell ging das nicht. »Wie heißt ihr denn?« Das verstanden sie so ungefähr. »Das ist Manuelo, und ich bin Marietta,« sagte das Mädchen. Ja so, nun fiel es Agnes wieder ein, wie sie hier reden mußte, die Mama hatte ihr italienische Stunden gegeben eine Zeitlang vor der Reise. Sehr viel war aber auch nicht erreicht worden. »Meine Mama kann gut so reden, wie man hier redet, sie ist einmal in Rom gewesen, schon lang, da habe ich noch nicht gelebt.« So, nun ging es schon besser. Sie halfen 229 einander gegenseitig aus. »Die Mutter kann auch Deutsch,« sagten sie. »Gut kann sie's. Sie mag es nur nicht gern, der Vater will's nicht hören von ihr. Er sagt: ›Du bist eine Italienerin, das andere mußt du vergessen.‹« »Warum muß sie es vergessen?« wollte Agnes wissen. »Weil der Vater lieber wollte, daß sie gar nicht fort gewesen wäre.« »Warum wollte er das lieber?« »Weil er sie immer bei sich haben wollte, sein Leben lang, und weil er so lang warten mußte, bis sie wiedergekommen und seine Frau geworden ist, und weil sie die Katharina mitgebracht hat. Das ist eine Häßliche und eine Dumme und eine Faule.« Das erzählte Marietta alles hintereinander, ohne abzusetzen, und nun sah sie den Bruder an, daß der auch etwas sagen sollte, denn nun hatte sie genug geredet. Manuelo nickte aber nur stark mit dem Kopf, denn es schien ihm nun alles gesagt zu sein. Aber nun war Agnes erst recht begierig geworden. »Warum hat sie sie mitgebracht? Wo ist Katharina? Ist sie so groß wie wir? Warum ist sie dumm und faul und häßlich?«
Sie sah sich suchend um, ob nicht irgendwo etwas ungeheuer Häßliches zum Vorschein komme, denn sie wußte eigentlich nicht recht, was das sei. Aber es kam nur ein Mädchen den Gartensteig herauf, das einen großen Korb voll Gemüse vor sich her trug. Es war viel größer als Marietta, und Marietta war die größte von den dreien, die beisammen standen. Das Mädchen sah anders aus, als die Leute dazulande sonst aussehen, es hatte glattes, rötliches Haar, das straff zurückgekämmt war, und hatte ein blasses, trauriges Gesicht. Über die Stirn aber und die linke Wange lief ein flammend roter Streifen, und der machte das Gesicht freilich nicht schön. »Ist sie das? Ist das die Katharina?« fragte Agnes. Es hatte leise 230 sein sollen, aber es war doch noch laut genug, daß es das Mädchen, das noch in der Nähe war, hören konnte. Agnes hatte im Eifer Deutsch gesprochen, und da wandte sich Katharina – denn sie war es wirklich – schnell um, und es stieg ihr eine helle Röte ins Gesicht. Dabei stieß sie aber stark gegen einen Baum, und dann ließ sie vor Schrecken den Korb fallen, daß alles, was darin war, Gurken, Rüben und Tomaten, auf den Boden fiel und fort rollte. »Oh, oh, seht, nun läßt sie alles fallen. Siehst du nun, daß sie eine Dumme ist? Kannst du den Korb nicht festhalten, Faule?« riefen die Kinder, und Katharina bückte sich in großer Verlegenheit, um alles wieder aufzusammeln. Agnes stand dabei, und es war ihr nicht recht wohl zumute. Katharina sah so traurig aus und redete kein Wort, und als sie den Korb wieder gefüllt hatte, ging sie ins Haus, ohne sich noch einmal umzusehen.
Ob wohl die Mutter oben am Fenster stand und zugesehen hatte? Agnes wußte wohl, sie hätte gern gesehen, wenn ihr Kind dem Mädchen geholfen hätte, die Früchte aufzusammeln, und sie hätte nicht gern gehört, was die andern sagten. Aber das Fenster war leer, und Manuelo sagte: »Sie ist immer so. Die Mutter muß das Deutsche mit ihr reden, sie kann nicht Italienisch lernen, sie ist zu dumm dazu. Dann schilt der Vater und sagt, sie solle nach Deutschland gehen, denn dort gehöre sie hin. Dann sagt die Mutter, nein, es ist der Schwester Kind, und ich habe es der Schwester versprochen, eh' sie gestorben ist, daß ich sie mit nach Italien nehme in die Heimat. Dann sagt der Vater: ›Wäre die Schwester nicht nach Deutschland gegangen und du nicht, dann wäre es anders.‹«
Marietta dauerte der Bericht zu lang. Sie war 231 schon vorausgelaufen, hinunter den Staffelweg, der auf den langen, niedrigen Uferklippen endigte. Nun rief sie von drunten herauf: »Kommet hierher, es ist ein Seestern da, den haben die Wellen hereingeworfen, er lebt noch.« Und die beiden liefen ihr nach, um die Merkwürdigkeit zu besehen, und für jetzt war Katharina und ihre Geschichte vergessen.
Nun waren die beiden, die Mutter und das Kind, schon wochenlang in dem Hause mit dem weißen Rosenüberzug.
Das Kind hatte nicht lang gebraucht, um sich völlig einzuleben. Es machte reißende Fortschritte im Italienischen und die Manzoniskinder im Deutschen. Sie waren fast beständig miteinander im Freien. Agnes blühte wie ein Röslein, das sah die Mutter mit stiller Freude. Sie war jetzt auch viel mit den Kindern zusammen. Denn wenn sie auch am liebsten stundenlang drunten auf den Uferklippen saß und über das Meer hinaussah, so wollte sie doch nicht mehr nur an sich und ihr großes Leid denken, wie sie es in der langen Krankheitszeit hatte tun müssen. Sie wollte gern das Leben, das nun vor ihr lag, ausfüllen mit Arbeit und mit Liebe, so gut sie konnte. Nun fing sie damit an, mit den Kindern Lieder zu singen und auf ihre Spiele und Reden zu achten. Frau Manzoni freute sich, daß die blassen, schmalen Wangen der fremden Frau sich ein klein wenig röten wollten. »Versteht sich,« sagte sie zu den Nachbarinnen, »ich pflege sie aber auch gut. Ah, der Mann, wenn er heimkommt, schnalzt nur mit der Zunge, so gut riecht es von der Küche her.« Und die Nachbarinnen zogen die Nasen in die Höhe, ob nicht der Duft bis her zu ihnen dringe. Sie sahen alle gern nach der deutschen Frau, 232 wenn sie durch die Gasse ging. Sie hatte ein so freundliches Grüßen für Große und Kleine, und obgleich sie den bettelnden Kindern nie eine Münze gab, legten sie doch alle gern ihre braunen Händlein in die feine, weiße Hand von Manzonis Signora, wie sie sie alle hießen – unter sich. Eine war, die hing mehr als alle andern an dem lieblichen Gesicht der Signora. Das war Katharina, deren leb- und freudeloses Wesen der mütterlichen Frau gleich ins Herz gegangen war. Von Agnes hatte sie das Urteil der Manzonikinder erfahren, und seitdem hatte sie ein liebevolles Auge auf Katharina gehabt. Eines Tages hatte diese die Treppe gefegt, als die Signora nach Hause kam und hinaufsteigen wollte. Da hatte sich das Mädchen ganz nah an die Wand gedrückt und sein Gesicht recht in den Schatten gerückt, denn so tat sie es immer, wenn jemand kam. Aber die Signora war nicht gewillt, nur so vorüberzugehen. »Komm, komm,« sagte sie, »du brauchst dich nicht so wegzudrücken, wir haben beide Platz nebeneinander. So sieh mich doch nur einmal an, Kind.«
Aber Katharina drückte sich nur noch fester an die Wand und hielt noch die Hände vors Gesicht, und es war etwas so Angstvolles in ihrem Tun, daß es der mütterlichen Freundin ganz durchs Herz ging.
Sie wußte, jetzt durfte sie nichts erzwingen. So sagte sie nur freundlich: »Willst du mir nachher, wenn du mit der Treppe fertig bist, einen Krug frisches Wasser in mein Zimmer hinaufbringen? Sieh, ich habe so schöne Blumen, die müssen zu trinken haben.« Katharina drehte ein wenig den Kopf herum, dann fuhr sie schnell mit der Schürze über das Gesicht und sagte hinter derselben hervor: »Die Marietta muß. Ich darf nicht in das 233 Zimmer der Signora gehen, die Mutter hat's gesagt.« Sie hatte den Satz deutsch angefangen, dann war sie plötzlich erschrocken und hatte vollends italienisch fertig geredet, es war aber nicht so gut gegangen wie das Deutsche. »Du redest Deutsch?« fragte Frau Hiller, denn so hieß Agnes Mutter. »Und bist ein deutsches Mädchen? Aber die schwarzen Augen der Italiener, die hast du doch. Komm, nun mußt du dich nicht vor mir verstecken, denn wir sind ja Landsleute, die müssen zusammenhalten. Du sagst aber Mutter zu Frau Manzoni? Du wirst vielleicht ihre Pflegetochter sein, nicht?« Katharina hatte unter diesen Worten, die Frau Hiller auch in deutscher Sprache redete, wie in Gedanken die Schürze vom Gesicht getan und selbstvergessen in das liebreiche Gesicht der Signora gesehen. Jetzt ging wieder ein plötzliches Erschrecken über ihr Gesicht, und sie verhüllte es schnell und lief davon, wie gejagt. Frau Hiller hatte aber schon gemerkt, wie es mit dem ängstlichen Wesen beschaffen sei. So sagte sie am andern Tag zu der Frau Manzoni: »Wie ist's, könnte mir vielleicht das deutsche Mädchen, das Sie im Hause haben, von jetzt an hier und da die Dienste im Zimmer tun? Es freut sich vielleicht ein wenig, mit Landsleuten zusammen zu kommen, und ich freue mich auch über solche.« Aber da brach Frau Manzoni in ungeahnter Erregung los: »Ja, ja, wenn die Signora nur wüßte, was man mit dem Mädchen aussteht, dann würde sie seine Dienste nicht begehren. ›Gott hat es gezeichnet im Gesicht mit dem roten Mal, und vor solchen soll man sich hüten.‹ Das sagt mein Mann alle Tage, die Gott werden läßt. ›Du hättest es sollen in Deutschland lassen,‹ sagt er, ›und wenn es schon das Kind deiner Schwester, der leichtsinnigen Maddalena, ist, so hätte es, denk' ich, dort auch 234 noch Leute gegeben, die zu ihm gehören, auch wenn schon seine Eltern gestorben sind dort draußen.‹« Man sah es, Frau Manzoni mußte sich einmal Luft machen. Und so fuhr sie fort: »Vierzehnjährig ist nun das Mädchen, und neun Jahre hat es gehabt, als ich mit ihr durch den Gotthard fuhr. Madonna! hätt' ich's doch draußen gelassen; den Unfrieden hab' ich nun im Hause, und verstecken muß ich's mit dem Gesicht vor den Fremden. Wird es etwa besser? Schlimmer wird es, obgleich ich drei Kerzen geopfert habe auf dem Altar; sie lernt die Sprache nicht und ist störrisch wie ein Maultier und langsam wie eine Schnecke und scheu wie eine Fledermaus.«
So, nun hatte Frau Manzoni einmal ihr Herz ausgeleert, nun fuhr sie fort, Artischocken in Öl zu rösten, nun konnte die Signora tun, was sie wollte. Aber die Signora sagte nur: »So kann sie dann gleich heute abend anfangen und mir das Essen bringen. Es nimmt mich nicht so stark wunder, daß sie ein wenig scheu ist. Vielleicht wird das auch noch besser.«
Es war am Abend. Der Mond schien hell in das Zimmer, in dem Frau Hiller mit ihrem Töchterlein saß. Wenn man durchs Fenster hinaussah, konnte man den schönen Garten sehen, in dem die Bäume lange Schatten warfen, und in dem die Blumen matt beglänzt waren von dem geheimnisvollen Licht, und weiterhin das Meer, das flimmerte und schimmerte und dessen tausend Wellen blitzende Krönelein trugen. Und darüber stand der Himmel hoch und weit.
Die Mutter hatte dem Kind von seinem Vater erzählt, wie er so liebreich und so gut gewesen sei, und wie er für ein jedes ein freundliches, herzliches Wort gehabt habe. Es war ihnen beiden, als ob er unter ihnen sei. 235 »Mama,« sagte das Kind, wie aus einem Gedankengang heraus, »Mama, aber für die Katharina, hätte er da auch eins gehabt?« »Ach ja,« sagte die Mutter, »für sie ganz besonders. Er hat einmal gesagt: ›Vor denen, denen der liebe Gott ein besonderes Kreuz aufgelegt hat, müssen wir ganz besonderen Respekt haben. Denn aus denen will er etwas Schönes machen.‹«
Es klirrte etwas von unten her auf der Treppe. Es wurden stolpernde Schritte laut, die kamen langsam näher.
»Mama, hat er der Katharina ein besonderes Kreuz aufgelegt? Mama, aber er hat nichts Schönes aus ihr gemacht.« Agnes sagte es sehr dringlich, aber es war keine Zeit mehr, zu antworten; denn es pumperte ein Ellbogen gegen die Tür. Das sollte ein Anklopfen bedeuten, und als das Herein erfolgt war, da stand Katharina mit einem Brett beladen unter der Tür. Das Mondlicht floß in die hintersten Winkel des Zimmers, es schien auch auf das hilflose, verlegene Gesicht, das sich jetzt nicht verbergen konnte. »Soll ich die Lampe anzünden, Mama?« Aber die Mutter hatte einen guten Grund, ohne die Lampe auskommen zu wollen. »Komm nur da her, Katharina,« sagte sie. »Du mußt jetzt unser Mägdlein sein, wir wollen gern ein deutsches haben, so im fremden Lande. Sieh, ich will dir zeigen, wie man's macht, du kannst es bald, es ist nicht schwer.« Katharina sagte nichts. Das waren so ungeahnte Töne, die da zu ihr sprachen, und dazu das halbdunkle Zimmer, in dem man dann vielleicht nicht so deutlich sah, wie ihr Gesicht beschaffen sei. Das beides machte ihr ein ungekanntes Wohlsein. »Siehst du, wie nett du decken kannst. Und wie gut das alles riecht, was in den Schüsseln ist. So mußt du auch einmal kochen lernen, wenn du noch größer bist,« 236 sagte die Mutter. Da nahm das Mädchen einen großen Anlauf. »Die Mutter hat Zahnweh,« sagte es. »Ich habe die Makkaroni gekocht und die Tomaten.« Dann, als ob es selber erschrecke über seine große Kühnheit, nahm es schnell die Schürze vors Gesicht, denn nun hatte es die Hände wieder frei.
Aber es legte sich ein Arm um seine Schultern. Und eine liebreiche Hand zog die Schürze weg. »Nun mußt du dich nicht mehr vor uns verstecken, Katharina,« sagte die Signora. »Sieh, ich weiß, du meinst, du müssest es, weil du in deinem Gesicht etwas hast, das nicht alle Leute haben. Und weil du dann meinst, man könne dich nicht liebhaben, wenn man es sehe, darum bist du immer in Angst, und kannst gar nicht recht leben und lernen und arbeiten vor lauter Scheu. Nun sieh mich einmal an und glaube mir, was ich dir sage: das Mal in deinem Gesicht, das hat der liebe Gott gemacht, und er hat es gut mit dir im Sinn, das darfst du wissen. Jetzt hat er schon zu uns gesagt: ›Die Katharina, die habe ich ein wenig angezeichnet, daß du auf sie achten sollst, sonst siehst du am Ende gar nicht, daß sie da ist; du sollst sie aber liebhaben.‹ Und das tue ich auch, ich habe dich jetzt schon lieb.«
Das Mädchen machte seine großen, schwarzen Augen immer noch weiter auf, so, als ob sie das alles in sich hineintrinken wollte, was es da Gutes hörte. Es vergaß ganz für den Augenblick, daß es gar nichts Gutes an sich hatte, wie es so oft hören mußte. Ganz von ferne stiegen ihm Bilder auf aus den schönen Tagen seiner ersten Kinderjahre. Da war eine Frau gewesen mit schönen, schwarzen Locken und Augen, die hatte es auf dem Schoß gehalten und gesagt: »Povera piccola mia!« »Meine 237 arme Kleine.« Aber sie war dann fort gegangen, und dann war Katharina bei einer alten Frau gewesen, die hatte sie Ahne genannt. Die war auch gut gewesen, aber sie hatte oft gesagt: »Es ist eine Strafe von Gott, daß mein Daniel die schwarze Zigeunerin geheiratet hat.« Denn sie konnte Zigeuner und Italiener nicht gut auseinander halten. So war sich Katharina immer als etwas vorgekommen, das eigentlich gar nicht sein sollte. Dann war die schöne Mutter eines Tages wiedergekommen, und ihr Mann auch mit, der hatte rote Haare, wie das Kind auch. Sie waren aber beide krank gewesen und kurz darauf gestorben, und vorher hatte die Mutter, die immer an verzehrendem Heimweh nach Italien gelitten hatte, der Schwester, die auf einmal auch da war, das Versprechen abgenommen, daß sie das Kind mit nach Hause nehme und versorge. Denn die Ahne war altersschwach und konnte jeden Tag sterben, und dann hatte die »povera piccola« niemand, der sich um sie annahm.
Das alles ging ihr jetzt durch den Sinn. Draußen in Deutschland, da hatte sie doch manches Gute erfahren, auch von der Ahne trotz ihrem Seufzen. Hier aber, in dem schönen Lande, da war sie immer fremd geblieben. War es, weil die Menschen hier und ihr Land und alles, worauf ihr Auge fiel, selber so schön waren? Hier war es immer wie eine Sünde, daß sie war, wie sie war. Und nun kam die Signora und sprach auf deutsch so gute Worte und hatte ein so liebreiches Gesicht. Dem armen Mädchen war es, als ob sich ein schwerer Stein, der immer wie ein Felsblock auf ihm gelegen war, löse, und als ob es sich auch für Katharina verlohne, zu leben. Von da an sah die »cattiva Manzoni«, die Häßliche von Manzonis, wie sie in der ganzen Gasse und in ganz Portofino 238 hieß, nach der Signora hin, wie eine Sonnenblume nach der Sonne. Sie empfing ja alle Tage ein Grüßen und ein gutes Wort und durfte unter ihren Augen allerlei arbeiten und brauchte sich nicht zu verstecken wie etwas Böses.
Vor der lustigen Agnes hatte sie immer noch eine leise Scheu. Daß es das gab, so etwas immer Fröhliches, Taghelles, so rosig und so frisch. Da war gar nichts Gedrücktes, Unfreies, alles lauter Sonne und Fröhlichkeit. Das staunte Katharina an, es mußte so schön sein, so zu leben, aber wie armselig war sie daneben. Die Mutter, die wußte selber, was es ist, wenn immer eine Last auf einem liegt, das spürte sie wohl. Und in dem stumpfen, zusammengedrückten Gemüt des armen Mädchens wachte ein Wunsch auf, der wurde stark und stärker: »Oh, wenn ich ihr einmal etwas zulieb tun könnte. Etwas, das sie dann freuen müßte.« Sie erschrak zuerst vor ihrer eigenen Kühnheit, wie konnte sie das tun, sie, die zu ungeschickt zu allem war. Und die Signora war so fein und vornehm und so hoch. Aber es kam wieder und wieder: »Oh, wenn ich ihr nur einmal etwas tun könnte!«
Die Zeit verging, und eines Tages hörte Katharina, wie Agnes zu Marietta und Manuelo sagte: »Jetzt sind noch zwei Wochen, dann gehen wir wieder heim. Oh, bei uns ist es auch schön. Das Meer ist nicht da, aber der Neckar, das ist ein schöner, grüner Fluß, und mein Großvater hat einen Nachen, da kann man den Fluß hinab und hinauf rudern. Das tut mir der Matthes, so oft ich will. Der Matthes ist Knecht bei meinem Großvater. Und Wiesen sind da, und so viele Apfelbäume, und ein Wald, da wohnt der Osterhase drin. Und noch vieles.«
239 Die Kinder staunten über den Bericht, Katharina aber, die hinter einem Gebüsch verborgen saß und Unkraut ausjätete, erschrak, als ob ihr jemand gesagt hätte, die Sonne werde jetzt dann nicht mehr aufgehen. So würden sie jetzt dann fortgehen, und dann war alles aus. Erst heute morgen noch hatte die Signora zu ihr gesagt: »Es kommt alles noch gut, Katharina. Siehst du, es ist schon manches besser geworden.« Denn die Mutter Manzoni hatte zu der Signora gesagt: »Eine dicke Kerze wollte ich der Madonna stiften auf den Altar, wenn nur das Mädchen anders würde, daß man es einmal in einen Dienst schicken könnte; meint nicht die Signora, es wache ein wenig auf die Zeit daher?« Aber wenn sie nun fortging, dann kam nichts mehr besser, dann war alles vorbei.
Die Kinder wußten nicht, daß Katharina in ihrer Nähe sei. Sie plauderten weiter von Deutschland und wie es da sei, und Katharina sah auf einmal alles vor sich: das Dörflein am Fuß der Weinberge und den Fluß und Wiesen und Wald, und es kam ein brennendes Heimweh über sie, dahin mitgehen zu können und immer, immer um die liebe Frau sein zu können und ihr zu dienen, alle, alle Tage. Jetzt sagte Agnes: »Und weiße Lilien haben wir im Garten, und auf meines Papas Grab sind auch weiße Lilien, und das gibt's bei euch nicht. Und meine Mama hat gesagt, wenn sie dann nur einmal wieder die weißen Lilien sehen könnte. Solche Blumen haben die Engel in den Händen in meinem großen Bilderbuch.« »Weiße Lilien gibt's hier auch,« sagte Manuelo, »draußen auf dem steilen Felsen, über dem die Kirche steht. Ganz weit hinaus hängen sie, übers Meer hin, es ist ein ganzer Busch davon.« Agnes sprang auf. »So wollen wir gleich gehen und sie holen,« sagte sie eifrig. »Kommt, wir wollen 240 dort hinabsteigen, ich weiß schon, wo.« Aber Manuelo blieb auf den Ellbogen aufgestützt liegen, wie er lag, und Marietta ließ die zwei kleinen Buben auf sich herumpurzeln, und beide sagten: »Ja, ja, das geht nicht nur so. Man kann hinunterfallen, und dann bricht man ein Bein oder beide. Und man darf auch nicht die Hosen zerreißen, sonst setzt's etwas.« Denn die Mutter war darin sehr genau, und das war ihr Stolz, daß ihre Kinder nie zerrissen herumliefen wie die andern Kinder von Portofino. Aber Agnes war nun ganz entbrannt für die Lilien. Ganz deutlich sah sie die weißen, schimmernden Blüten aus dem Felsen heraus und über das Meer hinhängen, wo kein Mensch sie pflückte. Oh, wenn sie den ganzen Strauß der Mama hinstellen könnte neben das Bild des Vaters hin. Dann würde die Mama sagen: Du bist mein Goldkind, und würde sich freuen, noch viel mehr als über Katharina, wenn diese einmal ein wenig lachte oder redete oder kein Geschirr zerbrach. So sagte sie nur zu den Gespielen: »Ich hole sie aber doch, denn ich muß sie haben.« Die lachten ungläubig: »Ja, du wirst sie holen. Die Signora wird's schön erlauben, das kann man schon wissen.« Aber Agnes dachte: »Nachher, da werdet ihr staunen, wenn ich sie habe, und nun sage ich gar nichts mehr.«
Die Sonne sank ins Meer, und das weite Wasser lag in lauter Gold und Purpur da. Da kam ein kleines Mädchen in raschem Lauf den Berg herauf, auf dem das weiße Kirchlein lag. Es sah sich hier und da um, ob ihm niemand nachfolge. Aber es war kein Mensch ringsum zu sehen. Die Mama machte einen einsamen Spaziergang, Santa Margherita zu, und Agnes hatte die Erlaubnis, noch bis zu ihrer Rückkehr mit den Gespielen draußen 241 zu sein. Das war die rechte Stunde, nun konnte sie schnell ihr Vorhaben ausführen. Wenn dann die Mama kam und den herrlichen Strauß im Glase fand und wundern und staunen mußte, das konnte sich Agnes gar nicht fröhlich genug ausdenken. Ein wenig bedenklich war es nun freilich, so hinunterzublicken in die Tiefe. Da unten rauschte das Meer, es wehte kühl von da herauf, und schon begannen die Purpurstreifen auf den Wassern sich zu verdunkeln. Aber da leuchteten auch die Lilien herauf, und nun war nur noch das Verlangen da, sie zu holen. Agnes war daheim schon oft auf Bäume geklettert, und dann hatte der alte Matthes immer gesagt: »Sie kann's wie ein Bub.« Das war das höchste Lob gewesen, und damals war Agnes erst siebenjährig gewesen, nun aber war sie acht. Es war wohl auch nicht so schwierig, wenn man es recht betrachtete. Der Felsen war nicht glatt, es sah aus, als ob Stufen darein gehauen wären, und hier und da drängte sich Gesträuch zwischen den Steinen heraus, daran konnte man sich halten. Ach, wie leicht war es, es ging hinunter, hinunter. Man mußte nur nicht so feig sein wie Marietta und Manuelo. Faul waren die, Agnes aber wollte ihrer Mama eine Freude machen, darum stieg sie hier herum. So, noch eine kleine, junge Pinie mit der Hand fassen; die wuchs ganz geschickt gerade hier aus einer Ritze heraus, und dann konnte man sich mit der einen Hand halten und mit der andern die Lilien erreichen. Wie herrlich weiß sie da standen, aus den tiefen Kelchen leuchtete es golden heraus. Zwei hatte Agnes schon in der Hand, drei, da spürte sie plötzlich einen Ruck, und dann begann sie zu gleiten. Die Pinie hatte sie noch in der Hand. Das junge Pflänzlein hatte noch keine tiefen Wurzeln in das Felsgestein hineingeschlagen. 242 Es hatte sich losgelöst. Eine Sekunde lang schoß ihr das Grauen durchs Hirn: jetzt falle ich ins Meer, dann – und eine wilde Angst. Dann glitt sie langsam hinunter und blieb auf einem kleinen Felsvorsprung liegen, unversehrt. Unter ihr rauschte das Meer, hier und da spritzte leichter Schaum von einer Welle bis hierher, über ihr gingen die Felsen in die Höhe. Und dort leuchteten noch die Lilien im letzten Abendlicht.
Agnes hatte lange gerufen, wieder und wieder, nun war ihre Stimme heiser geworden. Sie hatte auch geweint, weil nun die Nacht kam und sie allein hier liegen mußte, ganz allein als ein verlorenes Kind. Nun war die Mama nach Hause gekommen und hatte vergeblich gefragt, wo ihr Töchterlein sei. Es wußte niemand. Die andern meinten, sie sei mit der Mama gegangen, denn sie war gleich nach dieser fortgestürzt, sie konnten sich wohl denken, sie habe die Mutter noch einholen wollen. Und nun suchten sie und riefen allenthalben, und gingen an die Uferklippen und an den Landungsplatz, und nirgends, nirgends war ein Kind zu finden. Und die Mama würde meinen, es liege im Meer und sei ertrunken, und dann würde sie furchtbar weinen und gar nicht mehr fröhlich sein können, nie mehr. Agnes versuchte emporzuklimmen, aber das ging gar nicht. Denn hier unten waren die Felsen noch viel glatter, man konnte sich nirgends halten und nirgends den Fuß aufsetzen.
Es war vollends Nacht geworden, nur die Sterne leuchteten in großer Klarheit vom Himmel herunter auf ein ängstlich rufendes Menschenkind. Dem kamen allerhand Gedanken. »Ich hätt's der Mama sagen sollen. Nein, sie hätte es nicht erlaubt, gewiß nicht.« Erst gestern hatte sie noch gesagt: »Wenn du gehorsam bist, das ist 243 mir die größte Freude, daran seh' ich auch, daß du mich lieb hast.« Denn Agnes wollte immer gern große Dinge ausführen, lieber als so in kleinen Sachen ganz einfach gehorsam sein. Das war ihr leicht ein bißchen langweilig. – Ob es wohl der Papa nun auch vom Himmel aus sah, daß das Kind hier unten lag? Vielleicht, die Sterne scheinen ja. Aber der liebe Gott, der sah es ja jedenfalls, der konnte es doch machen, daß jemand kam und sie holte. Es war alles so still, so ganz still, und das Meer rauschte. Da ertönte von oben her eine Stimme: »Agnes, bist du da?« Ach, nun kam jemand. Aber das Rufen ging nicht mehr, ihre Stimme tat so heiser. Oben rief es wieder. Wer konnte es wohl sein? Da, nun sah Agnes, wie sich eine Gestalt herunterbeugte. Es war Katharina! »Wie weiß sie es denn, daß ich da bin?« dachte Agnes, und dann fing sie wieder an, Antwort zu geben mit ihrem heiseren Stimmlein und dazu zu winken mit der weißen Schürze, die sie anhatte. Ob sie es gemerkt hatte da oben? Ach nein, nun war sie wieder fort. So lang auch Agnes emporsah, der Uferrand dort oben war leer. »Es ist eben nur Katharina gewesen,« dachte Agnes, und nun nannte sie sie auch mit den bösen Namen, die ihr die andern gaben. Warum hat sie mich denn nicht gesehen und gehört und läuft wieder fort in der Nacht? Nun bin ich wieder ganz allein. Und wieder verstrich eine Zeit, und alles blieb still. Hierher kamen sie nicht, die Suchenden.
Da näherten sich leise Ruderschläge, ja, ja, es war deutlich genug. Noch sah man kein Schiff, aber es währte nicht lange, so kam es um die Biegung, die die Felsen da machen, geschwommen. Ein kleiner Kahn, so einen haben sie beim Wirt in der Osteria neben dem 244 Landungsplatz. Agnes war einmal darin gefahren mit dem Vater Manzoni und den Manzoniskindern. »Agnes,« rief es wieder. »Bist du da?« War es ein Engel, den der liebe Gott schickte? Ach nein, es war die dumme Katharina, die cattiva di Manzoni.
Die Sternennächte sind dort unten in Italien viel heller als bei uns. Und in ihrem milden Glanz leuchtete Katharinas Gesicht in einer hellen Freude. »Mama, der liebe Gott hat aber nichts Schönes aus ihr gemacht,« hatte Agnes gesagt. So sagte sie nun nicht mehr. »Bist du es und hast mich gefunden?« Sie streckte ihre Arme aus nach der, die so durch die Nacht daherkam und sie heimholte, und nun kam noch einmal das überstandene Elend herauf, und sie fing an, bitterlich zu weinen; es war Freude und erlittene Angst durcheinander. »Sei nur ruhig, ich bringe dich zu ihr, zur Signora.« Was hatte Katharina für eine tröstliche Stimme. Wie hob sie das schluchzende Kind ins Schifflein und war gar nicht scheu und nicht gedrückt, war nur erhellt von einer großen Freude. Aber was war das? Auf einmal fühlte sie ein paar weiche Arme um den Hals und einen Kuß auf ihren Mund, den nie ein Mensch geküßt hatte, seit die Mutter »povera piccola« zu ihr gesagt hatte. Da war es Katharina, als müsse sie nun auch anfangen zu weinen, so unaussprechlich weh und wohl zugleich war es ihr. Aber sie mußte auf das Schifflein achtgeben, das war so ein schwankes Ding über der Tiefe, und sie war keine geübte Schifferin.
Plötzlich lachte sie leise. »Er wird mich schlagen,« sagte sie. »Wer?« »Der Wirt, ich habe den Kahn losgemacht, es war niemand zur Hand, und ich habe mich so gefürchtet vor den Leuten in der Osteria.« »Und vor 245 dem Meer, da hast du dich nicht gefürchtet, Katharina? Du bist eine Gute,« sagte Agnes. Das war wieder so eine Glückswelle, solch ein Wort von dem bewunderten Kinde. Sie verlor alle Scheu. Sie erzählte, daß sie es heute mittag mitangehört habe, daß Agnes die Lilien holen wollte. »Und als sie dich alle suchten weit herum, da ist mir's eingefallen. Da hab' ich gesagt: ›Lieber Gott, sie gehört der Signora, und die Signora ist die beste von allen.‹ Und da hab' ich dich gesehen da unten, und niemand war sonst da.« Sie schauerte leise: »Die Leute in der Osteria schimpfen mich so viel. Und morgen werden sie mich schlagen. Aber die Signora wird lachen und wird froh sein. Da bin ich hergerudert, aber ich kann es nicht gut. Aber ich habe dich gefunden.«
»Sie sollen dich nicht schlagen, und niemand soll dich mehr schelten, meine Mama beschützt dich schon, sei nur fröhlich,« sagte Agnes. Da sahen sie Lichter am Ufer und suchende Menschen und hörten viele Stimmen. Und noch ein paar Ruderschläge, noch ein ganz kleines Weilchen, dann lag Agnes in den Armen ihrer Mutter, so fest, als ob sie nie mehr herausgehen wollte.
* * *
»Es kommt noch alles gut,« hatte die Signora einst zu der armen Signora gesagt. »Es ist alles gut geworden,« sagt Katharina jetzt. Sie ist nicht mehr dort unten, wo sie sich mehr vor den Menschen gefürchtet hat als vor dem wilden Meer. Wenn ihr sie besuchen wollt, müßt ihr in den Garten auf Gut Finkenhof gehen oder in die Nähstube oder in das freundliche Giebelstübchen, wohin man die Kranken bettet, wenn es solche hat. Da findet ihr sie bei den Pflanzen oder sonst bei einer Arbeit, 246 und sie hat Kinder um sich, wo sie geht und steht. Am liebsten kommen die Kinder von Frau Agnes zu ihr, und dann muß sie immer wieder erzählen, wie sie das Kind in den Felsen fand und wie die beiden, Mutter und Kind, sie mit heimgenommen haben. Das ist schon lange her. Es gibt schon wieder eine kleine Agnes, die will immer wieder wissen, wie schön es war, als sie miteinander abreisten auf dem Dampfschiff und wie die Leute von Portofino staunten, daß die arme Katharina so ein glückliches Gesicht und so ein glückliches Los bekommen habe.
Aber dann kommt Frau Agnes selbst und führt ihre Mutter am Arm. Und dann geht erst der helle Freudenschein auf Katharinas Angesicht auf, so daß man nicht mehr sieht, daß sie etwas im Gesicht hat, das andere Leute nicht haben. Denn das andere, die Sonne, die ihr von innen herausscheint, das haben auch nicht alle Leute, im Gesicht und im Herzen. 247