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Kalkutta

8. Januar. Gestern nachmittag um vier Uhr haben wir Benares mit schwerem Herzen verlassen. Der Zug war durch Pilger aller Kasten überfüllt, und wir mußten froh sein, mitgenommen zu werden und ein Coupé zweiter statt erster Klasse zu bekommen. Nach achtzehnstündiger Fahrt trafen wir heute früh zehn Uhr in Kalkutta ein, wo uns am Bahnhof das gewohnte, aufgeregte Gewühl empfing. Wir hatten im »Grand-Hotel« Zimmer bestellt, fanden aber dort keinen Platz und dankten dem Geschick, als uns das »Hotel Continental« aufnahm. Hier in Kalkutta finden wir zum erstenmal nach zwei Monaten Nachrichten von zu Hause – es war eine unsagbar freudige Sensation.

Die direkte Postverbindung nach Europa findet regelmäßig jede Woche einmal statt. Alle Sonntage verläßt ein englischer Dampfer der » Peninsular and Oriental Society«, der sogenannten P. and O., Bombay. Das Telegraphenwesen ist in Indien sehr praktisch eingerichtet. Man kann auf dreierlei Art depeschieren, »eilig«, »gewöhnlich« und »aufgeschoben«, was eine Preisdifferenz von ein, zwei und drei Annas für das Wort, inklusive Adresse, ausmacht. Man wählt meist »gewöhnlich«. Als eine sehr nachahmungswerte Verfügung verdient Erwähnung, daß unbestellbare Telegramme in den gelesensten Zeitungen Bombays und Kalkuttas nach Wortlaut und Adresse veröffentlicht werden.

Kalkutta zählt eine Million Einwohner und liegt am Hugli, dem schiffbaren Hauptarm des Gangesdelta. Die britisch-ostindische Kompanie hat 1698 das kleine Dorf Kalighat gekauft, welches sich in den letzten zwei Jahrhunderten zu dem größten Handelsplatz Indiens entwickelte und einen hochbedeutenden Import- und Exporthandel betreibt. Seit 1773 ist Kalkutta Sitz der britisch-indischen Regierung. Neunhundert englische Meilen vom Meere entfernt, gilt es trotz der fortgesetzten Sanierungsversuche, die in den letzten Jahren gemacht wurden, als sehr ungesund. Während unserer Anwesenheit starben im Distrikt Kalkutta wöchentlich zwölftausend Menschen. Das hiesige Trinkwasser ist, wie in ganz Indien, lebensgefährlich, es entstammt zum Teil dem Ganges, zum Teil ist es Regenwasser, welches aus den tausend Tanks, die rings um Kalkutta liegen, bezogen wird. Alles Wasser kommt nur filtriert in Gebrauch, ist aber trotzdem bloß für Eingeborene genießbar.

Gegenüber unserm Hotel liegt auf der ausgedehnten Esplanade, die hier »Maidan«, d. i. Wiese, heißt und etwa eineinhalb Kilometer lang ist, inmitten eines prachtvollen Gartens der vizekönigliche Palast, ein großer, weißer Kuppelbau mit dorischen Säulen und gewaltigen Portalen. – Die Esplanade durchziehen stattliche Alleen. Die Rasenplätze sind durch eine Menge Teiche unterbrochen, und marmorne Denkmäler verdienter Generale, wie abgegangener Vizekönige stehen auf den Wiesen umher.

Das Gekrächz der Raben ist hier in Kalkutta wieder ohrenzerreißend. Ich wollte nach dem Tiffin eine Stunde schlafen, aber es war unmöglich, einen Augenblick Ruhe zu finden. Die Vögel vollführten einen mörderischen Spektakel, und zu dem Gekreisch des schwarzen Orchesters sang ein schreiender Tenor, so laut er konnte, »über'n Garten durch die Lüfte hört' ich Wandervögel zieh'n!« – Die Hitze ist fürchterlich, und es erfordert sehr viel Energie, um bei der entsetzlichen Temperatur Interesse für das moderne Kalkutta zu haben, das nach dem uralten heiligen Benares unbeschreiblich nüchtern wirkt, wir werden uns deshalb darauf beschränken, nur den weltberühmten botanischen Garten und ein Theater der Eingeborenen zu besuchen.

Der botanische Garten liegt leider sehr weit außerhalb der Stadt. Seine größte Sehenswürdigkeit ist die berühmte, große Banyane – Ficus indica –, deren Kronenumfang tausend Fuß mißt, und unter deren Schatten sechstausend Menschen stehen können. Weit breitet der Wunderbaum seine Aeste aus, Hunderte von Luftwurzeln (ca. 467) senken sich in die Erde und bilden, zu neuen Stämmen erstarkend, einen wirklichen Märchenwald. Unter dem Baum, in den lauschigen Lauben und Pergolas, auf den länglichen und runden Plätzen, welche die einzelnen Stämme schaffen, und die dicht mit Schlinggewächsen überwachsen sind, treffen sich heimlich Paare, versammeln sich Gesellschaften zum five o'clock tea, ohne daß einer den andern geniert oder zu Gesicht bekommt. Merkwürdig ist die Tatsache, daß der Banyanenbaum selten aus der Erde wächst. Vögel fressen seine Feigen, und der Samen fällt hierbei in die Kronen der Palmen, wo er keimt und sich entwickelt.

Im Jahre 1782 stand auf dem Platze, auf dem wir jetzt den Schatten des Riesen-Banyanenbaumes genießen, ein Palmbaum, aus dem er entsproß, und unter dem damals noch ein berühmter Fakir saß. Der Garten hat eine ungeheure Ausdehnung. Die herrlichen, mit Palmyrapalmen besetzten breiten Wege im Schritt durchfahrend, kann man die wunderbarsten Gewächse und Bäume ohne jegliche Ermüdung genießen. Alle jene Pflanzen, die wir in unserer Heimat nur im Zimmer oder im Treibhaus in kümmerlichen Exemplaren kennen, wachsen hier zu wahren Riesen empor, bilden üppig wuchernde Gesträuche und dichte Büsche. Parallel mit einer Allee von Königspalmen, zieht sich eine zweite von mächtigen Mahagonibäumen hin, durch Bosketts mit Blüten vom dunkelsten Rot bis zum hellsten Rosa und Lila unterbrochen. Man wähnt sich in Klingsors Zaubergarten. Statt der Treibhäuser stehen hin und wieder »Schattenhäuser«, d. h. ganz mit dichtem Laub überzogene Holzgestelle, in denen bei dämmerigem Licht und schwüler Feuchte Farne und Orchideen in unzähligen Arten gezogen werden. Tritt man in das Halbdunkel dieser grünen Lauben, so fühlt man die Sinne schwinden und glaubt sich einer Ohnmacht nahe. – Der Garten ist ein Meisterwerk der sogenannten »englischen« Anlage. Durch das waldige Gebüsch sind entzückende Ausblicke über weite, saftige Wiesen geschaffen. Kleine Teiche, über die sich herrliche Bäume biegen, unterbrechen die grüne Fläche, und es ist wirklich schade, daß der Garten zu weit von der Stadt entfernt liegt, um einen wiederholten Besuch zu gestatten.

Abends nach dem Dinner unternahmen Graf Lippe und ich eine Exkursion in das »Native-Theater«, während Alfred zu einer englischen Operettengesellschaft ging. Der Wirt hatte unsern Kutscher genau instruiert, ihm gesagt, zu welchem Theater er uns bringen solle, und so hielten wir einen Führer für überflüssig, unterließen sogar, unsern Boy mitzunehmen. Es war ein abenteuerliches Unternehmen, allein in die Nacht hinauszufahren, in einer Stadt, in der wir gänzlich fremd waren, in einem Lande, von dessen Sprache wir so gut wie nichts verstanden. Wir fuhren etwa dreiviertel Stunden durch abgelegene Stadtviertel und hielten schließlich vor einem stockfinsteren Bau. Auf der untersten Stufe der Treppe, die an dem Hause hinaufführte, saß eine weiß vermummte Gestalt. Sie verstand nicht, was wir frugen, und wir nicht, was sie sagte, wohl aber begriffen wir, daß in einem so stillen, dunkeln Gebäude keine Theateraufführung stattfinden könne. Wir gingen an den Wagen zurück. Hier erklärte uns der Kutscher, soviel wir aus seinem Kauderwelsch und aus seinen Gesten errieten, wir sollten es in einem andern Theater versuchen. Wir nickten »ja«, sagten » yes«, und in rasendem Tempo wurde das Pferd durch die Straßen des Chinesenviertels gehetzt. Alle Läden waren noch hell erleuchtet, überall saßen die »Bezopften« fleißig an ihrer Arbeit. Immer weiter ging es durch finstere Gassen, zwischen hohen Mauern hin, vorbei an düsteren Palästen aus der portugiesischen Zeit. Dunkle Schatten schlichen an langen, geheimnisvollen Häusern flüchtig entlang und verschwanden eilig in hohen Torbogen. Seltsam unheimlich wirkte diese Oede und Stille, in der man nur den Hufschlag des galoppierenden Pferdes hörte. Wir atmeten auf, als die Straßen heller und breiter wurden, als wir einen Droschkenstand erblickten und wir uns der Zivilisation um einiges näher fühlten. Wieder hielten wir vor einem schwarzen Gebäude. Ein weißer Zettel glänzte aus der Finsternis hervor und wir konnten »Savitri« auf demselben entziffern. Wir sprachen vorübergehende Eingeborene an – aber niemand verstand uns. Da traten zwei Mohammedaner auf uns zu, die einen dritten stützten. Dieser dritte war schwer betrunken, sprach aber ein paar Worte Englisch und erklärte uns lallend, daß nur Samstag und Mittwoch gespielt würde. – Heute aber war Donnerstag. – Befriedigt von der Erfahrung des Abends befahlen wir »Hotttelll«, wie die Eingeborenen Hotel aussprechen, wir hofften, unser Kutscher werde uns verstehen. Es schien auch so, denn er wendete das Pferd und raste fort. Aber statt zum Hotel, ging es wieder durch schmale Gassen mit hohen dunkeln Mauern rechts und links, über winkelige Plätze, auf denen halb verfallene Häuser sich an einst stolze Paläste lehnen. So oft wir »Hotttelll« schrien, so oft nickte der Kutscher mit dem Kopf und hieb auf das Pferd ein. Wir fühlten uns dem Manne auf dem Bock gänzlich preisgegeben, er konnte hinfahren, wohin er wollte, wir konnten nicht aussteigen, denn wir vermochten uns nicht einmal zum Hotel »zurückzufragen«.

Einen Moment dachten wir an all die Möglichkeiten, die Kalkutta besaß, um uns spurlos verschwinden zu lassen. Wir verschwiegen uns gegenseitig unsere Besorgnis, sahen uns nur hilflos an. Da, um eine Ecke biegend, erblickten wir eine hell erleuchtete Bude, und der Wagen hielt. Es war der Billettschalter des »Curzon-Theaters«, das nach dem Vizekönig genannt ist, aber einer Spelunke zum Verwechseln ähnlich sieht. Graf Lippe erkundigte sich am Schalter nach den Preisen der Plätze, und da die Loge den vertrauenerweckenden Satz von sechs Rupien zeigte, beschlossen wir es mit dem Theater zu versuchen. Ueber eine breite, stelle Treppe, die dem vizeköniglichen Theater vorgelegt ist, tappten wir in den ersten Stock. Wir wurden durch dämmerige Gänge in eine dunkle Loge geführt und traten in ein ärmlich beleuchtetes Theater, in dem gähnende Leere herrschte. Ein geschmackloser, europäischer Vorhang war herabgelassen. Die Sitze des Parketts bedeckten weiße Ueberzüge. Alles war leer, nur die letzten Reihen des Sperrsitzes hielten etwa zwanzig Natives besetzt, die mit den Füßen auf den Stühlen hockten. Im ersten Rang saßen außer uns elf Personen, darunter eine Parsenfamilie. Der Mann in blauer Seide, die Frau, eine Eingeborene mit dem reinsten Affenkopf, à l'Européenne in weißen Atlas gekleidet, weiße Glacéhandschuhe an den Fingern. Der Sohn, ein elfjähriger Knabe, in rotem Samt, der sich unaufhörlich geräuschvoll räusperte und sich zu seiner Unterhaltung etwas »vorspuckte«.

Die Vorstellung wollte lange nicht beginnen, man hoffte wohl noch auf mehr Zuschauer. Ein Pfeifen und Scharren wurde laut und der Vorhang rauschte aufwärts. Es ward eine Feerie gegeben. Liebe, Haß und Eifersucht spielten die Hauptrolle, gute Geister schützen, böse rächen – tout comme chez nous –, aber ganz anders ist das Spiel und alles übrige. Wechselgesänge von endloser Länge werden mit näselnder Stimme heruntergeleiert. Die Sänger stoßen die Worte in atemloser Hast nervös hervor; das aus einem Tamburin und einer Holzpfeife zusammengesetzte Orchester begleitet sie. Wir vermochten nicht, eine Melodie in diesen Gesängen zu entdecken, trotzdem fühlten wir, daß es sich um kein willkürliches Gesinge handle, sondern daß diese Töne bestimmte Empfindungen aussprechen sollten, ja, daß sogar manchmal coupletartige Lieder vorkamen. Jedesmal, wenn der eine Partner seinen Gesang vollendet hatte, folgte eine Kadenz, worauf der andere in einer etwas höheren oder tieferen Tonlage erwiderte. Mit tausend Worten wurde in größter Eiligkeit die Partie abgesungen.

Die Bewegungen der Akteure lassen sich kaum beschreiben. Sie sind in unserm Sinne nicht als solche zu bezeichnen. Die Schauspieler stehen ganz steif in der Mitte der Bühne nebeneinander. Alle Gesten werden nur mit dem Unterarm, hauptsächlich aus dem Handgelenk ausgeführt, alle sind kurz und klein. Aehnlich wie sich eine Katze die Schnauze und die Ohren putzt, wischen sich die Schauspieler mit den Händen vor dem Gesichte hin und her. Diese kleinen Bewegungen wiederholen sich in einer bestimmten Reihenfolge, jede dieser Serien schließt mit dem Aufstützen der Hände auf die Hüften, und gleich beginnt die nächste wieder. In einer Liebesszene sinkt der irdische Jüngling auf das eine Knie, während das andere aufgestellt einen rechten Winkel bildet, auf dem die himmlische Geliebte Platz nimmt. Aehnlich zwei Holzpuppen, steif und eckig, wie man sie auf den alten Bauwerken Südindiens, den Gopuren, abgebildet sieht, und in eben solchen Kostümen, wie sie dort die alten Götter tragen, erblickt man die Leute vor sich auf der Bühne. Wenn sie stehen, geschieht es mit eingeknickten Hüften und verdrehten Beinen.

Nur einmal kam Leben in die Schauspieler, als der »gute Geist« mit ganz kleinen Schrittchen hinter die Kulissen »abtrippelte«; frenetischer Applaus brach los. Die einunddreißig sichtbaren Zuschauer und die unsichtbaren Frauen, die im zweiten Rang hinter engen Holzgittern saßen, klatschten, jubelten und kicherten. Der »gute Geist« mußte wieder heraustrippeln, sein Gequäke wiederholen, und das Publikum war glückselig.

Wir waren von dem monotonen Gesang, dem gänzlichen Mangel an Handlung auf der Bühne wie hypnotisiert. Halb schlafend stierten wir hinab, und erst als der Vorhang über dem ersten endlosen Aufzug fiel, fanden wir soviel Tatkraft, um aufzustehen und zu gehen. Die Freitreppe herunterkommend, trafen wir unsern Kutscher mit Reiskochen beschäftigt und unser Pferd ausgeschirrt. Es stand, einen Grasbüschel vor sich, umgekehrt in der Gabel. – Da dies Theater erst um zehn Uhr anfängt und vor zwei Uhr nachts nicht zu enden pflegt, hatte sich der Kutscher häuslich niedergelassen. Die Heimfahrt ging im früheren Tempo durch all die unheimlichen Viertel zurück. Ueberall saßen trotz der vorgerückten Stunde – es war zwölf Uhr – noch die fleißigen Chinesen an der Arbeit, und die Eingeborenen rauchten ihre Wasserpfeife hinter den Eisengittern, die, wenn sie geschlossen sind, ihren Häusern das Aussehen von großen Löwenkäfigen geben. Auf kleinen Plätzen hockten neben allerhand Bäckereien und Teetassen in weiß gehüllte, schwach beleuchtete Gestalten und boten den vorübergehenden, fast ausschließlich Chinesen, Erfrischungen an.

Ich war froh, als wir nach dieser tollen Fahrt, während welcher der Wagen wie ein Schlitten von einem Straßenrand zum andern rutschte, uns wieder im Hotel befanden. Der nächtliche Ausflug im abgelegenen natives- und Chinesenviertel, ohne die Möglichkeit, sich irgendwie zu verständigen, hätte schlecht ausfallen können. Alfred kam noch später als wir aus seinem englischen Theater nach Hause. Er hatte sich sehr gut amüsiert, während unser Amüsement mehr einer warnenden Erfahrung glich. Morgen treten wir unsern Ausflug in den Himâlaya an.

 

9. Januar 1903. Das Gepäck, welches wir auf dem Wege von Agra nach Benares verloren hatten, fanden wir gestern in Kalkutta auf dem Bahnhof wieder. Dasselbe lag beim stationmaster, an den wir von Benares aus telegraphiert hatten, um ihn zu bitten, es unter sicheren Verschluß zu nehmen.

Da wir den Ausflug nach Darjeeling nur mit leichtem Gepäck machen wollen, nahm ich heute die Verteilung unserer Sachen vor, eine bei dieser Hitze recht unangenehme Beschäftigung, zumal es sich um unsere wärmsten Kleidungsstücke handelt, deren Berührung allein bei einer Temperatur von einigen dreißig Graden schon beinahe eine Qual bedeutet. Unser großes und ein Teil des kleinen Gepäcks bleibt zur Aufbewahrung im Hotel, allerdings, ohne daß wir dafür irgend eine andere Sicherheit besitzen, als das Versprechen eines Kuli »dafür sorgen zu wollen«. Mit dem Gefühl, ohne Ballast zu reisen – wir haben nur elf Stück Handgepäck, gegenüber den früheren sechsundzwanzig Kollis – fahren wir in drei Droschken auf den Bahnhof Sealdah der »Eastern Bengal«-Eisenbahn.

Obwohl unser Zug erst um vier Uhr Kalkutta verläßt, hatte uns der Manager des Hotels bereits um zwei Uhr aus demselben vertrieben, teils aus Angst, wir könnten zu spät kommen – die Differenz zwischen Stadt- und Bahnuhr macht die Leute nervös – hauptsächlich aber wohl deshalb, um die Zimmer frei zu bekommen, bevor die Züge aus dem Süden neue Passagiere brachten. Was wir in Indien Punkto »Warten« durchgemacht haben, spottet jeder Beschreibung, und würde man die Summe von verlorenen Stunden einerseits, die Energie für die geübte Geduld anderseits in eine Zahl umsetzen, es käme genug Zeit und Kraft heraus, um den Kinchinjunga zu besteigen. Nachdem wir anderthalb Stunden gewartet hatten, konnten wir uns in unserm Coupé installieren; nach weiteren vierzig Minuten setzte sich der Zug mit halbstündiger Verspätung und unter furchtbarem Geschrei in Bewegung. Er war dabei nicht besonders besetzt; nur ein paar reiche » natives« und » halfcasts« machten sich nebst ihrer Dienerschaft breit. Sie führten ganze Körbe von Sodawasser, »Bilatî pâni«, zur Erfrischung mit sich, die sie in ihren Coupés aufstapelten. Außerdem fröhnten sie der Opiumpfeife, welche einen widerlich-süßlichen Geruch verbreitete, der den ganzen Waggon trotz der trennenden Wände durchdrang und geradezu Uebelkeit hervorrief.

Die Landschaft, die wir durchfuhren, erinnert mit ihren herrlichen Palmenhainen, versteckten Ortschaften und den vielen glitzernden Tanks lebhaft an Ceylon. Aus dem dichten Grün heben sich einzelne Riesenbaumkronen scharf gegen den glühenden Abendhimmel ab, während das Palmdach der kleinen Nativehäuser kaum aus dem Gebüsch hervorlugt. – Die Nacht bricht plötzlich ein. Alles versinkt in tiefes Dunkel. Nur die flammenden Feuer, die unweit der Hütten zum Schutz gegen Raubtiere unterhalten werden und sich stundenlang dem Bahndamm entlang ziehen, glänzen zwischen den Bäumen wie leuchtende Irrlichter.

Abends acht Uhr kamen wir nach der Station Damukdia am Ganges, wo wir unser bequemes Coupé verlassen mußten, um mittels eines Dampfbootes das gegenüberliegende Ufer des Stromes zu erreichen. Dort erwartete uns ein Zug zur Weiterfahrt. Dunkel liegt der Weg zum Ganges hinab vor uns. Das Gepäck, das von einem halben Dutzend Kulis aus dem Coupé gerissen worden war, ist nirgends zu sehen. Die Aya und die Boys sind in der pechrabenschwarzen Nacht auch nicht zu entdecken. Doch dies alles regt uns nicht mehr auf. Die schlaffe Luft der Tropen hat unsern Mut gebrochen, und mit ergebenem Achselzucken sehen wir den Ereignissen entgegen. Auf holprigem und sandigem Pfad gelangen wir endlich zum Dampfschiff, das in hundertfachem Lichterglanz erstrahlt, und auf dem sich nach und nach die Boys, die Aya und die Kulis mit unsern Effekten einfinden. – Breit wie ein See liegt der Strom vor uns. Träge und schlammig fließt er dahin, und wer die heilige Ganga hier zum erstenmal erblickt, muß durch sie gründlich enttäuscht werden, denn von irgendwelchem Zauber kann trotz aller Phantasie nicht die Rede sein. Die halbe Stunde, welche die Ueberfahrt nach dem linken Stromufer in Anspruch nimmt, wird durch ein schnelles Dinner ausgefüllt. Von ferne schon sieht man das hell erleuchtete »Sara Ghat«. Ungeheure Feuer flackern, kolossale Windlichter brennen und bescheinen taghell das Ufer und den Bahnsteg. Der Verkehr nach Darjeeling ist um diese Jahreszeit sehr schwach. Alfred und ich erhalten ein Coupé für uns allein, während Graf Lippe, der bisher immer in den Lüften schwebend schlief, endlich auch einmal in einem unteren Bette ruhen kann und allein in einem Kompartiment residiert.

 

10. Januar. Früh um sechs Uhr treffen wir in Siliguri ein, wo wir trotz der frühen Morgenstunde ein regelrechtes Gabelfrühstück mit seinen drei Gängen bereit finden und es, hungrig wie wir sind, wenn auch ohne Vergnügen, verzehren.

Hier in Siliguri beginnt die Bergbahn, die hinauf nach Darjeeling führt und das putzigste ist, was man sich vorstellen kann. Wie ein Riesenspielzeug steht der Zug vor uns. Die einzelnen, trambahnähnlichen Wägelchen sind so klein, daß sie an einem Karussell hängen könnten und man das Gefühl hat, viel zu groß zu sein, um in ihnen Platz zu finden. Der Zug besteht aus einer kurzen, niedrigen, aber kräftigen Maschine, einem Gepäckwagen, einem geschlossenen Waggon erster Klasse und mehreren zweiter Klasse, die, ähnlich wie die Wagen der dritten Klasse, seitlich offen sind. In jedem kleinen Coupé bietet sich auf schmalen Bänken für sechs Personen Platz. Nur in dem einen offenen Wagen der ersten Klasse stehen sechs kleine Armsessel, die aber so eng sind, daß man sich mit aller Gewalt in sie hineindrücken muß, um Raum zum Sitzen zu finden. Alles eilt nach dem offenen Wagen und stürzt sich auf den begehrten Eckplatz, der bei den scharfen Kurven, die die Bergbahn beschreibt, buchstäblich über den Abgründen hängt. Ich wähle einen Mittelplatz, wo ich weniger schwindelig und viel geschützter gegen die Zugluft sitze. Es war beißend kalt, und für uns, die wir seit Monaten meist unter brennender Sonne gelebt, machte sich der Wechsel der Temperatur sehr bemerkbar. Ich zog nach und nach alles an, was ich besaß, setzte eine Schutzbrille auf die Nase, nahm einen Schleier vors Gesicht, wickelte Tücher um den Kopf und zog Gummischuhe an. Aber trotz aller Hüllen fror ich, wurde blau und blauer und thronte immer höher und höher auf meinem Armstühlchen, in das meine dick eingemummelte Figur nicht mehr eindringen konnte. Ein rauher Wind pfiff uns entgegen, der mich sehr an München erinnerte.

Von Siliguri nach Darjeeling sind es fünfzig Meilen, und da in der Stunde nicht mehr wie sieben Meilen zurückgelegt werden dürfen, so fährt man (den Aufenthalt eingerechnet) etwa acht Stunden.

Anfänglich durchschneidet die Bahn ein uninteressantes Flachland mit wohlbestellten Feldern. Doch kaum nach einer Stunde verschwindet die Ebene, und wir dringen in den tiefsten, herrlichsten Urwald ein, wie wir ihn noch nirgends in Indien gesehen haben. In einer Lichtung steht ein Haus auf Pflöcken. Es ist von Europäern bewohnt. Ein grauer Elefant arbeitet im nahen Dickicht. Er ist damit beschäftigt, riesige Baumstämme herbeizuschleppen, und schaut nicht einmal von seiner Arbeit auf, als unsere kleine Lokomotive mit ihren Zwergwägelchen an ihm vorbeikeucht.

Die Bahn läuft lange Zeit der Fahrstraße entlang, die ein Wunderwerk in der Anlage und im Bau bedeutet. Rechts und links erhebt sich eine hohe Pflanzenwand, die kein Auge zu durchdringen vermag. Wie eine Riesenschlange windet sich der Zug in scharfen Krümmungen den Berg hinauf. Den Kopf des Ungeheuers, die wildschnaubende kleine Maschine, können wir bei den kurzen Windungen immer beobachten; pustend speit sie nach allen Seiten Rauch und Dampf aus. Vor der Maschine ist ein Streukasten angebracht, in dem ein Kuli sitzt, der die Schienen mit Sand bewirft, um bei dem steilen Anstieg das Abgleiten der Räder zu verhüten. Immer höher kriechen wir, immer mehr nähern wir uns den Gipfeln der Riesentannen, die tief unten im Tale wurzeln, und jetzt blicken wir in Schluchten voll herrlicher Palmenwälder, wilder Feigen-, blühender Mandelbäume und ungeheurer Rhododendronbüsche. Höher und höher windet sich die Bahn, weiter und weiter wird der Blick über die bewaldeten Berge und tiefen Täler; man sieht hinaus in die Ebene, die sich nach Süden in unendliche Fernen dehnt. Wir hängen über schwindelnden Abgründen, und ich muß die Augen schließen.

Die kleine Bahn, die nur sechzig Zentimeter Spurweite hat, ist kühn und sehr geschickt gebaut. Sie überwindet allzuscharfe Kurven durch große Schleifen, » loops« genannt, und durch einige » reversing stations« (Kopfstationen), auf denen die Lokomotive an das andere Ende des Zuges angekoppelt wird und diesen nun in entgegengesetzter Richtung aufwärts zieht. An einer dieser » reversing stations« steht auf dem Nebengeleise ein talwärts gerichteter Zug. Täusche ich mich? Sitzen dort im Aussichtswagen nicht Baron Gemmingens? Wir hatten uns so gefreut, sie in Darjeeling zu treffen. Ein flüchtiger Gruß, und der Zug setzt sich in Bewegung. Die Vegetation verändert sich nach und nach. Nur noch vereinzelt erheben sich stolz und kerzengerade die Tannen und Eichen des Himâlaya. Die Tanne, der Deodar, ist ein wundervolles Nadelholz, eine Abart der Zedern des Libanon, die Eichen ähneln den immergrünen Eichen Italiens. Zwischen diesen ernsten Bäumen, die an europäische Wälder erinnern, ragt phantastisch wie ein Tropenkind der » ferntree« hervor, ein Riesenfarnkraut, das auf schlankem dünnen Stamm die Höhe eines Baumes erreicht und, von weitem gesehen, wie eine Palme wirkt. Der » ferntree« steigt zweiunddreißig Fuß empor und breitet oben seine mächtigen Blätter symmetrisch nach allen Seiten aus.


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