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Noch lag die Welt in tiefem Schlaf. Kaum daß hier und da die Hähne krähten oder ein Vögelein im Neste schlaftrunken anfing zu zwitschern. Der Morgenstern stand, nachdem der Mond und die andern Sterne alle, das ungezählte Heer, längst schlafen gegangen waren, noch als einsamer Wächter am Himmel und lugte hier und da sehnsüchtig hinter den weißen Wolkenvorhang, ob Frau Sonne noch nicht bald komme. Denn es war kühl – frostig auf der blauen Höhe, und er wäre gern seinen Geschwistern nachgefolgt. Aber nun endlich regte sich's. Die Nebelmassen wurden ein wenig hin und her geschoben, und ein kleiner, fürwitziger Sonnenstrahl schaute heraus, halb rosig, halb golden angehaucht. Der rief dem Morgenstern zu: »Geh nur nach Haus, Herr Nachtwächter! Wir sind schon auf dem Plan!« Dann folgte ein zweiter und dritter, blitzende, leuchtende Gesellen. Die hingen geschäftig ein rosenrotes Licht heraus, daß die Fenster des Bergkirchleins davon erglänzten und die Tannen am Waldessaum ganz in Glut getaucht waren. Und andere kamen, die zerteilten die Nachtschatten drunten im Tal, weckten die Tierlein im Walde auf, lugten auch neugierig zu den Fensterläden hinein, um den Menschen »Guten Morgen« zu sagen und sie zum fröhlichen Tagewerk zu begrüßen. Das waren aber alles nur Vorposten. Es dauerte nicht lange, so erschien Frau Sonne selbst, leuchtend in ihrem 24 Strahlengewand, alles erhellend mit ihrem wunderbaren Licht. Die rief die Sonnenstrahlen alle zu sich. »Das wißt ihr, meine Kinder,« sprach sie zu ihnen, »daß ich genug zu tun habe, die ganze Welt zu erleuchten und zu erwärmen, die Früchte in Berg und Tal zu reifen. Aber in alle Häuser zu dringen und in alle Herzen, wie es eigentlich sein sollte, alle Winkel und Ritzen zu durchstöbern und alles ans Licht zu bringen, was ans Licht gehört, das bringe ich bei den kurzen Tagen nicht fertig. Und deshalb geht flink daran, und helfet mir bei meinem Tagewerk.« Da ging es aber an ein Hinundherhuschen! Pfeilgeschwind flog der eine dahin, der andere dorthin, und bald war Berg und Tal, Wiese und Wald, Dorf und Stadt von flimmernden, schimmernden Sonnenstrahlen erfüllt. Die drangen überall hinein, in Kellerlöcher und Bühnekammern, in reiche und arme Häuser, in fröhliche und traurige Herzen und haben gar manches erlebt und gesehen, wovon sich mancher nichts träumen ließe.
Soll ich euch erzählen, was ich von den Sonnenstrahlen erlauschte, als sie einander ihre Erlebnisse erzählten?
»Ich war,« fing der eine an, »zuerst an einem schönen, steinernen Hause, das mitten in einem prächtigen Garten steht, und wäre gar zu gern ins Haus geschlüpft, um zu erfahren, wer denn die Bewohner wären. Aber da war alles dicht verhangen und zugeschlossen, und nichts rührte sich. Ein ganz klein wenig konnte ich durch einen Spalt ins Schlafzimmer blinzeln. Da lag in schneeweißem Bett ein kleines Mädchen, das streckte und dehnte sich und wollte eben erwachen. Flugs küßte ich sie auf die Augen und flüsterte ihr zu, wie schön es draußen sei, und sagte, sie möge nun aufstehen und ans Tageslicht kommen. Aber 25 da kam ich schön an! Statt aufzuwachen und sich fröhlich zu erheben, schlüpfte sie ganz und gar unters Deckbett und ächzte und jammerte: ›Dore, du hast wieder den Vorhang nicht ganz zugemacht! Immer scheint mir die Sonne in die Augen! So kann ich nicht schlafen!‹
Da ließ ich das brummige Ding liegen und flog weiter. Diesmal kam ich an ein einfaches Häuschen mit hellen Fenstern, die schon weit aufstanden. Darin waren die Leute längst munter. Die Kinder saßen gewaschen und gekämmt mit den Eltern am Tisch und löffelten ihre Milchsuppe aus einer gemeinsamen Schüssel. Das waren vergnügte Gesichter, ich hatte meine helle Freude an ihnen. Aber ein paarmal gab doch der eine der krausköpfigen Buben dem andern einen gelinden Puff mit dem Ellbogen, weil der seiner Meinung nach den Löffel ein wenig zu rasch hin und her wandern ließ und der Inhalt der Schüssel nicht so ganz den Bedarf der vielen hungrigen Magen decken wollte. Da legte ich mich quer über den Tisch. Und der Vater sagte: ›Das gibt wieder schönes Wetter heute! Wenn's so fort geht, so bringen wir heuer eine gute Ernte in die Scheuer; was meint ihr, Buben, dann muß die Mutter den Brotlaib nicht mehr nach allen Seiten drehen, ob er auch für alle reiche?‹ Die Buben lachten im Chorus mit sehr einverstandenen Gesichtern. Ich hatte aber noch etwas zu tun. Auf dem Schrank lag, etwas verstäubt, ein dickes Buch, das mußte ich noch ein wenig untersuchen. Aber wie ich es so recht hell beleuchtete, stieß der Vater die Mutter halblaut an und sagte: ›Was meinst du, Mutter? Dazu sollte es doch auch am Morgen reichen, daß wir miteinander ein Kapitel lesen und ein Vaterunser beten! Man schafft dann nachher um so leichter.‹ Die Mutter stäubte etwas verlegen das Buch 26 ab, und der Vater las. Ich habe nur noch davon behalten: ›Denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.‹
Da fiel mir ein, daß ich heute noch weiter müsse, und ich huschte eilends fort über Gärten und Felder hin. Und ich sah auf einem steinigen Weglein zwei Kinder gehen, die führten einander behutsam an der Hand, hatten steinerne Töpfe an sich hängen und wollten in den Wald, Erdbeeren suchen. ›Du, Andres,‹ sagte das kleine Mädchen, ›ist's noch weit bis in den Wald?‹ ›Nicht so sehr,‹ sagte der Bub, ›wenn wir vollends den Berg droben sind, dann geht's auf der andern Seite wieder hinunter, und dann kommt der Wald, und nicht weit drin ist der Erdbeerplatz.‹ ›Aber mir tun die Füße so weh, und mich friert's, und ich habe Hunger!‹ ›Sei nur still, Liesle,‹ tröstete das nicht viel größere Brüderlein, ›weißt ja, daß die Mutter selber nichts mehr hat, da kann sie uns auch nichts geben! Aber wart nur, wieviel wir Erdbeer' finden! Die tragen wir ins Schlößle zu den reichen Leuten, und dann kriegen wir Geld und kaufen Brot. Und vielleicht finden wir viel und können oft verkaufen, dann kauft dir die Mutter auf den Winter ein Paar Schuh'!‹
Mitleidig sah ich den beiden zu; dann legte ich mich auf den Weg und hüpfte ihnen voran, ich hätte sie so gern ein wenig aufgemuntert. ›Guck, Liesle, jetzt kommt auch noch die Sonne, jetzt wird's gut warm, da friert's dich nimmer,‹ sagte Andres, und sie zogen getröstet weiter bis an das schöne Erdbeerplätzchen, das ich ihnen zeigte, wo sie ihre Töpfe füllen konnten und selber noch von den schönen Beeren schmausten.
Nachher begleitete ich sie auf dem Weg ins 27 Freiherrnschlößchen, wo sie ihre Beeren verkaufen wollten. Dem grimmigen Kettenhund Tyras schien ich geschwind blendend in die Augen, da schlüpften die armen Kinder unbemerkt hinein.
Im Garten aber lag, weich in Kissen und Decken gebettet, ein blasses, blondlockiges Mägdlein in einem Tragbett. Das hatte die mageren Händlein gefaltet und die Augen geschlossen, ich glaubte fast, es atme nicht mehr. Schüchtern überflog ich das bleiche Gesichtchen. Da schlug es die Augen auf, groß und blau, die leuchteten hell auf, als es die Kinder gewahrte, die schüchtern in einiger Entfernung stehengeblieben waren. ›Kommt nur hierher,‹ rief sie mit ihrem dünnen Stimmchen. ›Schwester Martha, da sieh nur, hier gibt's Erdbeeren, und ich habe so ein Verlangen danach, kaufe sie doch den Kindern ab.‹ Eine freundliche Frauengestalt in schwarzem Kleid und schneeweißem Häubchen erhob sich und sprach liebreich und zutraulich mit den armen Kindern. ›Was meinst du, Angelika,‹ sagte sie zu dem kranken Töchterlein, ›wenn wir ein Schüsselchen Milch und ein Stück Brot aus der Küche holten und den Kleinen gäben? Denk' dir, sie haben noch nicht einmal gefrühstückt!‹
Da lachte Angelika fröhlich und zustimmend, und die Geschwister lachten erst recht, als sie sich behaglich sattessen konnten und noch zu ihrem Geld ein mächtiges Stück Weißbrot mit auf den Weg bekamen.
Ich hörte noch, wie das Liesle im Heimweg zu ihrem Bruder sagte: ›Du, Andres, möchtest du das reiche Mädchen sein und immer daliegen müssen und gar nicht herumspringen können?‹ Das wollte der Andres nicht, behüte! Und die beiden waren viel zufriedener als zuvor.
28 Ich konnte nicht mehr weiter mit ihnen. Ich hatte unterwegs an einem Kellerfenster einen Nelkenstock entdeckt, der voll Knospen stand. Den wollte ich einmal aufsuchen, was tat nur ein Blumenstock an einem Kellerfenster? Es war aber kein eigentlicher Keller, wie ich entdeckte, sondern ein trübseliges, kleines Stübchen. Eine Frau stand im Hintergrund an einem dampfenden Waschzuber und rieb eifrig drauflos, von Zeit zu Zeit das Feuer unter dem Kessel schürend und mit einem breiten Holzlöffel in der kochenden Wäsche rührend.
Der Nelkenstock gab sich alle Mühe, seine Knospen zu entfalten, aber er kam nicht zustande damit. ›Soll ich dir helfen?‹ sagte ich und fing an, die Knospen zu küssen und zu streicheln und die Hüllen aufzuwickeln. Ein rotes Blättchen ums andere guckte heraus, aber ich muß sagen, ich hielt mich lang damit auf. Die Zeit verging nur so, und als die Frau am Waschzuber mit ihrer ganzen Wäsche fertig war und sich zum Verschnaufen ein wenig ans Fenster setzte, erschrak ich, weil mir einfiel, wieviel noch zu tun sei. Aber das Gäßchen war so eng und die Stube so düster, ich hoffe nicht, daß es mir übel genommen wird, daß ich diese erst noch ein bißchen ausleuchte. Wenn ihr auch gesehen hättet, wie die Wäscherin sich über die hellroten Blüten freute! ›Und grad morgen ist des Wilhelms Geburtstag,‹ sagte sie, ›und Sonntag dazu! Da trag ich ihm den Stock aufs Grab und lese eine Predigt auf dem Bänklein! Ich hoffe nicht, daß es eine Sünde ist, wenn ich diesmal nicht in die Kirche gehe; ich muß doch an seinem Geburtstag bei meinem Wilhelm sein. Und es tut einem auch gut, wenn einen die Sonne wieder ein Weilchen anscheint.‹
Ich wußte nicht recht, was ich dazu sagen sollte, und 29 wollte gerade Abschied nehmen, da wackelte sie noch ein wenig mit dem Kopf und sagte: ›Wiewohl, die Sonne scheint auch noch nach der Kirche, und mein Wilhelm ist beim lieben Gott! Den ficht nichts mehr an, aber mich! Kann sein, ich geh' doch vorher hinein.‹ – Da flog ich weiter, und da bin ich, und morgen ist auch noch ein Tag.«
»Ja,« sagte ein anderer Strahl, ein recht breiter, voller, leuchtender, »das ist nur gut, daß morgen auch noch ein Tag ist. Man weiß ohnehin nicht, wo anfangen, soviel ist zu tun auf der Welt. Ich war in einem Hinterhaus, das hätt' ich fast nicht gefunden, so versteckt liegt es zwischen hohen Mauern. Eins gehört zu einer Brauerei und eins zu einem Magazin, und nur ein trübseliges, schmales Höfchen trennt es von dem stattlichen, steinernen Vorderhaus. Es ist eigentlich eine unangenehme Gegend für heitere Leute, wie wir sind. Aber am Fenster stand ein kleines Mädchen und machte so ein trübseliges Gesicht, als ob auf der ganzen Welt nichts Erfreuliches wäre, und manchmal drehte es das Köpfchen ganz ängstlich nach hinten, als ob dort etwas wäre, das zu fürchten sei. Nun ich kann trübselige Gesichter vor allem nicht ausstehen, und darum kam ich näher, um nach dem Rechten zu sehen. Da saß innen in der Stube ein Mann auf einem Schneidertisch, der nähte drauflos, als ob die Welt auseinandergegangen sei und er müsse sie wieder zusammenflicken. Das wäre ja ganz recht gewesen. Fleißig schaffen, das müssen wir ja auch. Aber daß er in einem fort dazu schalt und brummte, das war nicht schön. Der kleine Lehrling, der neben ihm saß und gleichfalls nähte, schien das auch zu finden. Er hatte einen ganz roten Kopf und sah fast noch ängstlicher aus als das Kind am Fenster, 30 und nun flog ihm auf einmal klatschend die Weste, an der der Meister nähte, um die Ohren. ›Die ganze Naht ist schief,‹ schalt der Meister. ›Du bist doch auch zu gar nichts zu gebrauchen, Tolpatsch, ungeschickter.‹ Der Lehrling duckte sich noch viel scheuer zusammen, und aus der offenen Kammertür kam ein leiser Seufzer. ›Ach, Mann,‹ sagte eine Frauenstimme, ›mach's nur nicht so arg.‹ Ich war schon in der Stube, und nun stahl ich mich auch noch unter die Kammertür, denn ich wollte gern sehen, was da drin vorging. Da lag eine Frau im Bett und in einem Waschkorb neben ihr ein rosenrotes, kleines Kindlein im Tragkissen, das saugte an seinen Fäustchen und war am zufriedensten von allen. Es sah nirgends besonders sauber aus, muß ich sagen. Aber schließlich, wer sollte da viel säubern? Die Männer verstehen das ja nicht, und die Frau lag ja zu Bett. ›Und da soll man sich nicht ärgern,‹ schalt der Mann. ›Es ist ein Elend. Nun soll ich wohl wieder kochen und den Taglohn versäumen, und das Hauswesen sieht aus, daß man davonlaufen möchte, und du bist immer noch so elend. Und der Bub ist auch nichts nutz.‹ Er meinte es nicht so böse, das merkte ich; ich wollte ihn gern ein wenig besänftigen und machte mich breit und hell, daß er mich ansehen sollte. Denn ich dachte, dann müsse er doch merken, daß es lang nicht so schlimm sei auf der Welt, als man hier in dieser engen Stube meinen konnte. Da ging die Tür auf, und ein kleines, mageres Jüngferlein kam herein. Das hinkte gewaltig und hatte ein ganz runzeliges Gesicht. ›Guten Morgen miteinander,‹ sagte sie. ›Was macht die Frau? Will nur einmal wieder nach dem Rechten sehen, 's hat's nötig, mein' ich.‹ ›Ach gottlob, das ist doch ein Sonnenstrahl,‹ sagte die Frau in ihrem Bett dankbar. Sie meinte nicht mich, sie meinte 31 die Bärbel. Die ging gleich an die Arbeit. Sie sah gar nicht aus wie ein Sonnenstrahl, sie war ärmlich und alt und welk. Aber sie hellte die Gesichter auf und machte die Stube sauber. ›Da guck her,‹ sagte sie zu dem kleinen Mädchen am Fenster, ›was das Brüderlein für herzige Fäustchen macht. Komm, du darfst ihm die Milch geben. Du kannst schon ein Mägdlein sein, da ist die Mutter froh.‹ Das Kind machte kein so verzagtes Gesicht mehr, es wollte gern helfen, nur hatte es ihm noch niemand so recht gezeigt. ›Ganz freundlich sieht die Stube aus, wenn die Sonne hereinscheint,‹ lobte die Bärbel. Da mochte ich nicht gleich wieder fortgehen, ich dachte, das sei auch eine Arbeit, nur so ruhig dazubleiben und die Stube zu erhellen. Der Mann sah ganz wohlgefällig zu, wie die Bärbel eine Suppe kochte, und nach und nach fing er sogar an, ihr von all dem Ärger zu erzählen, den er heut schon gehabt habe. Das tat ihm scheint's gut. ›Mit dem Lehrling ist's auch hinten und vornen nichts,‹ sagte er. ›Statt einer Hilfe ist er nur eine Plage für mich. Er ist nichts und wird nichts.‹
›Das wär' noch schöner,‹ sagte die Bärbel. ›Das glaub' ich nicht. Ich meine, Sie haben das Kräutlein Geduld nicht im Haus, Meister. Es ist noch kein Gelehrter vom Himmel gefallen. Das kommt noch; gelt, Konrad, du gibst dir Müh', daß es kommt?‹
Da atmete der kleine, verängstigte Lehrbub ganz tief von unten herauf und nickte mit dem Kopf. Die Bärbel war ihm auch ein Sonnenstrahl, das sah man wohl.
Der Meister lachte, halb verlegen und halb besänftigt. ›Sie kann predigen, Bärbel,‹ sagte er, ›wie der schönst' Pfarrer kann sie's. Ich weiß nicht, was das ist, von ihr nimmt man's erst noch an.‹ Er war für jetzt in einem besseren Fahrwasser, das sah man wohl, und das spürte 32 auch die Frau in ihrem Bett, sonst hätte sie nicht zu der Bärbel gesagt, eh' diese wieder in ihr Dachstüblein hinaufstieg zu ihrer Flickerei für die Kunden: ›Ach, das ist schier noch besser als die Suppe und die saubere Stube! Daß mir der Mann nicht so verbittert wird! Daß er wieder ein bißchen aufgehellt ist!‹ Da hinkte die Bärbel wieder hinaus, und das weiß ich, wenn ich's machen kann, so grüß' ich sie jetzt jeden Tag in ihrer Dachkammer. Denn die ist's wert, daß sie die Sonne anscheint. Bei den Schneidersleuten blieb ich noch, solang ich konnte. Dann besuchte ich im Nachbarhaus eine gefangene Lerche, die im Käfig sitzt und sich hinaussehnt. Ich schlüpfte ganz in den engen Käfig hinein, aber das arme Tier sah mich nicht; die Menschen haben ihm die Augen ausgestochen. Es fühlte nur, daß ich da sei, an der Wärme, die ich mitbrachte, und da fielen ihm wohl wieder die grünen Wiesen ein und das Weizenfeld, in dem sein Nest verborgen war, und der weite blaue Himmel, in den es sich immer hoch, hoch hinein erhoben hatte. Die arme Lerche. Sie fing an zu singen. So sehnsüchtig, so klagend und in immer volleren Tönen; sie sang, als ob es ihr die Brust zersprengen wollte. Und dann flog sie mit zitternden Flügeln gegen die Stäbe ihres Gefängnisses. Aber die gaben nicht nach. Sie mußte da eingeschlossen bleiben.
›Wie die Lerche singt,‹ sagte ein kleiner Bub, der dastand, die Hände auf dem Rücken, und horchte. ›So schön hat sie noch nie gesungen.‹ ›Das macht, daß die Sonne zu ihr hineinscheint,‹ sagte der dicke, alte Mann, der in einem Lehnstuhl saß und die Daumen drehte. ›Großvater, aber sie möchte hinaus,‹ fuhr der kleine Bub fort, ›siehst du, wie sie flattert? Großvater, sie möchte so gern hinaus.‹ ›Das glaub' ich,‹ sagte der Alte, ›das glaub' ich. 33 Aber daraus wird nichts. Sie hat mich zehn Mark gekostet, und ich könnte jeden Tag zwanzig dafür bekommen. Und zudem, sie ist ja blind. Das hülfe sie nichts, wenn ich sie fliegen ließe, sie müßte ja umkommen. Die Katze würde sie holen.‹ Und er fuhr fort, seine Daumen zu drehen und wohlgefällig zu nicken, wenn die Lerche sich das Herz aus der Brust singen wollte. Da gab es plötzlich mitten in einem hohen Triller einen schrillen Ton, und dann fiel das kleine Vögelchen tot von der Stange. Es hatte vor übergroßer Sehnsucht nach der Freiheit und nach dem Licht so stark gesungen, daß ihm die Kehle zersprungen war. Da ging ich weiter und freute mich. Der Tod ist nichts Erfreuliches, aber ich freute mich doch, ich kann nichts dafür. Aber nun ist der Tag dahin, und weil ich noch soviel Arbeit weiß in dem engen Gäßchen, darum bin ich so froh, daß morgen auch noch ein Tag ist.«
Zehn, nein! zwanzig, dreißig – ein ganzes Heer von Sonnenstrahlen schwirrten darauf durcheinander, und der dickste von ihnen bat sich das Wort aus und sagte: »Einigkeit macht stark! Wir sind den ganzen Tag zusammen gegangen. Natürlich konnten wir da nicht in so ganz enge Straßen dringen. Wir machten ein großes Haus ausfindig, mit vielen hohen Fenstern. Viele davon waren verhüllt, aber oben war ein Saal, der ganz hell und luftig war, da standen viele Bettchen in Reihen, und darin saßen und lagen, spielend, schwatzend, auch zum Teil seufzend und manche sogar brummend und übellaunig, viele Kinder, größere und kleinere, fast alle mit bleichen Backen. Und dazwischen gingen Frauen hin und her mit großen, blau-weißen Schürzen, ›Schwestern‹ nannten sie die Kinder. Die teilten Frühstück aus, wuschen, kämmten, verbanden die kleinen Patienten. Und hernach gab eine ein hübsches 34 Spiel an mit einem Ball aus Zeugstücken, den man an einer Schnur von Bett zu Bett schleudern konnte. Das gab einen Hauptspaß. Wir stahlen uns zu allen Fenstern hinein und mochten gar nicht mehr weiter. Es gab da auch gerade genug zu tun für uns. Ein kleiner Bub mit der Streckmaschine an seinem Bein jammerte unaufhörlich. Er tat mir so leid, ich besann mich hin und her, was ich ihm sagen könnte, daß er wieder fröhlich würde, und ich machte mich ganz nahe zu ihm her. Da lachte er plötzlich vergnügt auf. Ich hatte mich, ohne es zu sehen, gerade auf ein winziges Stückchen Spiegelglas gesetzt, das auf seinem Tischchen lag. Und da warf ich einen hellen Lichtstreifen auf seine Decke. Das gab ein hübsches Spiel. Er drehte und wendete das Glasstückchen bald so, bald so, und ich mußte, weil ich gefangen war, in der Hand des kleinen Burschen tanzen, hierhin und dorthin. Und bald rief's im ganzen Saal: ›O ein Sonnenvögelein! Wer fängt's?‹ Und die Händchen haschten danach, und der kleine Schelm im Bett vergaß Schmerzen und Kummer über dem Spiel mit mir. Und als der Doktor kam und fragte: ›Nun, Fränzchen, wie geht's heute?‹ kam die fröhliche Antwort: ›Ganz gut, ich habe ein Sonnenvögelein gefangen.‹«
»Und ich,« fiel ihm ein anderer Sonnenstrahl ins Wort, »ich habe einem der kleinen Mädchen sein verlorenes Zehnpfennigstück aufgefunden. Es hatte die blanke Münze geschenkt bekommen und sich den ganzen Morgen besonnen, wozu sie angewandt werden solle. Zu einem Badepüppchen oder einer Orange oder, wenn's reichte, zu einem Resedastöckchen für der Pflegschwester Geburtstag? Und da war sie plötzlich unter das Bett gerollt und noch weiter fort und konnte trotz Besen und Stangen nicht 35 aufgefunden werden. Aber ich schlüpfte geschwind hinter den Schrank, wo in einer Fußbodenritze aufrecht das kleine Ding steckte, und spiegelte mich solang darin und machte die Münze blitzen und glitzern, bis das die Schwester entdeckte und den Ausreißer in ein Beutelchen steckte. Da war das kleine Mädchen wieder getröstet.«
»Oh, wir könnten den ganzen Tag lang forterzählen,« riefen viele Stimmen durcheinander. »Wißt ihr noch die vielen Ameiseneier, die wir in dem großen Garten hinter der Stachelbeerhecke ausbrüteten? Und wie das allmählich anfing zu krabbeln und zu zappeln, als die gelben Häutchen sprangen?«
»Und wie wir bei der großen Hausreinigung im Doktorhaus mithalfen? Puh, der Staub, der in der Bodenkammer in allen Fugen und Ritzen lag! Wir hüpften dahin und dorthin und riefen den Mägden immer wieder zu: ›Hier sind noch Spinnweben und da noch Staubflocken! Und unter dem Kasten liegt ein wollenes Tuch, darin hausen die Motten!‹ Die Mägde konnten uns kaum nachkommen. Aber als sie fertig waren, sperrten sie sämtliche Fensterflügel weit auf und ließen recht geflissentlich die Sonne hereinsehen, die dann auch übers ganze Gesicht lachte, weil alles glänzend sauber aussah. Da nahmen wir aber Reißaus, sie sollte nicht denken, wir strolchen da nur so zur langen Weile herum!«
»Ja, das war lustig,« sagten sie und lachten. »Aber nachher wurde es noch viel lustiger. Ihr andern habt alle so ernsthafte Sachen erlebt, aber es gibt doch auch noch eine ganze Menge fröhlicher Leute auf der Welt. Da läuft doch so ein munterer kleiner Fluß zwischen Erlen und Weidengebüsch das Tal hinunter. Und da, wo er einen breiten, flachen See bildet, ein Stück hinter der 36 Sägemühle, da war die ganze Bubenschar aus dem Städtchen – und wenn auch nicht die ganze, so doch die halbe zum baden versammelt. Heidi, da ging es heiter zu. Wie sie plätscherten und spritzten und Schwimmversuche machten! Es war nicht loszukommen. Wir badeten mit und schwammen auf den Wellen, und die Buben wollten uns haschen, aber wir waren schneller als sie. Jetzt hier und jetzt dort und dann wieder im Gebüsch. Wir verstanden nicht all den Spaß, den die Buben anstellten, aber wir lachten tapfer mit, und das ist das Allerklügste, was man tun kann.« »So, woher wißt ihr denn das so genau?« fragte einer dazwischen.
»Ach,« sagten sie, »das sagte der Lehrer, der zur Aufsicht da war. Die Buben hatten einen, der sich vor dem Untertauchen fürchtete, ganz gewaltig gespritzt, daß er vor lauter Schrecken unters Wasser fuhr. Und nun stand er da und pustete und schnappte und machte ein Gesicht, als ob er weinen oder mit den Fäusten dreinfahren wollte.
›Nun sei gescheit,‹ sagte der Lehrer, ›und trockne dir die Augen aus, und dann lachst du mit. Das ist das Allerklügste, was man tun kann.‹ Seht ihr's, daher wissen wir das.«
»Ein böses Gewissen haben wir ganz und gar nicht bei der Sache. Das darf die Sonne wissen, daß wir so lustig waren. Darum kann man doch seine Pflicht tun, wenn man auch Freude und Vergnügen dabei empfindet. Wir wärmten die Kleider, die am Ufer lagen, und trockneten die Buben ab, als sie aus dem Wasser stiegen. Ja, so sehr waren wir bei der Sache, daß der Lehrer zu einem, der am Ufer stand und das Baden nötig hatte und doch nicht hinein wollte, ganz ernst sagte: ›Schäm' dich vor 37 der Sonne, du Schmutzfinke.‹ Da waren wir so eine Art von Gesundheitspolizei, und das ist durchaus nichts Kleines.« Und dann lachten sie aufs neue und freuten sich schon auf den andern Tag. Da wollten sie noch viel fröhlicher und freundlicher und fleißiger sein, und wer sich das vornimmt, der kann sich auch wohl auf den andern Tag freuen, auch wenn er nicht mit so einer hellen, heiteren, flinken Schar herumschwärmen kann, wie diese Sonnenstrahlengesellschaft war.
Er muß vielleicht sein Stückchen Helle und Wärme allein herumtragen. Das mußten viele von den Sonnenstrahlen auch. Das haben wir schon gesehen, und nun kamen noch mehr solche und erzählten ihre Geschichte, und keiner von ihnen war ganz umsonst.
»Ich weiß nicht, wie das geht, ich scheine völlig zum Polizeidiener bestimmt zu sein,« sagte einer, ein sehr dünner, leuchtender, scharfer Strahl. »Da habe ich zuerst in aller Frühe einen Knecht im Pferdestall entdeckt, der saß und rauchte, und die Pferde standen noch ungeputzt. Ich mußte mich ordentlich durchwinden, um durch das schmutzige Fensterlein zu dringen, und weil ich absolut keinen Schmutz vertragen kann, beleuchtete ich die zottigen, staubigen Pferdemähnen, die erdigen Hufe, den schmierigen Wasserkübel so lang und so scharf, bis sich der Träge endlich erhob und brummte: ›Muß schon spät sein, daß die Sonne schon da hereinkommt! Potztausend, und mein Herr will fahren! Da heißt's sich sputen!‹
Das war auch meine Meinung, und ich konnte denn nun weitergehen. Aber gleich ein Stückchen weiter wäre ich um ein Haar über einen Buben gestolpert, der kniete im Geißenstall an der einzigen Geiß, die der ganzen Familie zur Nahrung diente, und molk sich ein Schüsselchen 38 Milch vorweg. ›Du Schlingel, sollen die kleinen Geschwister zu kurz kommen?‹ rief ich ihm zu und sah ihm ernsthaft in die Augen. Da wurde der Missetäter über und über rot, setzte das Schüsselchen, das er schon am Mund gehabt hatte, weg und goß den Inhalt in den großen, noch leeren Topf, der daneben am Boden stand. ›Wenn nur die Mutter käme,‹ murmelte er, ›daß man bald etwas zu essen kriegte. So einen Hunger und Durst, wie ich habe. Aber ich trinke ja schon nichts von der Milch, gewiß nicht.‹ Da ertönte ein heller Ruf: ›Hansjörg, gleich komm und hilf mir den Sack überleeren,‹ und der Bub sprang davon, froh, vom Ort der Versuchung loszukommen. Ich war so froh, daß er's nicht getan hatte, und er war auch froh und hatte nichts mehr dagegen, daß ich ihm nachher auf dem Schulweg voraustanzte und sein krauses Haar streichelte. Aber wie ich sage, es muß mir anhangen, daß ich überall den Büttel machen soll! Unterwegs, als ich aufmerksam in ein kleines Seitenweglein, zwischen Obstgärten, hineinlugte, sah ich einen großen, starken Burschen, er mochte vierzehn Jahre zählen, der schlug unbarmherzig auf einen kleinen, zarten Kameraden los. ›Willst du wohl das Dings freilassen?‹ schrie er in hohen Tönen. Der Kleine deckte seine Hand krampfhaft über eine Stelle in einem Haselbusch. Es war, wie ich näher hinsah, ein Vogelnest mit fünf nackten, piepsenden Vöglein drin, das der Große ausnehmen und der Kleine beschützen wollte. Ich tat mein möglichstes, den großen Bengel zu überzeugen, daß er unrecht tue, aber er hörte gar nicht danach hin, auch nicht, als ich ihm drohte, die Sache anzuzeigen. Der Kampf war zu ungleich, der kleine Junge mußte die armen Vöglein preisgeben, und der große band sie sich ins Taschentuch, weiß nicht, was er damit wollte. ›Wenn du nur 39 gegen einen einzigen Menschen den Mund auftust, dann sieh mal zu,‹ drohte er seinem Kameraden und schüttelte beide Fäuste, und er hatte tüchtige. Dann steckte er das Taschentuch mit den Vöglein in eine Mauerlücke und trollte davon. Aber ich schwieg nicht still, ich fürchtete mich nicht vor dem Bengel; ich schritt so lang vor der Mauer auf und ab, bis der Lehrer auf dem Schulweg daherkam, dem zeigte ich das Taschentuch, und ich merkte, daß er nun das übrige besorgen werde.
In der Schule, wohin ich ihm gefolgt war, hielt der Lehrer dann zuerst eine Ansprache an die Kinder. So genau weiß ich die nicht mehr, aber es kam viel davon drin vor, daß die Unbarmherzigen auch einmal unbarmherzig behandelt werden würden, und daß, wer gegen Tiere unbarmherzig sei, es auch gegen Menschen werden würde. Und dann zeigte er den Kindern seinen Fund und fragte sehr nachdrücklich, wem das Taschentuch gehöre. Es war mit F. G. gezeichnet, und aller Augen richteten sich auf den kleinen Frieder, der blaß und zitternd dasaß. Der große Fritz, der weiter hinten saß und die gleichen Anfangsbuchstaben hatte, sah frech und breitspurig um sich und schielte halb drohend, halb verächtlich nach dem Kleinen hin. ›Frieder, ist das möglich, hast du die kleinen Vöglein aus dem Nest genommen? Gehört das Taschentuch dir?‹ Der kleine Frieder sah so verängstigt und scheu aus, daß man wohl denken konnte, er fühle sich schuldig. Es war aber nur die Angst vor dem Fritz, der ihm eine drohende Grimasse nach der andern schnitt. So schüttelte er nur zaghaft den Kopf. ›Antworte,‹ fuhr der Lehrer scharf fort, ›was hast du mit der Sache zu tun? Keine Ausflüchte! Leugnen macht die Sache noch schlimmer.‹ – ›Ich, ich hab's nicht getan, gewiß nicht,‹ brachte der 40 Kleine zitternd heraus. Er wußte, entweder hatte er des Herrn Lehrers Haselstock und noch obendrein seine große Unzufriedenheit zu spüren – oder aber, wenn er den wahren Sachverhalt gestand, war keine Ruhe vor dem mächtigen Fritz zu finden. ›So sag, ob du etwas sonst davon weißt; das kommt mir doch so vor! Antwort!‹ Der Kleine erbarmte mich ganz, ich wollte ihm helfen und wußte nur nicht recht, wie? Da entdeckte ich in dem Taschentuch einen großen Blutfleck und dann noch einen, und da mich die Sache stark interessierte, machte ich den Lehrer darauf aufmerksam. Der wandte sich einen Augenblick von dem Frieder ab, ließ seine Augen prüfend über die ganze Klasse gleiten und sagte: ›Hat sich gestern oder heute jemand geschnitten oder sonst verletzt? Wer etwas solches weiß, der sage es.‹ Nun hatte der große Fritz am Tag vorher mit einem neuen Messer geprahlt und sich dabei in den Daumen geschnitten, und es war ja natürlich, daß sich sofort unwillkürlich aller Augen nach ihm wandten, der immer noch versuchte, ein freches Gesicht zu machen. Jetzt fiel dem Lehrer erst ein, daß das ja wohl der Missetäter sein müsse, er hatte nur nicht gleich an den Namen ›Gleichner‹ gedacht, man sagte sonst nur ›des Bachbauern Fritz‹. Ich beleuchtete recht angelegentlich die Schnittwunde am Daumen seiner linken Hand, die der böse Bube ängstlich zu verdecken strebte. Und dann beleuchtete ich auch sein Gesicht, und der Lehrer sagte: ›Komm nur heraus, Fritz! Man sieht's dir an, daß du es bist, und ich hätte mir das denken können.‹ Da half alles Leugnen und Toben des großen Buben nichts mehr, er verriet sich je länger, je mehr, und ich hörte noch von weitem, als ich mich aus dem Staube machte, das Klatschen des Haselnußstocks auf dem breiten Rücken und Sitzfleisch des Burschen. 41 ›Die Sonne bringt alles an den Tag,‹ hatte der Lehrer auch noch gesagt, und damit hatte er diesmal mich gemeint.«
»Ich weiß eigentlich nicht, ob ich's sagen soll,« beteiligte sich jetzt ein kleiner blasser Sonnenstrahl am Gespräch. »Ich besuche nun schon manchen Tag, immer zu einer bestimmten Stunde, einen Mann, der sitzt in einem düsteren Gewölbe mit einer eisernen Tür und vergitterten Fenstern. Und er empfängt mich immer mit ähnlichen Worten, wie du vorhin sagtest, warte, wie heißen sie doch?« – »Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch an die Sonnen!« »Aber ich erzähle euch seine Geschichte nur, wenn ihr mir helfen wollt, ausfindig zu machen, was an die Sonne gehört.« »Ja, ja, natürlich wollen wir,« schwirrte es durcheinander. »Der arme Mann hat zu Haus eine Frau und viele Kinder und lebte froh und glücklich mit ihnen. Aber da ist ein Mensch, der ihn immer beneidete und ihn haßte, der sann und sann so lange, bis er etwas ausfindig gemacht hatte, was den braven Mann zeitlebens unglücklich machen mußte. Er steckte ihm seine Scheuer und sein Haus in Brand und sagte dann vor Gericht aus, er habe gesehen, daß es der Familienvater selbst getan habe, um viel Geld von der Feuerversicherung zu bekommen. Da wurde er auf lange Zeit eingesperrt, und der Böse lebt in Freuden und denkt, daß es niemals an den Tag komme. Aber mein einsamer Mann im Gefängnis hofft von Tag zu Tag, und oft höre ich ihn sagen: ›O Gott, nimm mir den Hoffnungsstrahl nicht, daß noch alles an den Tag kommt.‹ Sehet, deswegen gehe ich immer ganz allein in die dunkle Straße und durch die düstere Mauer, und wenn ich eines Tages nicht käme, würde der Arme denken, nun sei die 42 Sonne verlöscht und könne es nicht mehr an den Tag bringen.«
Da entstand, als er geendigt hatte, eine große Beratung unter den Sonnenstrahlen. Der eine wollte geradeswegs vor Gericht gehen und anzeigen, was er wußte. Der andere schlug vor, mit vereinten Kräften das Haus des Bösewichts anzuzünden, der dritte ihn, sobald er sich im Sonnenlicht blicken lasse, auf den Kopf zu stechen. Aber damit war dem Gefangenen nicht geholfen. Da kam Frau Sonne, die eben all ihre zerstreuten Kinder zur Nachtruhe in ihr goldenes Haus rufen wollte, leise heran. Sie hatte die Beratung gehört und sprach lächelnd: »Und doch bringt es die Sonne an den Tag. Der Brandstifter muß sich selbst verraten. Ich bin Tag um Tag daran, ihn dazu zu treiben. Das macht, er weiß, daß ich zusah, als er das böse Werk vollbrachte. Er glaubte, keiner sehe es, und plötzlich merkte er, daß ich, die er schon untergegangen glaubte, noch beide Augen auf sein schlimmes Tun gerichtet hatte. Nun kann er seither mein Licht nicht mehr ertragen. Und ich verfolge ihn und lasse ihm keine Ruhe, bis er selber hingeht und seine Schuld eingesteht. Er ist nicht mehr weit davon, denn er hält's beinahe nicht mehr aus.« So sprach Frau Sonne, und dann rief sie die müden Strahlenkinder herein und schloß den Vorhang zwischen sich und den Menschen: »Auf morgen denn, auf morgen!«
Es wanderte durch die Abendkühle beim letzten Scheidegruß der sinkenden Sonne ein Häuflein Menschen, Eltern und Kinder, auch eine betagte Großmutter war dabei. Die hatten, solange der Tag dauerte, rüstig geschafft, ihr Feld bestellt, und jedes hatte nach seiner Kraft sein Tagewerk beschickt. Nun sahen sie fröhlichen Herzens 43 den Feierabend winken, unbetrübt, daß die Sonne schied, sie kam ja mit jedem neuen Morgen wieder.
Nein, noch einen besseren Trost hatte die alte Großmutter. Sie sah mit hellen Augen die letzten Strahlen verglühen, dann sagte sie und lächelte dazu:
»Fahr hin, ein' andre Sonne,
Mein Jesus, meine Wonne,
Gar hell in meinem Herzen scheint!« 44