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Ein niedriger, halbdunkler Laden, einer der vielen, die sich in der einzigen, langen Hauptstraße von Nervi aneinanderdrängen. Früchte und Gemüse vor der Tür, Früchte und Gemüse auf den Tischen, an den Wänden aufgehängt, auf dem Fußboden aufgestapelt. Ein starker, süßer Duft durchzog den Raum. Nach Orangen, Mandarinen, Feigen, Datteln, nach den süßen Weintrauben, die an Schnüren aufgehängt oben an der Decke schwebten, Traube an Traube. Und unter all diesen Herrlichkeiten stand Ninetta, mit einem ernsthaften, wichtigen Gesichtchen. Sie war hier verantwortlich, das konnte man ihr von weitem ansehen. Es tat nichts, daß sie auf einem Schemel stehen mußte, um auf dem Tisch hantieren zu können, darum war sie der Sache doch gewachsen. Draußen fiel der Sonnenschein zwischen den hohen Häusern auf das schmale Steinpflaster. Eine gefangene Wachtel, die in einem Holzkäfig saß, fing an zu schlagen, drüben, vor dem Fenster des Nachbarhauses. Und die Straße herab kam ein Dudelsackpfeifer, der eine sehnsüchtige Weise blies, und einen Kinderschwarm um sich her hatte. Aber das war nichts für Ninetta. Sie war hier auf dem Posten, versteht ihr? Drinnen in der Stube hinter dem Laden lag die Mutter in dem rosigen Himmelbett und hatte das allerkleinste Bübchen im Arm, das erst gestern zur Welt gekommen war. Und die zwei nachfolgenden Buben 66 purzelten ebenfalls dort drin am Boden herum und kamen einander alle Augenblicke in die krausen Haare. Der Vater aber, der stand in seiner Bude am Strand, wie alle Tage jetzt, im Winter, wo die Fremden zuhauf kamen an die schöne Riviera. Der konnte nicht daheim bleiben, jetzt, wo das Geschäft blühte, der Handel mit Orangen und gerösteten Maronen, mit Muscheln und Seesternen und Ansichtspostkarten. Da war denn Ninetta allein noch übrig, die braune, kleine, flinke Eidechse, wie sie der Vater genannt hatte, eh er am Morgen ausgegangen war. Das war sie auch alles, braun und klein und flink. Sie huschte hin und her, daß ihr das schwarze Gezaus ums Gesicht flog, von der Stube zum Laden, hin und her. Stolz war sie auf ihr Amt. Und was sie nicht wußte, konnte sie die Mutter fragen. Was schleppte sie ihr alles vors Bett! Einen Korb mit Tomaten, und die Gewichtsteine von der Wage, und die Geldstücke, die sie nicht kannte. »Sag, Mama, sieh, Mama!« Allzuviel Ruhe hatte das Weib dort drin nicht. Aber das tat auch nichts. Sie waren fröhlich, alle miteinander. Es ging alles, wie es mußte.
Wieder ging die Ladentür. Ein Fremder war eingetreten. Ein Tedesco, ein Deutscher, das konnte man sofort sehen. Er war groß und breitschultrig und hatte einen mächtigen Vollbart, der fiel rötlich glänzend auf seine Brust herab. Den Hut trug er in der Hand, da sah man sein welliges, blondes Haar. »Hier ist ein Zimmer zu vermieten?« Er fragte es auf deutsch. Das verstand Ninetta nicht. Da sagte er's noch einmal, italienisch. Das ging etwas holperig, aber das ist man dort an den Fremden gewöhnt. Ja, das war so. Oben, über zwei Treppen, da war das kleine Zimmer, das hatte der Vater blau angestrichen, und eine neue Matte auf den Steinfußboden 67 gekauft, und einen gepolsterten Lehnstuhl hineingestellt; das war nun ein Fremdenzimmer und zu vermieten. Es hatte einen weiten Blick, auf den Strand und über das Meer hin und links an der Riviera entlang bis zum Monte Fino. Ninetta lachte. Erst heut früh noch hatte die Mama gesagt mit einem Seufzer: »Es kommt niemand und will die camera.« Und nun war der Fremde da. Ob er sich nicht bücken mußte darin? Denn er war groß, und das Zimmer nicht hoch. Da lachte sie noch einmal. Wie sich das ernste Gesichtchen veränderte, wann sie lachte: wie die weißen Zähne zwischen den roten Lippen blitzten!
Da mußten die beiden kleinen Buben, der Giovanni und der Luigi, einen Augenblick in den Laden heraus, als Hüter, und Ninetta stieg mit dem Fremden hinauf. Es fand sich, daß sie einander prächtig verstanden. Was sie nicht mit Worten fertigbrachten, das sagten sie mit Gebärden, und dazwischen hinein lachten sie alle beide über ihre eigene Unterhaltung. Das brachte sie rasch zu guter Freundschaft. Dann mußte Ninetta einmal hinunter und die Mama fragen wegen des Preises, und als sie wiederkam, ein beschriebenes Zettelchen in der Hand, da saß ihr Gast am offenen Fenster und sah unverwandt übers Meer hin, und sie mußte eine ganze Weile stehen und warten, bis er sich umsah. »Und,« sagte sie nachher zum Vater, »da hat er ein Gesicht gemacht und Augen wie der heilige Antonius in der Kirche, der das Christuskind anbetet.«
Das mochte wahr sein.
Wenn man von der weiten Reise herkommt, staubig und müde, und von dem Suchegang in der engen Gasse zwischen den hohen Häusern, und kommt auf einmal in ein helles Gemach, zu dessen Fenster das Licht 68 hereinflutet, und sieht das weite, weite Meer vor sich, blau und glänzend im Sonnenschein, und die Wellen, wie sie von draußen gegen das Ufer herankommen und da zerschellen in schäumendem Gischt, und den blauen Himmel drüber – da kann man wohl »aussehen, als ob man bete«. Und nicht nur so aussehen. –
Also der Gast blieb da. Und da Ninetta ihn sozusagen übernommen hatte, so blieb er auch ihr Gast. Ihr Signore, dem sie von weitem entgegenlachte, wenn sie mit den Kleinen am Strand spielte und ihn kommen sah. Die Mutter war bald wieder im Laden und schaffte im Haus umher und ging mit dem Tragkorb nach Sant Ilario hinauf, um einzukaufen bei den Bauern, Gemüse und Früchte. Und Ninetta versorgte ihren Signore. Sie putzte ihm die Stiefel und stellte ihm das Wasser ins Zimmer in der glänzend blanken Flasche, und eines Tages mauste sie für ihn drei Orangen aus dem Laden, von den allerbesten, die weit heraus aus dem Süden kamen, aus Sizilien. »Da,« sagte sie und nahm die goldenen Kugeln aus dem Schürzchen, eine nach der andern. »Du mußt sie essen, sie sind süß, so süß wie Zucker und Honig.«
»Der Tausend,« sagte der Gast, »woher hast du die? Hat dir's die Mama gegeben? Und du bringst sie mir?« Ninetta schüttelte die schwarzen Locken und steckte den Daumen ins Mäulchen. »Aus der Kiste habe ich sie,« sagte sie nach einer Pause. »Es sind noch viele drin. Die Mama merkt's nicht. Ich habe keine für mich genommen, nur für dich.« Dann sah sie ihn an, als ob es nun gut und recht sei. Dem Gast zuckte es stark um den Mund. Es war ihm ein wenig ums Lachen. Sie sah so drollig und so ehrlich aus. Aber dann machte er ein sehr ernsthaftes Gesicht. »Nein, nein, das ist nichts, Ninetta,« sagte er. 69 »Das tut man nicht, auch nicht für einen ganz guten Freund, was die Mama nicht merken darf. Komm, nun trägst du die süßen Orangen wieder hinunter, und dann kommst du ein wenig zu mir. Ich hab' dir etwas zu zeigen. Und etwas Süßes hab' ich auch für dich.« Ninetta packte ein wenig verdutzt die goldenen Kugeln wieder ins Schürzchen. Sie wollte so gern dem Signore alles herbeischleppen, was nur gut und schön war, und nun wollte er's nicht. Aber sie gehorchte ihm, sie mußte alles tun, was er sagte. Er war so gut und so freundlich, und daneben sah er oft so traurig aus. Und er hatte eine heisere Stimme. Einmal war der Doktor bei ihm gewesen. Da hatte sie in atemloser Angst auf der Treppe gewartet, ob auch dem guten Herrn nichts geschehe, und nachher war sie zu ihm ins Zimmer gestürzt und hatte gefragt: »Ist er fort? Hat er dir weh getan? Was hat er dir getan?« Und hatte sich erst beruhigt, als der Signore heil und ganz vor ihr stand und versicherte, daß der Doktor ein ganz guter Mann sei, der ihn gesund machen wolle und ihm keinesfalls etwas Böses tue. Ninetta hatte keine so unbedingt gute Meinung von dem Doktor. Er hatte einmal der Mutter zur Ader gelassen, da war dunkles Blut in einem dicken Strahl aus ihrem Arm gesprungen. Seither traute sie ihm nur halb. Und dem Signore wollte sie nichts geschehen lassen; ihm schon gar nicht. Sie war wie ein kleines Mütterlein, trotz ihrer sechs Jahre.
»So, nun komm,« sagte der Signore, als Ninetta wieder unter der geöffneten Tür erschien. »Nun mußt du mir ein wenig Gesellschaft leisten. Siehst du, ich wohne hier ganz allein, nicht im Hotel, wo die andern Fremden sind, weil ich nicht viel sprechen soll. Und da muß ich immer an zu Hause denken. Wenn ich am Meer hin gehe, 70 und wenn ich auf den Berg steige und sehe alles das Schöne, denn es ist schön hier, du weißt noch nicht, wie schön, dann kommt mir's immer in den Sinn, daß ich das alles so allein sehen soll und niemand habe, mit dem ich mich freuen kann, weil alle, die ich liebhabe, in Deutschland geblieben sind.« »So sollen sie kommen,« sagte Ninetta eifrig. »Nein, nein, das geht nicht nur so.« Der Signore mußte ein wenig lachen. »Das kostet viel Geld, und ich habe nicht viel.« »Die Mama hat; sie hat's in einem Strumpf.« Ninetta war schon halbwegs an der Tür. »Halt, halt.« Er mußte das Kind am Röckchen fassen, daß es ihm nicht entwische. »So, nun setz dich einmal hierher,« sagte er. »Du sollst mir nichts holen und nichts geben. Du sollst nur manchmal ein wenig bei mir sein, weil ich daheim auch ein kleines Mädchen habe, das nun nicht bei mir sein kann. Dann ist es, als ob mein Töchterchen neben mir säße.«
Ninetta nickte nur. Das wollte sie gern. Ihr Herzchen war voll von Bereitwilligkeit zu allem Guten, das sie dem Signore antun wollte. Bei ihm sein? Das war nichts Schweres. Sonst wollte er nichts?
Da zog der Signore ein Bild aus der Brusttasche.
Es war das Bild einer schönen, jungen Frau mit sprechenden, warmen Augen, die ihren einen Arm um ein kleines, zartes Mädchen mit blonden Locken gelegt hatte. Das Kind lehnte an ihrem Schoß, und beide Gesichter sahen dem Beschauer voll in die Augen, so, als ob sie sich ihm ganz und gar zeigen wollten mit aller Liebe und Zugehörigkeit, die sie für ihn hatten.
Er sah es eine Weile an, dann gab er das Bild seiner kleinen Freundin. »Das sind sie,« sagte er. »Meine Frau und mein Kind. Es heißt Elisabeth; siehst du, 71 das wäre eine Freundin für dich.« Eine Freundin? Ninetta schüttelte leise den Kopf. Das war wie ein Engelein; es fehlten nur die Flügel. Mit dem konnte man wohl nicht spielen. Solche waren auf dem Bild in der schönen Kirche in Genua, wohin sie die Mutter einmal genommen hatte, um die Madonna her.
Und sie selbst war so braun, und hatte einen wilden, zausigen Lockenkopf, und ein rotes Tüchlein um den braunen Hals geschlungen. Nein, das war doch wohl ein Wesen anderer Gattung. Das fühlte sie mehr, als sie es verstand.
Aber das schadete ja nichts.
»Sag mir von ihnen,« bat sie den Signore.
Sie saß auf einem Schemelchen zu seinen Füßen. Draußen wollte die Sonne ins Meer sinken. Die Wellen waren purpurrot und golden überglänzt und rauschten leise. Ein paar Nachen waren noch draußen; von ferne hörte man den Gesang eines Schiffers, der eben ans Land kam. Weit hinten am Horizont zog ein großer Dampfer seine Bahn. Der kam vom Süden her und ging nach Genua in den Hafen. Um die beiden her war es still.
»Weißt du, was das für ein Lied ist? Weißt du, was der Schiffer singt?« fragte der Signore.
Ninetta nickte. »Das singt der Vater auch manchmal. O sanctissima! fängt es an. Aber ich kann's nicht.«
»Das singt man bei uns daheim auch. Aber es ist ein Weihnachtslied. O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit.« Er sagte es deutsch. Das Kind verstand ihn nicht und sah mit großen Augen an ihm hinauf. Da fuhr er in ihrer Sprache fort:
»Meine Elisabeth kann es singen. Meine Kleine. Sie wird's nun unter dem Christbaum singen, bei den 72 Großeltern, wo sie dies Jahr Weihnachten feiern. Da sind sie alle beisammen, und die Lichter brennen, und sie singen und freuen sich. Und ich bin nicht dabei. Aber das hilft nun nichts; wenn ich nur gesund werde, so ist alles recht.« Er dachte wohl nicht so daran, daß er zu einem Kinde sprach. Sie sah ihn so fragend an. Als ob er ein Märchen erzähle, und sie könne es nicht recht verstehen.
Da fiel es ihm ein, daß die italienischen Kinder ja nichts von Christbäumen wissen, von hellen Kerzen, die aus dem Tannengrün hervorleuchten, und nichts von den Gaben, die das Christkindlein bringt und die unter dem Baum glänzen.
Und er erzählte ihr, leise, im Flüsterton, denn anders durfte er nicht, des Halses wegen, von deutschen Weihnachten. Vom verschneiten Winterwald, von atemlosen Warten der Kinder, von leuchtenden Christbaumlichtern und der Krippe, die unter dem Baum steht und vor der die Hirten knien. Von Weihnachtsliedern und Kinderjubel, von allem, was ihm, Bild an Bild, vor die Seele trat, wenn er an Deutschland und an Weihnachten dachte.
Ninetta horchte hoch auf. Sie tat einen langen Atemzug. Das war schön. Sie wollte, er möchte nie aufhören zu erzählen.
Oh, es war auch hier schön, bei ihnen. Die Beffana kam durch die Luft geritten, das Weihnachtsweibchen, auf seinem goldenen Pferd, nachts, wenn die Kinder schliefen, und brachte Geschenke und warf sie durch den Schornstein auf den Herd. Da fanden sie die Kinder morgens. Aber nicht alle. Die Armen fanden nichts. Aber zu ihnen gehörte Ninetta nicht. Sie würde schon etwas finden, das wußte sie wohl. Und die Mama, die kochte ein 73 festliches Essen, Makkaroni mit Tomaten, und briet Fische dazu, und dann tranken sie roten Wein aus der strohumflochtenen Flasche; der Babbo, wie sie den Vater nannten, und die Mama, und Ninetta bekam auch ein Schlückchen. Und in der Nacht, mitten in der Nacht, da gingen die Erwachsenen in die Kirche und trugen Lichter in den Händen, die Reichen große, dicke, und die Armen kleine, dünne, und die Priester sangen oben auf der Empore. Wann Ninetta groß würde, dann würde sie da auch hingehen in der Nacht.
Ja, es war auch hier schön am Fest. Alle Leute, die sich begegneten, riefen einander zu: »Bona festa!« »Ein gutes Fest!« und machten fröhliche Gesichter.
Aber so schön wie das, was der Signore erzählte, war es nicht. So schön nicht. Wie im Himmel mußte das sein. Und Kinder, wie das auf dem Bild, waren dort, Engelein ohne Flügel.
Ninetta wünschte nicht gerade in Deutschland zu sein, Ihr war es lieb und recht, wie es hier war.
Schnee gab es dort, in Deutschland, und dunkle, verschneite Wälder. Und Hirsche und Rehe darin und Hasen. Denen steckte man Heubündel hinaus in den Wald, am heiligen Abend, da kamen sie und taten sich gütlich. Das war alles wie im Märchen.
Hier blühten Rosen und Nelken im Freien um diese Zeit, wenn das Wetter gut war. Und wenn es einmal kalt wurde oder gar Schnee fiel, Ninetta hatte es schon erlebt, das war nicht das Rechte, Natürliche. Da zündete man eine Kohlenpfanne an, und die ganze Familie drängte sich darum und hielt die Hände über die Glut.
Dort mußte es so sein. Dort gehörte es zum Fest, daß es kalt war und daß der weiße Schnee lag.
74 Nein, Ninetta entbehrte es nicht, das schöne, fremdartige, deutsche Weihnachten.
Aber der arme, gute Signore, der nun nicht dabei sein konnte. Sie legte ihr braunes Händchen auf seine Knie, weil sie nichts zu sagen wußte, und er verstand sie und sagte: »Laß nur gut sein, wir wollen hier auch fröhlich sein, nicht?«
Da nickte sie glücklich.
Es polterte etwas die Treppe herauf und stieß an die Tür. Draußen war die kurze Dämmerung schnell ins Dunkel übergegangen, schon tauchten in dem tiefen Blau des Abendhimmels die Sterne auf. Unten rief die Stimme der Mutter: »Ninetta! Wo steckst du, mein großes Mädchen?«
Die Tür ging auf, und die beiden Buben purzelten herein, Giovanni und Luigi, und wollten die Schwester holen und wußten, daß der Signore eine Bonbonbüchse auf dem Schrank stehen habe. Da bekamen sie alle drei ihr Teil, und dann zogen sie miteinander ab.
Das war acht Tage vor dem Fest gewesen.
Am andern Tag trug Ninetta dem Signore einen großen dicken Brief ins Zimmer, den der Postbote für ihn im Laden abgegeben hatte. Er saß am Tisch, hatte die Arme vor sich hingelegt und atmete die kleinen Dampfwolken ein, die der blanke Messingapparat vor ihm, puff, puff, puff, seinem Trichter entströmen ließ. Da konnte er nicht sprechen. Er streckte nur die Hand nach dem Brief aus und bedeutete seiner kleinen Freundin, daß sie warten solle.
»Puff, puff,« sagte der Apparat nochmals, dann sank das Spiritusflämmchen, das darunter brannte, in sich selbst zusammen und erlosch, und nun war für heute der Befehl 75 des Doktors, der das Einatmen des Dampfes verordnet hatte, erfüllt. Ninetta stand und sah zu, wie ihr Freund das Siegel des Briefes erbrach, und wie er aus zwei, drei Papierhüllen ein Bild herausschälte, das er mit einem halb frohen, halb wehmütigen Lächeln begrüßte. »Da sieh,« sagte er, »das sind meine Schüler; die kommen nun zu mir, um mich zu Weihnachten zu begrüßen. Es sind achtundvierzig Jungen, du kannst sie nachzählen, es muß stimmen. Ich habe sie jeden Tag bei mir in der Schule gehabt, und es ging lustig zu bei uns, das kannst du glauben.«
Da saßen sie, Kopf an Kopf, die vordersten auf der Erde, andere auf Bänken, und die hintersten standen aufrecht da. Es war eine stramme Burschenschar. »Grüß' Gott, Herr Präzeptor,« stand unter dem Bild. Dem Herrn Präzeptor stieg etwas in die Augen, er mußte eine kleine Weile zum Fenster hinaussehen. So lang hielt Ninetta das Bild in ihren braunen Händchen. Es war etwas sehr Erstaunliches. Das hier waren nun keine Engel mit Locken und weißen Kleidchen, sondern stramme, feste Buben mit lustigen und zum Teil grimmigen Gesichtern, meist mit kurzgeschnittenen Haaren und in engen Hosen und Jacken. Sie waren auch allesamt ein wenig braun, und Ninetta wußte nicht, daß das die Schuld des Photographen und nicht der Natur sei. Da bekam sie plötzlich ein anderes Bild von den deutschen Kindern. Mit diesen Jungen hier, ja, da konnte man spielen und springen und an den Klippen herumklettern, das war eher so etwas wie Kameradschaft. Ein Blatt war auf die Erde gefallen; es war ein Brief in steifer, schülerhafter Knabenhandschrift. Sie bot ihn dem Signore hin, der las die Seiten, mehr als einmal. Laut las er sie, aber das konnte Ninetta 76 nicht verstehen, obgleich sie ein paar deutsche Worte gelernt hatte.
»Lieber Herr Präzeptor!« las er. »Es ist schad', daß Sie nicht da sind. Der Herr Hilfslehrer Lachenmaier gibt sehr viel Hosenspannes. Aber sonst ist er brav. Wir haben uns für Sie photographieren lassen. Meine Mutter hat gesagt, bei Ihnen gebe es keine Christbäume, darum haben wir einen auf das Bild gebracht, hinten im Eck steht er. Die Buben sagen, die Italiener werden Barbarossa zu Ihnen sagen, weil Sie einen roten Bart haben. Aber es ist nur ein Spaß, die Leute werden schon wissen, daß Sie ein Herr Präzeptor sind, und nicht solches sagen. Jetzt wünsche ich Ihnen noch eine gute Besserung und daß Sie am Christtag vergnügt sind. Sind Sie auch schon auf einen Orangenbaum gestiegen? Einen Gruß von der ganzen Klasse. Es grüßt Sie Karl Löbe, immer noch Primus; hoffentlich!«
Ninetta stand da und lachte zur Gesellschaft mit, weil ihr Signore so herzlich lachte. Und als er aufhörte, fing sie noch einmal an, denn das gefiel ihr ganz besonders gut, wenn er fröhlich war. Und alle die achtundvierzig Knabengesichter auf dem Bild sahen zu, und man konnte denken, sie werden nun nächstens auch anfangen, mit zu lachen, wie sie das in der Schule oft genug getan hatten, sobald der Herr Präzeptor nur ein wenig mit den Mundwinkeln gezuckt hatte.
»Siehst du, Ninetta, sie denken noch an mich,« sagte er nach einer Weile. »Sie schicken mir einen Christbaum und wollen, daß ich am Christtag fröhlich sei. Das will ich auch sein, ich meine, ich könne es schon, und meine kleine Freundin hilft mir ein wenig, nicht?«
Da legte sie ihr braunes Tätzchen in die große 77 Männerhand und nickte sehr wichtig und lachte ein wenig vor sich hin, aber das schluckte sie schnell wieder hinunter, denn das hing mit einem Geheimnis zusammen, und das Geheimnis lebte erst seit fünf Minuten in ihrem Kopf und war noch gar nicht sprechreif. Und dann schlüpfte sie zur Tür hinaus und die Treppe hinunter, denn die Mama hatte gesagt: »Daß du mir nicht da oben die Zeit verschwatzest, hörst du? Denn du sollst mir nach Sant Ilario gehen zur alten Margherita und sagen, daß sie mir einen Puter schlachtet auf die Festtage. Ja, einen Puter, und das wird ein Braten sein, wie ihn die Patres essen im Kloster. Spute dich, daß du wiederkommst, oder es setzt etwas, mein Engelchen.«
Die Mama wußte gar nicht, wie gelegen der Auftrag für die »kleine, braune Eidechse« komme. Ninetta lachte vergnügt, als sie auszog, und die Mutter sah ihr nach von der Ladentür aus, die Augen mit der Hand beschattet, bis das rote Seidentüchlein nicht mehr zu sehen war, dann ging sie ihrer Hantierung nach. »'s ist ein Sonntagskind,« sagte sie, »ein gesegnetes; das hat schon am ersten Tag gelacht, und dabei ist's geblieben. Wenn ich sag', bleib da, so lacht's, und wann ich sag', geh nach Sant Ilario, so lacht's auch. Ich glaub', wenn ich's ins Wasser schicke, so ging's ins Wasser und das auch noch lustig.« Bei diesem Selbstgespräch entdeckte sie die beiden kleinen Buben, die ihr über die Datteln geraten waren, und nun setzte es ein paar Ohrfeigen aus dem losen Handgelenk, ohne daß im übrigen das gute Einvernehmen gestört worden wäre.
Ninetta aber stieg die vielen Stufen, die am Berg hinaufführten, empor, leicht und flink, wie ein wirkliches Eidechschen an einer Mauer emporgleitet, und 78 summte sich ein Liedchen dazu. Hier und da begegnete ihr einer der Fremden, der blieb wohl dann und wann veratmend stehen und konnte die Augen nicht abwenden von all der Pracht ringsumher. Denn je höher man stieg, je weiter breitete sich das Meer aus und je weiter hin zog sich das schimmernde Ufer mit Dörfern und Städtchen und weißen Villen und den Olivenwäldern an den Hängen. Aber das alles hatte Ninetta schon oft gesehen. Das gehörte so selbstverständlich zu ihrer Welt, es konnte gar nicht anders sein. Und sie war von einem großen Gedanken erfüllt. Der Signore sollte einen Christbaum haben. Einen so wunderschönen, daß er vor lauter Freude ganz vergessen sollte, auch nur einmal sein trauriges Gesicht zu machen, das Ninetta am liebsten niemals sehen wollte.
Sie richtete ihren Auftrag bei der alten Margherita aus, und dann ging sie ums Haus herum, an dem Ziegenstall vorbei und an den glucksenden Hühnern, die sonst ihr größtes Vergnügen ausmachten. Sie wußte schon, wen sie dort oben im Obstgarten finden würde, bei den Orangenbäumen oder bei den goldgelben Mespoli, deren es im Garten der alten Margherita so viele gab als Veilchen im Grase. Und das waren nicht wenige. Aber die Mespoli waren süß und die Veilchen nicht, und der lange Paolo, den Ninetta eben suchte, hielt sich gern an das, was man essen konnte, und fragte nicht viel nach den Veilchen. Er war ein Enkelsohn der alten Margherita, ein großer, starker Lümmel von vierzehn Jahren, und nicht eben besonders darauf aus, sich nützlich zu beschäftigen. Als Ninetta herankam, lag er im Gras ausgestreckt und sah gelegentlich nach den reifenden Früchten, die im dunklen Laube glänzten.
79 Da stieß ihn das Kind ein wenig an mit der Fußspitze. »Fauler,« sagte Ninetta. »Da liegst du wieder. Komm, steh auf, du mußt mir etwas helfen.« Paolo blinzelte zu ihr herüber. Sie war ein keckes, kleines Ding; er mochte sie wohl leiden. Aber was war es, dazu er ihr helfen sollte? Er sollte dazu vom Gras aufstehen? Das hatte ja wohl noch Zeit. »Was ist's?« fragte er und gähnte. »So, nun komm. Ich sag' dir's unterwegs. Wir gehen da hinaus am Berg, auf dem Weg gegen das Nervital hin. Du brauchst ein Messer dazu. Avanti, vorwärts!« Sie stieß ihn noch einmal an, tüchtig, da er sich nicht rührte. Da stand er brummend auf. »Ein Messer? Wozu?« wollte er wissen. Aber dann schlenderte er doch neben ihren flinken, trippelnden Füßen her. Das Messer hatte er in der Tasche. Natürlich.
Es hielt schwer, ihm auseinanderzusetzen, wozu Ninetta etwas Grünes brauche. Einen Lorbeerbusch vielleicht, oder eine wilde Myrthe. Für den Signore? Und Lichter wollte sie daranstecken und anzünden. Und zwischen die grünen Blätter hinein wollte sie rote und gelbe Nelken stecken, daß es aussehe, als seien sie daran gewachsen? Ninetta war ja wohl nicht klug. Das tat ja kein Mensch. Dazu brauchte sie ihn nicht da heraufzuschleppen. Da sah sie ihn mit flammenden Augen an.
»Ob du willst? Der Signore ist ein Guter, und krank ist er, und in Deutschland tut man so.« Aber er war bockig wie ein Maultier. Da zog sie ein Stück Maiskuchen aus der Tasche. Das hatte ihr die Mama mit auf den Weg gegeben. Er war süß und frisch gebacken. »Da,« sagte sie, »iß, und dann komm.« Da hatte er nichts mehr einzuwenden.
Da zogen sie miteinander aus, zwischen den hohen, 80 grauen Gartenmauern von Sant Ilario hin, bis sie ins Freie kamen. Ein wilder, lustiger Bach kam vom Berg herunter, ihnen entgegen, an dessen Gefälle stiegen sie empor, da lachten die wilden Blumen im Grase, Margueriten und Thymian und die weißen Sterne der Narzissen. Aber ihr Sinn stand nach etwas anderem.
Noch ein wenig höher. Da ragten einzelne Pinien mit ihren dunkelgrünen, zausigen Kronen über niederes Gestrüpp hin, und hier und da stand eine immergrüne, hartlaubige Eiche, wie ein riesiger Schirm ausgespannt. Hier herum mußte etwas zu finden sein.
Paolo brummte fortwährend, denn Ninetta zog ihn tüchtig herum. Er hätte den ersten besten grünen Busch geschnitten, mochte er noch so zausig sein. Der war ja wohl schön genug. Aber daraus wurde nichts, und immer wieder nichts, bis Ninetta ein Erikabäumchen fand, das fast so hoch war als sie selber und schön grün und schlank. Das war das rechte. Und nun konnte Paolo das Messer brauchen und konnte sehen, wie er auf dem Heimweg hinter der kleinen Eidechse dreinkam, die das Bäumchen schleppte, so gut es gehen wollte, und doch flinker von der Stelle kam als er. Denn nun hieß es eilen, die Sonne sank schon ins Meer, und dann kam schnell die Nacht, und der Babbo kam nach Hause, und die Mama hatte die Polenta gekocht zum Abendessen. Da ließ sich nicht spaßen mit dem Draußenbleiben, das wußte Ninetta wohl. Vom Tal herauf hallte das Ave-Maria-Läuten der Kirche in Nervi, und immer flinker ging es die vielen Steinstufen hinunter, hinunter und um die Ecke, und die Straße entlang, und gerade noch zur offenen Haustür hinein, husch, als der Vater von der einen und der Signore von der andern Seite her gegen das Haus her kam. Sie sahen 81 alle beide noch etwas Grünes verschwinden und Ninettas rotes Tüchlein dabei und schüttelten die Köpfe und riefen ihr nach. Aber da konnten sie lange rufen. Die waren beide im Gemüsekeller versteckt, das Bäumchen und das Kind, und als Ninetta hervorkam, lachte sie nur und wurde dabei rot unter der bräunlichen Haut. Aber sie verriet nichts.
* * *
Und nun brach das Fest an. Es war am späten Nachmittag. In der langen Hauptstraße von Nervi wogte es auf und nieder von Fremden und Einheimischen. In den Läden ging es – kling kling – aus und ein, aus und ein. Die Fremden, die in den Hotels wohnten, kauften kleine Geschenke, die sie einander bescheren wollten, und drängten sich in den Blumenläden und an der Post, um duftende Grüße nach Hause zu schicken. An den Straßenecken standen Gruppen von jungen Burschen, die Hände in den Taschen, kurze Pfeifchen im Mund, plaudernd und lachend; sie waren fast alle von irgendwoher nach Hause gekommen und genossen nun die Freiheit, die von heute an drei Tage dauerte. In den Schaufenstern lagen die größten silberschuppigen Fische und goldig glänzende Käse und fette Truthähne aus. Bauchige, strohumflochtene Flaschen standen dazwischen, und dann kamen Bäckerläden mit leckerem Gebäck und die der Obsthändler mit den schimmernden Früchten. Und das alles war mit Zweigen und Blüten geschmückt, und »bona festa!« »ein gutes Fest!« sagte jeder, der aus- und einging, und jeder, der im Gewühl an den andern stieß, sagte so und machte ein festliches Gesicht dazu.
Und darüber lag der Sonnenschein, und ein heiterer, tiefblauer Himmel. Die Budenleute am Strand blieben, 82 bis die Sonne anfing zu sinken, dann packten sie ihre Siebensachen zusammen, denn nun kam kein Fremder mehr ans Meer herunter. Sie hielten wohl alle irgendeine Art von Feier an diesem Abend. Nun fingen die Glocken an zu läuten. Sie haben dort eine eilige, lustige Art, zu läuten, und auch keine musikalisch abgestimmten, feierlich zusammentönenden Glockenstimmen. Bim, bim, bim, bim, rufen die Glocken über die Häuser und über das Meer hin. Die Genueser fangen an; die hört man nur schwach bis nach Nervi hin tönen. Dann antworteten sie da auch, bim, bim, bim, bim, und von den Bergen herunter tönt es, und am Ufer hin übers Wasser. Schön kann man's gerade nicht nennen, es wird einem nicht groß und weit davon. Aber wenn man ein festliches Herz hat, so dünkt es einem doch auch ein festfrohes, heiteres Getön zu sein.
Der Herr Präzeptor, Ninettas Signore, hatte das; ein festliches Herz nämlich. Er ging in den sinkenden Abend hinein, allein an dem schmalen, hohen Uferrand dahin. Das Meer rauschte stark, und laut brachen sich hier die Wellen an den Klippen. Es klang wie ein voller Orgelton. Er hätte beinah' gesungen, er summte leise, ganz leise vor sich hin; ein deutsches Weihnachtslied. Vor einer Stunde war der Doktor bei ihm gewesen und hatte ihn für später in eine kleine Gesellschaft von Deutschen eingeladen. Aber das war es nicht, was ihn so festlich stimmte. Es lag ihm gerade heute gar nicht soviel an den Leuten, die er nicht kannte. Sondern der Doktor hatte zu ihm gesagt: »Es ist ja nun nicht mehr nötig, daß Sie so eingezogen leben. Der Hals macht sich. Er macht sich. Wenn's so fort geht, so kommen Sie kerngesund nach Haus.«
Das war's. Das war einmal ein Festgeschenk. 83 Gesund werden, gesund heimkommen, wieder Schule halten, alle die traurigen Erinnerungen zerrinnen sehen wie Nebel vor der Sonne.
Lieber Gott, war das schön! Er hätte es nur den Seinigen sagen mögen. Aber er schrieb es ihnen, heute noch. Das sollte seine Heiligabendfeier sein. Das und die stille Feier, die er hier am einsamen Strand hielt. Ein Strandwächter begegnete ihm. Der sah ihm erstaunt ins Gesicht. Was hatte er so festlich auszusehen, da er ganz allein dahinging? »Bona festa« sagte der Mann, und er erwiderte den Gruß, fröhlich erwiderte er ihn.
Dann wurde es Zeit, umzuwenden. Schon legten sich graue Schatten über das Meer hin, und ein kühler Wind wehte. Die Glocken hatten ihr fröhliches Getön beendet, nun lag die Welt im Schweigen, denn hier war man fern von den Menschen.
Er pflückte einen Zweig des großblätterigen Efeus, der über eine Gartenmauer herabhing. Den wollte er um das Bild seiner Lieben legen. Dann ging's mit starken Schritten durch eins der engen Seitengäßchen nach der Hauptstraße hinauf, zurück ins Menschengewühl, in dem er einsamer war als da draußen in der großen Weite. »Jetzt zünden sie zu Haus den Christbaum an,« dachte er, mit einem letzten Blick auf das entschwindende Meer. Dann sah er in die Höh'. Da kamen die Sterne hervor. Nein, er wollte nicht sehnsüchtig sein, nicht traurig. Er wollte froh sein und dankbar.
So trat er ins Haus ein. Der Laden stand nach der Straße hin offen; die Mama hantierte geschäftig darin; es ging aus und ein von Kunden. Ninetta war nicht zu sehen. Der Signore wollte sie sich nachher hinaufholen, er hatte ein Kistchen von zu Haus erhalten, darin 84 vermutete er sicher etwas für das Kind. Es war ihm solch ein Trost gewesen, es hatte ihn so oft aufgeheitert. Er wollte es gern ein wenig erfreuen. Da war es oben und klinkte an seiner Tür und stieß sich ein wenig, weil sie verschlossen war. Verschlossen von innen, und er hörte etwas rascheln und wispern und lachen; es war ihm einen Augenblick, als ob er wieder, wie als Kind, an der Tür der Weihnachtsstube horche. Da, eben fiel eine Nuß vom Christbaum auf den Boden. Ach, Unsinn, er war ja hier in Italien, und war kein Kind mehr, und niemand bescherte ihm. Nun wollte er ganz vernünftig hineingehen und sich alle törichte Gedanken aus dem Sinn schlagen. Da klinkte er noch einmal, es mußte ja aufgehen. Ja, nun ging es auch auf, und er stand in einer großen Helle und strich sich über die Augen, denn er traute sich nicht recht, ob er auch richtig sehe. Und dann ging ein richtiges Aprilwetter über sein Gesicht, eine Mischung von Sonnenschein und Regen, von Lachen und Rührung und Freude und ein klein bißchen Heimweh. Aber das konnte nicht recht aufkommen. Denn hier stand Ninetta und wollte, daß sich der Signore über die Maßen freuen sollte, und freute sich selbst und schlug die Hände zusammen, so schön kam ihr ihr eigenes Werk vor. Und die beiden kleinen Bübchen standen da und waren wie losgelassene Füllen, so hohe Sprünge machten sie vor Vergnügen. Es war aber auch eine Pracht. Da stand das Erikabäumchen in einem alten Kochtopf, der mit Sand gefüllt war, und leuchtete von Lichtern und von Blumen in allen Farben, die zwischen seinen Zweigen steckten, und bedeutete ganz unzweifelhaft einen richtigen Christbaum. »Die Lichter hat der Babbo angesteckt und die Blumen ich,« jauchzte Ninetta. »Es sind Rosen, siehst du? und Nelken 85 und Orangenblüten. Ich hab' sie niemand genommen, ich hab' sie alle geschenkt bekommen. ›Für den Signore,‹ hab' ich gesagt, da hab' ich sie bekommen.«
Und ihr braunes Gesichtchen leuchtete, denn nun konnte in Wahrheit kein Mensch mehr traurig sein, und das machte ihr frohes Herzchen noch viel froher. Die Photographie der achtundvierzig Jungen aber lehnte aufrecht an dem Kochtopf und sah der Freude zu, und alle die Knabengesichter sagten: »Grüß' Gott, Herr Präzeptor,« und man konnte ihnen ansehen, daß sie sich wirklich mitfreuten. Als der Herr Präzeptor das sah, da holte er seine beiden Lieben auch aus der Tasche, und nun hatte er seinen ganzen Kreis um sich und stand mitten unter ihnen und hatte ein Herz voll Freude.
– Das war am heiligen Abend.
»Aber natürlich war er noch viel froher, als er uns leibhaftig wieder hatte,« sagte seine Frau, als sie diese Geschichte erzählte. Sie strahlte von Glück, und das konnte sie auch wohl, denn ihr Mann war frisch und gesund nach Hause gekommen, im Frühling, als auch die Schwalben wiederkamen, und nun stand er wieder in seiner Schule, und es ging da ebenso stramm und ebenso fröhlich zu wie einst vordem.
Ich weiß nicht, ob der kleinen Ninetta an jenem Maitag, als er seinen Schülern von ihr erzählte, die Ohren geklingelt haben. Möglich wäre es schon.
Denn er wurde sehr warm dabei, und die Schüler wurden es auch. »Sie wollte, daß alles um sie herum hell und fröhlich sei,« sagte er. »Und dazu half sie, soviel sie konnte, wenn sie schon nur ein kleines braunes Ding war. Das können wir uns auch gleich merken.«
86 Da entstand ein Gemurmel in der Klasse, erst leise und dann immer stärker. Einer stieß den andern an, und dann sagte einer halblaut: »Sie soll hochleben.« –»Sie soll hochleben,« sagten seine Nachbarn. »Ninetta lebe hoch!« jauchzte die ganze Klasse. Und das war nicht gerade ein Beweis von guter Disziplin. Aber ich habe diese Geschichte auch nicht der Disziplin wegen erzählt. 87