Anna Schieber
Gesammelte Immergrün-Geschichten
Anna Schieber

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Das braune Krüglein.

Ein freundlicheres Haus als das des Töpfermeisters Hähnle gab es im ganzen Städtchen nicht. Es gab viel größere, schönere Häuser, das ist wahr. Da war das Pfarrhaus, das weiß angestrichen war und grüne Läden hatte und sogar eine Veranda, und die Apotheke, zu der eine breite, steinerne Treppe mit einem eisernen Geländer dran hinaufführte, und noch manches andere stattliche Haus. Und Hähnles Haus war eigentlich nur ein Häuslein. Es lag in der Zwieselgasse, dicht am Stadtbach, gerade da, wo der hölzerne Steg hinüberführt zu den wenigen Häusern, die dort am Ende des Städtchens stehen, und die man miteinander »die Armutei« nennt. Aber wenn die Leute aus der Armutei über den Steg herüberkamen, dann sahen sie wie in ein freundliches, lachendes Menschenangesicht hinein, so lachte das Häuslein sie an. Vor allen Fenstern waren Blumenbretter bis hinauf an das kleine, dreieckige Dachfensterlein, das ganz im spitzen Giebel steckte. Und auf den Blumenbrettern glühte und blühte es zusammen, vom ersten Frühling an bis in den späten Herbst hinein. Da hingen weiße und rote Nelken herunter in so üppiger Fülle, wie man sie sonst fast nirgends finden konnte, und standen vornehm aufrecht die prächtigsten Levkojen, lila und weiße, rosa und rote, und steckten die Geranien ihre Blütenbüschel zusammen, daß es einen großen, 200 brennenden Strauß gab, und je nach der Jahreszeit gab es da rankende Kapuziner und Winden, und Gelbveigelein und andere fröhliche Blumenkinder, die durcheinander hin blühten, daß es eine Freude war. Das konnte man den Blumenbrettern und den hellen Fenstern dahinter, so niedrig auch die Scheiben waren, und dem ganzen Haus ansehen, daß sie alle in einer guten, pflegenden Hand standen. Selbst die grauen, verwitterten Fensterläden sahen fröhlich aus, denn es waren ihnen rote Herzen aufgemalt; einige von den Herzen waren etwas schief geraten, aber das tat der Freude keinen Eintrag. Die roten Herzen hatte ihnen Konrad aufgemalt, das war der älteste Sohn des Hauses und schon zwölf Jahre alt. Unter ihm kamen noch sieben kleine Hähnlein, eins davon lag noch in dem großen, alten Kinderwagen, der aus des Vaters Kindheit stammte. Aber sah man es den Blumenbrettern und dem ganzen Hause an, daß sie in guter Pflege standen, so sah man es am allerbesten den Hähnleskindern an. Einige von ihnen waren gewöhnlich vor dem Haus zu sehen. Links von der Ladentür, dicht unter dem kleinen Fenster, das ein Schaufenster vorstellen sollte, stand ein niedriges Bänklein, das der Vater selbst gezimmert hatte; daran spielten sie mit Steinchen, Sand und Gräsern, aber am liebsten spielten sie mit Lehm; daraus bildeten sie Schüsseln und Krüge, und dann eröffneten sie gleichfalls einen Laden und kauften einander ab, was sie gemacht hatten. Steine waren Geld, und grüne Blättchen waren Butter und Eier; denn die Bauernfrauen aus der Umgegend gaben am liebsten Butter oder Eier an Zahlungs Statt, wenn sie irdene Schüsseln oder Milchtöpfe kauften, und darum machten es die Kinder auch so.

201 Sie hatten alle runde, rotbackige Gesichter, die Hähnleskinder, blond waren sie und blauaugig. Alle nicht, Konrad, der Älteste, und Peterlein, der Zweitjüngste, der erst seit einem halben Jahr gehen konnte, geradeso lang, als das Jüngste auf der Welt war, hatten krause, dunkelbraune Haare und braune Augen, aber rund und rotbackig waren sie auch. Sie sahen der Mutter ähnlich, während die Blonden nach dem Vater geartet waren.

Wenn sie auf dem Bänklein spielten, dann kam immer wieder auf einen Augenblick die Mutter heraus und nickte ihnen allen heiter zu, oder sie nahm das allerjüngste aus dem Korbwagen und verschwand mit ihm ins Haus. Ja, die Mutter, die war das Beste, Freundlichste vom ganzen Haus. Darüber waren sich alle einig: die Leute aus der Armutei und die Leute aus dem Städtchen, sowohl die vornehmen als die geringeren, und die Kinder und der Lehrjunge, das kleine Laufmägdlein und der Vater. Der Vater am allermeisten. Sie hatte nicht viel Zeit übrig, sie hatte so viel zu schaffen, daß es einen nur wundern mußte, wie es zu allem reichte. »Aber«, pflegte sie zu sagen, »das ist bei den Müttern so. Das ist bei mir nichts Besonderes. Da tut der liebe Gott ein Extrawunder, und dann reicht es.«

Denn sie hatte nicht allein das Haus rein zu halten und den Mann und die acht Kinder zu versorgen mit Nahrung und Kleidung und noch ein liebreiches Auge auf die Blumenbretter zu haben und dem und jenem alten Weiblein oder armen Kindlein aus der Armutei ein wenig wohlzutun – sie war auch noch eine Künstlerin und führte den Malpinsel, und wenn die Familie Hähnle auf etwas stolz war, dann war sie darauf stolz. Das andere, das verstand sich mehr von selber. Den 202 Malpinsel handhabte sie auf den Schüsseln und Tellern, den Tassen und Krügen, die ihr Mann formte. Und es war den Hähnleskindern ein seltenes Vergnügen, dabei zuzusehen. Jetzt gerade hatte sie ein neues Muster, das hatte sie selbst erfunden. Es war eine Schwarzwaldlandschaft mit drei Tannen: ein breiter, brauner, welliger Querstrich mit dem Pinsel, das war das Erdreich; dann etwas Blaugrünes, drei oder vier Hügel in Abstufungen, das war der Hintergrund, sozusagen die Fernsicht; dann kamen die Tannen, braune Stämme und grüne Zweige. Es ging wie gehext. Das war aber auch gut, denn gerade dieses Muster wollten sie nun alle haben: die Geschirrhändler, die auf Messen und Märkte gingen, die Leute, die mit »Andenken« handelten und ihre Buden an Badeorten aufschlugen, und die wenigen Fremden, die in das Städtlein kamen. Es war auch sonst gut, daß es der Mutter so flink von der Hand ging. Denn da nun allmählich acht Hähnleskinder da waren, so wollte es nicht so recht hinreichen zu all den Höslein und Röckchen, Schuhen, Strümpfen und Hemden. Und obgleich der Vater die Schüsseln und Teller selber machte, so wollten sie doch auch alle Tage gefüllt sein, und sie waren immer leichter geleert als gefüllt. Auch hatte der Vater ein sorgliches Gemüt und seufzte oft, wenn er nicht recht hinaussah, wie es in der Zukunft werden sollte. Und flink war er auch nicht; er mußte so vieles bedenken unter seine Arbeit hinein, da geschah es oft, daß seine Hände wie selbstvergessen mitten im Werk ruhten. Wenn das die Mutter sah, dann trieb es sie, immer noch fleißiger die Hände zu regen; denn gleichfalls sorglich werden, das wollte sie nicht gern, da ihr der liebe Gott ein so freudiges Herz mit auf die Welt gegeben hatte, daß es 203 für die ganze Familie zu einem Freudenquell ausreichte. Nicht für die Familie allein. Davon konnten die Leute aus der Armutei reden. Die Mutter hatte nicht viel zu verschenken; aber sie hatte, was mehr ist als Gold, sie hatte ein Herz für die andern. »Das darf ich wohl haben,« sagte sie, »nicht jedes wird einen so freundlichen Weg geführt in eine Heimat hinein.« »In eine Heimat hinein? Wie ist denn das? Man wird doch in seiner Heimat drin geboren?« Konrad und Annelene streckten miteinander den Kopf zu dem kleinen dreieckigen Fensterlein der Dachkammer heraus und sahen zu, wie drunten vor dem Haus die Mutter mit dem Kleinsten auf dem Arm, das gerade seinen Schoppen getrunken hatte, stand und seine Bäckchen an ihr Gesicht hin drückte in großer Zärtlichkeit. Es war Sonntag nachmittag, und darum feierten sie alle, die Kinder hier oben und die Mutter da drunten. Annelene war das zweite von den Hähnleskindern, zehnjährig. Sie hatte lange, blonde Zöpfe und blaue Augen, und sie war Konrads Vertraute. Sie wußte, daß er modellieren und malen lernen wollte und daß er dann die allerschönsten Gefäße machen wollte, viel schöner, als der Vater konnte, und eine Fabrik errichten und noch vieles tun. Sie glaubte auch, daß er es tun würde; denn der Konrad war ein Geschickter, und zudem konnte man noch gar nicht wissen, wieviel Schönes in der Zukunft geschah. Jetzt gerade besah sie angelegentlich den weißen Nelkenstock, der auf dem Blumenbrett stand und von dem die Mutter heute eine ganze Menge Blüten abgeschnitten hatte. Sie hatte zusammen mit dunklem Immergrün ein Kreuzlein daraus gemacht, und Annelene hatte es mit der kleinen Schwester Lies in die Armutei tragen müssen. Dort war ein kleines Kindlein gestorben. Vorhin hatte man es begraben. Die 204 Leichenträgerin hatte das weiß angestrichene Särglein auf dem Kopf getragen, da war als einziger Schmuck das Kreuzlein drauf gelegen. Annelene war ein klein bißchen hochmütig und Konrad eigentlich auch. Sie konnten beide nicht recht begreifen, warum die Mutter sich so besonders freundschaftlich mit den Allergeringsten abgab. Sie war doch eine ganz rechte Bürgersfrau, und dann – die Kinder strebten vielmehr danach, mit den »Herrenkindern« auf dem Marktplatz zu spielen, als in die elenden Häuslein über dem Bach drüben zu gehen. »Ein Seil hat die Stiege gehabt statt einem Geländer,« sagte Annelene zu Konrad, »und das tote Kindlein ist nur so auf einer Bank gelegen, weil sie sein Bettlein für das Größere gebraucht haben. Und als ich's der Mutter erzählt habe, da hat sie so vor sich hin gesehen und hat erst nach einer Weile gesagt: »Ich hab' einmal eins gesehen, ein so herziges, das ist nur auf dem Waldboden gelegen auf einem alten Tüchlein, und man hat es auch im Wald begraben.« – Annelene sah zu Konrad hinüber, der mit einem Bleistift auf einem Stücklein Papier hantierte und jetzt nur sagte: »Ach, das ist eins. Da, guck einmal, das gibt eine Blumenvase mit zwei Henkeln. Die probier' ich einmal zu formen, ganz heimlich, und wenn sie mir gerät, dann schenk' ich sie der Mutter zum Christtag. Dann kann sie sie auf das Eckbrett stellen mit einem Strauß drin, und das alte, braune Krüglein kann man dann forttun, das immer dort steht.« Da ging jetzt gerade die Tür auf und die Mutter kam herein. Sie hatte nach ihren zwei Großen sehen wollen und hatte gerade noch die letzten Worte gehört. »Was ist's mit dem Krüglein?« sagte sie. »Das Krüglein, das ist mir lieb und wert, das bleibt an seinem Ehrenplatz. Aber kommet jetzt herunter, Kinder. Wir 205 wollen noch eine Weile zusammensitzen vor dem Haus, und mich dünkt, ich müsse euch eine Geschichte erzählen, die mir grad heut im Kopf herumgeht.« Eine Geschichte? Ja, da waren die Großen gleich dabei, nicht nur die Kleinen.

Als sie hinunter kamen vor das Haus, da saß schon der Vater auf dem Bänklein und hatte seine Sonntagspfeife angezündet. Er sah ganz froh und aufgeräumt aus, denn nun lagen einmal die Werktagssorgen und -gedanken hinter ihm für ein paar Stunden, und er konnte sich an seinem Weib und seinen Kindern freuen in der Ruhe des Sonntagnachmittags. Die Kleinen spielten um ihn herum, und auf der Hausstaffel saßen drei von den größeren und vergnügten sich auf ihre Weise, indem sie aus einem großen Vorrat von Löwenzahnstielen Ketten machten. Aber alle kamen sie nah zusammen, als die Mutter sich zum Vater auf das Bänklein setzte und heiter sagte: »Was meinst, Vater, mich dünkt, ich müsse den Kindern einmal die Geschichte von dem braunen Krüglein erzählen, es wird Zeit dazu, sonst wollen mir's meine Großen nicht mehr an seinem Platz lassen.« »Das wäre! Die kämen mir an.« Der Vater nahm die Pfeife aus dem Mund und wollte noch mehr sagen, aber die Mutter legte ihm die Hand auf den Arm: »Sei nur still, es kommt dann schon anders,« und dann fing sie an:

»Es sind einmal Geschirrleute gewesen, Vater und Mutter und ein Häuflein Kinder, die haben kein Haus gehabt zum Wohnen und zum Schlafen, nur einen Wagen, der auf vier Rädern stand und den ein mageres Rößlein zog. Damit sind sie dahin und dorthin gefahren, wie es das tägliche Brot wollte, das sie sich so unterwegs suchen mußten auf Messen und Märkten und in den Dörfern 206 oder auf den einsamen Schwarzwaldhöfen. Früher, da hatten sie einmal in einem eigenen Häuslein gewohnt, weit weg von da, droben auf der Schwäbischen Alb. Dort hatte der Vater sein Geschirr selber gemacht, allerlei irdenes, wie man's ins Haus braucht, und er hatte das Rößlein nur angeschirrt, wenn allemal die großen Märkte waren in den Städten. Da fuhr er mit der Mutter hin und mit einem tüchtigen Wagen voll Schüsseln, Kasserollen und Töpfen, die er alle selber gemacht hatte und die sie nun dort verkaufen wollten. Reich sind sie nicht geworden dabei, aber es hat doch immer zum Leben gereicht. Und wenn die Kinder beim Heimkommen der Eltern erwartungsvolle Gesichter gemacht haben, so ist's nie ganz umsonst gewesen. Es ist immer etwa eine Brezel oder ein farbiges Taschentüchlein für ein jedes im Reisesack gewesen, auch einmal ein schönes, buntes Bild in einem Goldrähmchen, darauf der gute Hirte mit einem Schäflein auf der Achsel abgebildet war. Zu diesem Bild hat die Mutter ein schönes Lied gewußt, das hat sie den Kindern oft gesungen am Sonntagabend, wenn sie schon in ihren Betten lagen. Damals war eine schöne Zeit. Aber dann ist einmal ein böses, schweres Jahr gekommen. Mit einem Hagelschlag hat es angefangen. Der ging auf der großen Messe nieder, als die Eltern gerade ihr schönes, gutes Geschirr ausgebreitet hatten zum Verkauf. Nie vorher und nie nachher hat eins von ihnen ein Gewitter so schnell aufziehen sehen und so schnell und schwer sich entladen in großen zackigen Eisstücken. Da ist nachher nur ein Scherbenhaufen gewesen, wo das glänzende Geschirr gestanden war; den mußten sie noch aufladen und fortführen. Und dann kehrten sie heim auf ihre Alb. Diesmal gab es nichts Mitgebrachtes; denn das Geld, das sie 207 hatten lösen sollen, das war fast für ein halbes Jahr der Arbeitslohn gewesen. Aber schwerer als das lag es auf der Mutter, das hat sie nachmals oft erzählt, daß der Vater von da an ein schweres, bedrücktes Gemüt mit sich herumtrug. ›Du wirst sehen, es kommt noch mehr,‹ sagte er immer; ›das ist nur ein Vorbote gewesen, das mit dem Hagel. So schlägt's uns vollends alles zusammen, denk an mich.‹

Die Mutter tröstete ihn, so gut sie konnte. ›Das wird ja nicht sein müssen,‹ sagte sie. ›Anderen Leuten ist auch schon ihr Feld verhagelt worden, darum sind sie noch nicht zugrund gegangen. Das kommt auf uns an, wie wir's tragen, ob es gut oder bös für uns ist? Komm,‹ sagte sie heiter, ›jetzt gehen wir wieder frisch an die Arbeit. Bis zur Ulmer Messe müssen wir noch einmal so viel Ware beieinander haben. Verhungern müssen wir noch nicht. Mußt auch ein Vertrauen fassen. Das ist nicht schwer, so lang es einem gut geht, aber jetzt, jetzt gilt's.‹

Aber es hat alles nichts geholfen. Es ist wohl eine Krankheit gewesen, daß der Vater nicht anders hat können als jammern, und das ist ja dann freilich das größere Unglück schon von selber gewesen. Öfter als sonst hat die Mutter in diesem Sommer und Herbst den Kindern und sich selber ein Abendlied gesungen und hat ihre Sorgen damit wegsingen wollen. Das Lied: ›Befiehl du deine Wege‹, das haben die Kinder damals allein vom Zuhören gelernt. Aber der Vater hat nie mitgesungen, wenn auch die Mutter meinte, es täte ihm gut.

Als die Ulmer Messe kam, war fast kein Geschirr da; es verlohnte sich gar nicht, hin zu fahren. Und da kam dann eins aus dem andern. Zuerst konnte man den Zins nicht zahlen für die Schuld, die noch auf dem Häuslein 208 stand, und mußte neue Schulden machen. Dann, im Winter, wurde der Vater recht krank und eins ums andere von den Kindern. ›Ich hab's ja gesagt,‹ sagte der Vater, so oft sich wieder eins legte, ›es kommt immer noch mehr.‹ Und da ging nun auch wirklich noch einmal ein Hagelwetter über das Haus nieder. Aber diesmal traf es kein irdenes Geschirr, diesmal traf es die zwei frischen, netten Buben, die an der Halsbräune erkrankt waren. Man hatte zuerst Hausmittel angewendet, weil man meinte, man könne den Doktor sparen; und als er dann kam, war es zu spät. Da wollte es der Mutter auch fast das Herz brechen in Leid und Jammer. Aber es kam wieder eine Hilfe. Das kleine Unglück hatte den Vater niedergeworfen; das große, das ihn im tiefsten Herzen packte, das machte sein Gemüt wieder still und fromm. Da sind sie beide miteinander am ersten schönen Frühlingstag auf die Gräber ihrer Kinder gegangen, der Vater mußte sich auf die Mutter stützen, weil er noch schwach war von der Krankheit. Aber sie machten's miteinander aus, daß sie tragen wollen, was komme, und denken, es sei so gut für sie und vom lieben Gott geschickt; und die Mutter dünkte es nun alles nur halb so schwer zu sein. Sie hat es wohl brauchen können, daß sie nicht mehr allein war zum Tragen, denn es kam noch viel dazu.«

»Ja, ja, ich mach' das lieber kurz,« unterbrach sich die erzählende Mutter; denn ihr Mann hatte ihr leise die Hand gedrückt und auf die horchenden Kindergesichter gezeigt. »Ich weiß wohl, sie verstehen's noch nicht so, ich bin nur ganz in die alten Zeiten gekommen in meinen Gedanken.« Und sie drückte ihr Kleinstes liebreich an sich, strich dem Peterlein über sein dunkles Kraushaar und fuhr fort:

209 »Sie sind nämlich das Geld auf ihrem Häuslein einem Menschen schuldig gewesen, der es nicht gut mit ihnen gemeint hat. Und eines Tags haben sie draus ausziehen müssen und sind arm und heimatlos gewesen, denn es hat ihnen nichts mehr von allem gehört, was sie vorhin besessen haben, als das Rößlein, ein paar Betten, Tische und Stühle und etliches irdene Geschirr, mit dem der Vater einen Handel beginnen wollte drunten im Land. Es ist kurz zuvor ein alter Freund von ihm gestorben gewesen, der einen grünen Wagen besessen hat, der Hafenmarte, wie man ihn in seiner Heimat geheißen hat, weil er im Land umher mit irdenen, in Draht gebundenen Kochgeschirren gehandelt hat. Der hat noch vor seinem Tod gesagt, daß sein Wagen den armen, heimatlosen Leuten gehören soll. Als sie aber mit schwerem Herzen ihr bißchen Hausrat hineinräumen wollten, da fanden sie an die Wand geheftet ein Stück Papier, darauf stand in großen, ungefügen Buchstaben:

›Da, wo ich wollt' zu Hause sein, da hat man mich verjaget,
Jetzt wandre ich landaus, landein, solang es für mich taget.
Es ist die Welt ein Wanderszelt, wohin man auch geloffen;
Erst dem, der geht aus dieser Welt, dem steht die Heimat offen.‹

Da sah die Mutter den Vater herzlich an und sagte: ›So wollen wir denn auch getroste Wandersleut sein, wie es der Hafenmarte war und wie es ja die andern auch sind, die in den Häusern wohnen, gelt, Vater?‹ Der nickte nur, denn leicht gefallen ist es ihnen beiden nicht, aber sie haben sich drein geschickt mit ehrlichem Herzen und das ist ihnen nicht unbelohnt geblieben. Unter den Spruch des Hafenmarte aber ist noch einmal ein Stücklein Papier 210 geheftet worden, darauf stand: ›Wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir.‹

Die Kinder freilich, die haben das Wanderleben leichter genommen, besonders die Kleinen. Drei hatten sie noch, zwei Buben von vier und fünf Jahren, und ein Töchterlein, das schon neunjährig war, das älteste von allen Kindern, dem die verstorbenen Brüder im Alter am nächsten gestanden waren. Die Kleinen jauchzten, als sie fahren durften, so in den frischen Morgen hinein, und es gefiel ihnen auch, bald da, bald dort zu wohnen. Wenn man sein Haus so hinstellen kann, wo man will, bald in ein schönes, schattiges Wiesen- oder Waldtal, bald auf eine Anhöhe, von der man weit ins Land hineinsieht, bald an ein Dorf hin oder in eine Stadt hinein, das sieht ja freilich vergnüglich aus, und es war schon eine Wohltat, daß es die Kinder freute. Freilich, es war nicht lauter Lust. Manchmal waren die Brotstücklein arg klein, die die Mutter austeilen konnte, und in dem Kessel, der auf dreifüßigem Gestell hinter dem Wagen stand über dem Feuer, kochte oft wenig genug für die hungrigen Mäuler. Und doch ist's oft schön gewesen, wenigstens kam es den Kindern so vor. Man zog mehr und mehr gegen den Schwarzwald hin und blieb endlich ganz darin. ›Das ist das allerbeste für unsern Vater,‹ sagte die Mutter heiter. ›Manche reiche Leute wären froh, wenn sie's hätten wie wir und könnten hinziehen, wo es so gesund ist.‹ Denn der Vater hatte von jener Winterkrankheit her einen bösen Husten behalten, der wollte gar nicht mehr weichen. ›Da, so riech nur einmal,‹ sagte die Mutter, wenn sie den Wagen in eine Lichtung gestellt hatten, von wo aus sie die umliegenden Höfe heimsuchen wollten. ›Wenn es auf die Tannen geregnet hat und 211 dann wieder die Sonne drauf scheint, das gibt eine Luft, die ist wie die lautere Gesundheit.‹ Der Vater probierte es auch, die ›lautere Gesundheit‹ recht tief einzuatmen, und die Kinder taten zur Gesellschaft mit, so konnten sie die Gesundheit gleich im Vorrat in sich aufnehmen. Nur daß der Vater dann noch stärker husten mußte als vorher und ganz müde und angegriffen auf einem Baumstumpf sitzen mußte. ›Das ist nur, bis du's gewöhnt bist,‹ tröstete die Mutter. ›Ich hab' schon sagen hören, das sei ein gutes Zeichen, wenn einen die Luft so angreife, dann komme es bald besser.‹ Wenn das die Kinder hörten, so waren sie ganz überzeugt, daß es bald besser kommen werde; die Mutter, die mußte es ja wissen. Derweil genossen sie, was es jetzt schon Schönes gab. Im Wald wuchsen Erd- und Heidelbeeren, später auch Himbeeren und Brombeeren. Da gab es immer etwas zu schmausen als Zugabe zum trockenen Brot. Und alles das geheimnisvolle Leben im Wald, das nur der kennen lernt, der seine Heimat darin hat, das tat sich den fahrenden Kindern auf. Die ersten Maiblumen, und einmal eine Wiese, auf der die seltensten Orchideen in ihrer fremdartigen Schönheit standen, und ein verlassener Steinbruch, in dem es rot glühte von einem ganzen Teppich, aus den reifsten Erdbeeren gewoben. Und da ein Vogelnest mit jungen, zwitschernden Vöglein in einem wilden Rosenbusch, und dort ein Rehlein, das mit seinen Jungen ganz nah herankam und sich nicht fürchtete, als ob es wisse, daß Schonzeit sei. Ja, es war schön; die kleinen Buben merkten nicht, daß der Vater immer mühseliger unter seinem Tragkorb daherkeuchte, sie sahen nur, daß ihn die Mutter viel öfter als sonst ablöste, wenn es auf Wegen ging, da man nicht mit dem Rößlein hin fahren konnte. Das Töchterlein, das 212 Luischen, das wußte mehr von der dunklen Wolke, die immer zu ihren Häuptern mitzog, denn es lebte mit der Mutter, und wenn es ihr seine Sprüche und Lieder hersagte, dann sah es, wie die Mutter oft tief aufatmete, wie eins, das eine schwere Last trägt. ›Mutter, was hast du?‹ fragte es dann manchmal, und die Mutter sagte: ›Kind, es ist, weil der Vater so elend ist. Aber wir wollen nicht hinaussorgen. Komm, sag mir deinen Spruch noch einmal, er hat mir wohlgetan.‹ So lernte das Luischen mit der Mutter den Ernst teilen, den das Leben über seine jungen Jahre schon gebracht hatte. Und bald lernte es auch noch mehr; denn es mußte eine Hausfrau sein und ein Mütterlein, als drinnen im tiefen Wald ein kleines Kindlein geboren wurde und die Mutter im Bett bleiben mußte manchen Tag lang. Da mußte das große Töchterlein kochen und die Brüder versorgen und den Vater und die Mutter in ihrem Bett, es hatte genug zu laufen den ganzen Tag, das dürfet ihr mir glauben. Als aber das Kindlein getauft war, drunten im nächsten Dorf, und die Mutter wieder auf die Handelschaft gehen mußte, da hatte das Luischen das kleine Schwesterlein zu versorgen, ganz allein. Und das war ihm das größte Glück und eine tägliche Freude, wenn es draußen unter den Tannen saß auf einem Schemelchen, und das kleine Kindlein lag ihm auf dem Schoß und machte die blauen Äuglein auf und spielte mit den winzigen Fingerlein.

Aber einmal, da hatte das Kleine sein Gesichtlein so kurios verzogen und dann auch die Händlein verdreht, ein oder zweimal, und dann hat es die Äuglein zugemacht und ist ganz still dagelegen. Der Vater lag drin im Wagen zu Bett und hustete schrecklich. Und das kleine Mütterlein hatte eine große Angst im Herzen und wagte 213 sich nicht zu rühren. Die Brüder hatten heute mit der Mutter ausziehen dürfen; ein jeder hatte eine Schnur mit daran angefaßten Krüglein über die Achsel hängen. Wollten sie denn gar nicht mehr kommen? Doch, endlich kamen sie. Aber als die Mutter sich über das Kleinste beugte, da wurde ihr Gesicht ganz ernst und still, und sie küßte es leise in sein bleiches Gesichtlein hinein und sagte: ›Es wacht nicht mehr auf, Luischen. Es ist ganz eingeschlafen, der liebe Gott hat es zu sich genommen in seinen Himmel.‹ Und dann weinten sie miteinander. Das Luischen konnte es gar nicht fassen, daß das Schwesterlein nur so still da in seinen Armen gestorben sei. Aber die Mutter zog es still zu sich her und sagte: ›Es ist ihm gut gegangen, Kind. Es muß nicht aufwachsen in so viel Leid und Sorgen hinein, es hat es gut bei den Engelein, wir wollen es ihm gönnen.‹

Dann haben sie es begraben auf einem kleinen Kirchhof, der lag mitten im Wald um ein Kapellchen herum und gehörte zu einem armen Dörflein; und dann sind sie weitergezogen. Lang hat es nicht mehr gedauert mit dem Herumziehen. Der Vater wurde so krank, daß er das Fahren gar nicht mehr ertragen konnte, und als sie einmal in ein kleines Städtlein kamen, da mußten sie froh sein, daß sie ein Unterkommen fanden in einem Haus, das der Gemeinde gehörte. Man nannte es das Armeleuthaus; denn es war für arme, obdachlose Leute bestimmt, und die Gegend, in der das Haus mit einigen andern armseligen Häuslein stand, nannte man die Armutei.

Das waren schwere Tage und doch auch wieder schöne. Denn dem Vater war es auf einmal, als ob alle Sorgenlasten von seiner Seele abgenommen seien, so friedlich und fröhlich wurde es ihm ums Herz. Er lag in seinem 214 Bett und atmete schwer, und drunterhinein sagte er zur Mutter: ›Es ist mir, es müsse euch noch gut gehen auf der Welt. Und mir, mir geht's auch gut.‹

Und es ging ihm auch gut. Einmal in der Nacht wachte das Luischen auf an einem leisen Gesang und wunderte sich, daß die Mutter auf sei und daß sie mitten in der Nacht singe. Es war ein schönes Lied, das Luischen wußte am andern Tag noch die Worte daraus:

›Da will ich sicher wohnen und nicht mehr als ein Gast
Bei denen, die mit Kronen du ausgeschmücket hast.‹

Aber es war wieder eingeschlafen gewesen, eh' das Lied zu Ende war. Und am Morgen lag der Vater ganz still da und mußte nicht mehr schwer atmen und nicht mehr husten, und die Mutter saß an seinem Bett in der Morgensonne und hatte auch ein stilles Gesicht und sagte zu den Kindern: ›Jetzt müssen wir ohne den Vater sein, so lang wir leben. Aber der liebe Gott will noch unser Vater sein, und der stirbt nicht.‹

Als nun der Vater draußen lag auf dem Kirchhof, da fing die Mutter aufs neue an, mit dem Tragkorb auf dem Rücken in den Dörfern umherzugehen, um das tägliche Brot für sich und die Kinder zu erwerben. Das Rößlein und den Wagen hatte sie verkaufen müssen, es hatte nicht viel Geld gegeben, denn sie waren beide alt und klapperig, aber es reichte zu den Krankheits- und Begräbniskosten. Und zum eigentlichen Hungerleiden ist's nicht gekommen.« So weit hatte die Mutter erzählt. Da steckte auf einmal der Vater seine Pfeife, die ihm schon lange ausgegangen war, in die Tasche und sagte: »Von jetzt an will ich's vollends sagen.«

»Die drei Kinder aus der Armutei gingen von da 215 an im Städtchen in die Schule; denn die Mutter hatte sich in einem der armseligen Häuslein, die dort stehen, um ein Billiges eingemietet. Eng war es da und niedrig; das schmale, dunkle Treppchen hatte nur ein Seil statt eines Geländers. Aber freundlich war es doch. Die Mutter zog überall Blumen an den Fenstern, und wer da am Abend vorüberging, der konnte meinen, es wohnen die allerfröhlichsten Menschen in dem Häuslein; denn da tönte ihm ein Gesang entgegen von einer schönen Frauenstimme und von drei Kinderstimmen.

Die zwei Buben, die gewöhnten sich nicht so leicht an das seßhafte Leben, in der Schule und im Haus, und manchen Tag mußte der Lehrer vergeblich nach ihren Plätzen hinblicken, die blieben unzweifelhaft leer. Aber wenn sie dann kamen, dann sahen sie so frisch drein und hatten immer den Finger in der Höhe zum Antworten. So recht böse konnte man ihnen doch nicht sein.

Aber das Luischen, das war erst recht ein Feines. Blond und hell von Gesichtsfarbe war es und immer freundlich und so sauber, daß man's gar nicht merkte, wie arg zusammengeflickt sein Röcklein war. Und singen konnte es, man hörte es aus allen heraus. Da war auch in der Schule ein Bub, ein wenig älter als das Luischen, der sah immer ein wenig trübselig drein, wenn er auch schon gute Kleider anhatte und niemals im Sommer barfüßig ging wie die Kinder aus der Armutei. Er war schmal von Gestalt und ein wenig kränklich und kleiner als die andern Buben seines Alters. Sein Vater war ein Hufschmied gewesen und hatte sich jetzt zur Ruhe gesetzt in dem kleinen Hause, das ihm noch gehörte, nachdem er dem ältesten Sohn das Haus und Gewerbe am andern Ende des Städtleins übergeben hatte. Denn er war schon 216 ein alter Mann, als der Heiner erst geboren wurde, und seine Frau starb ihm, als das Büblein kaum den Mutternamen sagen konnte. Der Vater und die Brüder, das waren lauter große, starke Leute; sie wußten gar nicht recht, wie sie zu dem zarten Pflänzlein kamen in ihrer stattlichen Familie. ›Das ist man gar nicht gewöhnt bei uns,‹ sagten sie, ›aber es wird denk' wohl bald der Mutter nachsterben.‹ Gret, die alte Magd, die den Witwer und seinen Buben versorgte, sagte es auch. ›O Büble,‹ sagte sie, ›ich ging gern in meine Heimat, wenn nur du nicht wärst. Ich hab' einen Hausanteil daheim, ich hätt' schon zu leben. Aber sei nur ruhig, solang du noch lebst, bleib' ich vollends da.‹

Aber der Heiner wuchs dennoch auf, wenn auch als ein Schattenpflänzlein. Da kam eines Tags, als er allein vor dem Schulhaus stand, das Luischen auf ihn zu und sagte: ›Warum tust du gar nie mit, wenn die andern spielen?‹ Der Heiner wurde blutrot; denn er war es nicht gewöhnt, daß man ihn darum fragte. Er war fast immer allein, aber das war eben so. Er hätte sagen können, daß er fast immer müde sei. Aber er sagte nichts, er schob nur hilflos beide Hände in die Hosentaschen. Aber das Luischen ließ sich nicht so schnell draus bringen. ›Du,‹ sagte es, ›meine Buben haben Krebse gefangen im Bach. Jetzt hat einer den Jörg gezwickt mit seiner Schere, tüchtig. Der hat anders geschrien. Die Mutter hat aber gesagt, das tut dem Jörg nichts, er soll die Krebse in Ruh' lassen.‹ Auf diesen Bericht wußte der Heiner wieder nichts zu erwidern. Er spürte aber doch, daß er jetzt auch etwas sagen müsse. Da nahm er einen Anlauf und sagte: ›Wir haben reife Jakobiäpfel, einen ganzen Baum voll.‹ Da war das Staunen am Luischen. Einen ganzen Baum 217 voll! ›Daheim in Neuhausen haben wir auch einen Apfelbaum gehabt,‹ sagte es. ›Die Mutter sagt, so gut gebe es sonst gar keine Äpfel im ganzen Land.‹ ›Deine Mutter weiß etwas Rechtes, die wär' froh, wenn sie hätt',‹ platzte der Heiner heraus; denn die Jakobiäpfel waren das Allerbedeutendste, das er aufzuzeigen hatte, die durfte man ihm nicht angreifen. Aber das Luischen hatte noch etwas viel Größeres aufzuzeigen als Äpfel, das war die Mutter. ›Meine Mutter weiß wohl etwas Rechtes,‹ flammte es auf, ›die ist schon so weit herumgekommen, vielleicht weiter als die deine.‹

Da wurde es dem Heiner wind und weh; er hätte aber nicht sagen können, warum. Er sagte nur ganz still für sich hin: ›Ich hab' ja gar keine.‹ Da wurde das Luischen auch still. Es war so unbegreiflich, daß es das geben sollte, daß ein Kind keine Mutter habe. Und der rasch aufflammende Zorn ging ebenso schnell in das tiefste Mitleid über.

Von da an war eine feste Freundschaft zwischen den zwei Kindern. Sie kamen nicht zueinander ins Haus, aber sie hielten doch zusammen, in der Schule und in den Freistunden. Der Heiner brachte dem Luischen in seinen Hosentaschen von den strittigen Jakobiäpfeln mit, und das Luischen erzählte ihm am andern Tag, die Mutter habe gesagt, sie seien fast so gut wie die von Neuhausen. Die Mutter kam überhaupt fast in allem vor, was das Luischen zu sagen und zu erzählen hatte, es merkte aber, daß der Heiner dann immer noch stiller wurde, wenn es die Mutter so recht gerühmt hatte.

Da fehlte der Heiner einmal in der Schule, es war an einem Wintertag, und dann noch viele Tage hintereinander. Und es hieß, er sei sehr krank am Fieber und 218 ob er wieder aufkomme, das könne noch kein Mensch sagen. Das Luischen aber strich um das Haus herum mit einem immerwährenden Verlangen, hineinzukommen und den Heiner zu sehen. Da kam einmal die alte Gret unter die Tür und sagte ganz gnädig: ›Du darfst schon geschwind herein; er hat schon oft nach dir gefragt, wenn er wach gewesen ist. Er macht's nicht mehr lang, glaub' ich. Er redet immer von einer Mutter, das muß die seinige sein, die wird ihn holen wollen.‹ Aber das Luischen dachte, es tue es vielleicht auch eine andere Mutter bei dem Heiner. Und eine bessere als die seine konnte ja nirgends sein. So lief es denn heim und sagte flehentlich: ›Mutter, du mußt zu dem Heiner gehen, sicher, er muß nur eine Mutter haben, dann wird er wieder gesund.‹ Und, so sind die rechten Mütter, sie besann sich gar nicht lang. Ein Fläschchen von dem guten Himbeersaft, dazu die Kinder die Beeren droben im Schwarzwald selber gesammelt hatten, nahm sie mit, und aus ihrem bescheidenen Warenvorrat ein braunes, irdenes Krüglein, darauf stand in hellen Buchstaben: ›Aus Liebe.‹ Das wollte sie dem mutterlosen Kinde schenken. Als sie in die Kammer trat, lag der Heiner mit weit offenen, heißen Augen da, warf sich unruhig hin und her und stöhnte leise. Die Gret aber sagte: ›So ist es jetzt immer, ich weiß mir in so Sachen nicht zu helfen.‹ Und der Vater streckte auch den Kopf zur Tür herein und sagte: ›Da kann eins nicht viel dabei tun.‹ Aber die Mutter hatte schon mehr kranke Kinder besorgt, der Heiner war nicht das erste. Ganz ruhig und liebreich ging sie auf das kranke Büblein zu und sagte: ›Grüß Gott, Heiner, ich hab' dich einmal besuchen wollen,‹ und legte ihre kühle Hand auf seine heiße Stirn. Dem Heiner wurde 219 es wie noch nie vorher in seinem Leben, das weiß er heute noch. Wie es einem Vögelein im Nest sein muß, wenn es die Mutter zudeckt. ›Guck, was ich dir Gutes mitgebracht habe,‹ sagte die Mutter. Da hatte sie das Krüglein in der Hand, darin funkelte der schöne, rote Saft, den sie mit frischem Wasser gemischt hatte. ›Jetzt mußt du trinken und dann schlafen, dann wirst du wieder gesund.‹ Da faßte der Heiner das Krüglein mit seinen beiden Händen, und trank in langen Zügen und sah drunter hinein die mütterliche Frau an, die vor ihm stand. Dann legte er sich matt zurück. ›Bist du dem Luischen seine Mutter?‹ fragte er. ›Ja, Büblein, und wenn du gesund bist, dann mußt du zu uns kommen, dann kannst du auch Mutter zu mir sagen, wenn du willst.‹ ›Bleib da,‹ sagte der Heiner und hielt die kühle Hand fest, die die seinige hielt; die andere lag auf seiner Stirn. Dann fiel er in einen langen, tiefen Schlaf.

Was soll ich weiter erzählen? Der Heiner ist wieder gesund geworden, nicht auf einmal, aber nach und nach. Als er wieder aufwachte, stand das Krüglein neben ihm und war leer. Und die freundliche Frau war fort. Die Gret aber gab ihm wieder zu trinken, und es schmeckte dem Heiner aus dem Krüglein, als ob er die lautere Gesundheit tränke. ›Sie soll wiederkommen,‹ sonst hatte er keinen Wunsch. Aber die Mutter war auf der Wanderschaft mit ihrem Geschirr und kam erst spät am Abend heim. Da stand der alte Hufschmied vor dem Häuslein und sagte: ›Wenn es zu machen wär', daß die Frau zu meinem Buben käm' eine Weile, es soll mich kein Geld reuen.‹ Und es ist dabei doch auch eine Zärtlichkeit und eine Angst in seiner Stimme gelegen. Da ist die Mutter mit ihm gegangen und hat die Nacht an des kranken 220 Bübleins Bett zugebracht und hat ihm mit leiser Stimme ein schönes Lied gesungen, wenn es unruhig wurde, und hat es ganz mit Liebe zugedeckt. Diese Nacht und noch so manche. Denn die Gret war wirklich altersschwach und konnte nicht mehr so recht.

Als aber der Heiner gesund geworden war in der mütterlichen Pflege, da spürten sie's beide, der alte Vater und der Bub, daß sie noch weiter aus dem Krüglein trinken müssen, auf dem ›aus Liebe‹ steht. Und sie haben darum angehalten, daß die Leute aus der Armutei miteinander in ihr Haus kommen; denn da war Platz für alle, und in dem Herzen der Mutter, das wußten sie, da war auch Platz für alle. Und so haben sie's gehalten, und es hat sie nie gereut, keins von ihnen. Die Gret ist in ihr Altenstübchen und in ihre Heimat zurückgekehrt, und die Mutter hat mit rüstiger Kraft das Haus versorgt und die Leute drin, und den armen Kindern ist's wohl geworden in der neuen Heimat, aber am allerwohlsten ist's doch dem Heiner gewesen. Der fing jetzt jeden Satz mit ›Mutter‹ an. Sogar sein alter, grauhaariger Vater nannte sie so, sie hat gar nicht anders heißen können als Mutter.«

Der Sonntagnachmittag neigte sich zum Abend. Die Hähnleskinder schmiegten sich eng um Vater und Mutter. Sie meinten's noch nie so recht gespürt zu haben, wie gut sie es hatten.

»Vater, gelt, der Heiner bist du? Und das Luischen die Mutter?« Annelene sagte es fast schüchtern; es war soviel Neues durch sie hindurchgegangen an diesem Nachmittag. Die Mutter strich ihr von hinten her sachte über das weiche Haar. »So, hast du das herausgefunden, Kind? Und was meinst, lassen wir das braune Krüglein stehen? Es hat uns viel Gutes gebracht.« Sie schwieg eine Weile, 221 als ob sie in die alten Zeiten zurücksähe. Dann sagte sie: »Als wir Hochzeit hatten, der Vater und ich – der Heiner und das Luischen –, da hat unsere Mutter noch gelebt, und wir haben zu dritt einen guten Wein aus dem Krüglein getrunken, und die Mutter hat als Trinkspruch gesagt, und das sag' ich jetzt auch:

›Jungsein, Schönsein, Ehr' und Gut, das muß vergehen,
Aber was die Liebe tut, das bleibt bestehen.‹

Und jetzt wollen wir ins Haus gehen. Es ist kühl geworden.« 222

 


 


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