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2. Dezember. Morgens um halb acht Uhr ankern wir sieben Meilen vor Tuticorin. Die See wird unruhig, und die »Afrika« schaukelt bedenklich. Etwa eine Stunde vergeht, bis unser Gepäck auf ein Segelschiff verladen ist und wir einen kleinen Dampfer besteigen dürfen, der uns und das Segelschiff ans Land bringen soll. Es regnet nicht mehr, wohl aber ist das Meer noch sehr bewegt, und die Wellen spritzen über Bord. Etwa eine Meile vor Tuticorin fahren wir fest; von einem Flottwerden ist keine Rede. Wir müssen unser kleines Dampfboot verlassen und zu unserm Gepäck in das Segelschiff klettern. Es war bei dem wiegenden Schwanken, bei dem auf und ab der beiden Schiffe kein ganz leichter Umzug, und wir krochen auf Händen und Füßen hinüber. Pferdestände teilen den Schiffsraum ab; wir können uns deshalb nur mit der größten Vorsicht bewegen. Wir hocken auf Segelstangen oder sitzen auf der Kante des Decks und unsere Füße baumeln ins Leere, das unter uns gähnt. Jeden Augenblick sind wir in Gefahr, durch einen ungeschickten Stoß der hin- und herrennenden Matrosen oder durch die Kulis, die das Schiff mittels langer Stangen ans Land bugsieren, in die tiefen Pferdestände unter uns abzurutschen. Herr Federer sitzt auf einer Kiste, seine Beine hängen über Bord und er denkt erstaunt über die Situation nach, in die der Kulturmensch geraten kann, so er eine Reise tut. – Wir nahen uns der Küste; sie bietet einen trostlosen Anblick. Sie ist kahl und in eine trübe, rauchige Wolke gehüllt. In der Ferne sieht man ein paar große Fabriken mit hohen Kaminen, ganz europäisch. Dagegen wirkt die weit hinausgebaute Landungsbrücke sehr fremdartig. Sie ist dicht gedrängt mit Eingeborenen besetzt, die in ihren grellfarbigen, malerisch drapierten Gewändern oder in ihrer absoluten Nacktheit ein buntes Bild bieten. – Wir betreten das Land.
Ein unbeschreiblicher Wirrwarr umgibt uns; wir fühlen uns wie verloren. Einer reißt uns die Billetts aus der Hand, die der nächste wieder verlangt, oder uns nicht passieren lassen will. Die Kulis bemächtigen sich unserer Sachen und laufen davon. Alles rennt und schreit! Unsere Reiseeffekten sind verschwunden. Wir irren verzweifelt umher. Unsere Boys sind auch nicht zu sehen. Es fängt an, ganz fein zu regnen, dabei herrscht eine Gluthitze, und dazu diese Aufregung! Wir sind wie gebadet. Und nun zeigt sich alles in bester Ordnung. Die Boys stehen beim Gepäck, das auf einem ungeheuren Haufen zusammenliegt; wir brauchen lediglich unsere Sachen zu bezeichnen, weil die Diener unsere sechsundzwanzig Kollis noch nicht kennen, und die Sache ist geregelt. Man darf hierzulande nur seine Ruhe nicht verlieren – Gleichgültigkeit gilt stets als erste Bürgerpflicht. Hundert Hände strecken sich uns jetzt mit Eßbewegungen, unterbrochen durch Magenreiben, entgegen. Jeder will etwas getan haben. Bettler, Krüppel, Kulis, Kinder, Greise, alles bettelt und ruft »Dalli«. Ein kleiner Junge mit schönen Augen hüpft wie ein Frosch durch die Menge, seine beiden Arme sind ihm amputiert. Mit den Zähnen pickt er das zugeworfene Geld vom Boden auf und tut es in die ihm um den Leib befestigte Geldtasche. Jedermann achtet auf ihn, niemand stößt das arme, unglückliche Wesen, und im wildesten Gedränge huscht er unversehrt hindurch.
Nach einem leidlichen Frühstück auf dem Bahnhof fahren wir mit einer Stunde Verspätung gen Madura ab. – Das Coupé, das uns Cook telegraphisch hatte reservieren lassen, war durch den Rajah vorweggenommen worden, und wir sitzen wie Märtyrer in einem nur zum Liegen eingerichteten Wagen. Graf Lippe pendelt ohne alle Lehne zwischen Alfred und Herrn Federer; Frau v. R. und ich sitzen Fuß gegen Fuß, was auch keine ganz angenehme Stellung ist. Und doch sind die Coupés der I. und II. Klasse für lange Fahrten in Indien viel bequemer, als unsere in Europa. Die über alles Erwarten langen Züge setzen sich aus drei Wagenklassen zusammen. Ein Wagen dritter Klasse hat meistens fünf Abteilungen, die durch Wände getrennt sind. Die sehr schmalen Coupés sind für acht Personen berechnet. Ueber den Köpfen der auf der Bank sitzenden Passagiere läuft eine Liegebank an der Querwand des Wagens entlang, damit bei den langen Fahrten die Insassen sich unten oder oben ausstrecken können. Eine sehr wohlgemeinte Einrichtung, die aber den gegenteiligen Erfolg hat. Bei der ungeheuren Menge reisender Eingeborenen werden diese Coupés statt mit acht Personen mit dem dreifachen und mehr besetzt; die armen Leute hocken zwischen und auf den Bänken in entsetzlichster Weise zusammengepreßt.
Die dritte Klasse wird vor Abgang des Zuges mit einem Schlüssel abgesperrt und nur an der Ankunftsstation der Reisenden geöffnet. Außer dieser allgemeinen dritten Klasse gibt es noch ein Coupé dritter Klasse für »Females« und solche für Europäer, die hauptsächlich von Missionarinnen benutzt werden. Die zweite Klasse ist der ersten ähnlich, nur weniger reinlich und statt für vier Personen sind die Abteilungen für acht Personen eingerichtet. Die erste Klasse bietet sehr geräumige Coupés mit anschließendem Waschkabinett und Toilette. Die Betten laufen längsseits des Wagens in der Richtung des Zuges. Die Sitze sind wie breite Divans, meist mit schwarzem Leder überzogen und ruhen auf Federn. Des Nachts legt man die eigene Matratze und weiteres Bettzeug auf die Bank, wodurch eine viel bequemere und bessere Lagerstätte hergestellt wird, als die meisten Hotelbetten bieten. Neben dem Compartiment erster Klasse befindet sich gewöhnlich ein halbes Coupé dritter Klasse für die »Servants«. Beide sind durch ein kleines Schubfenster verbunden, das aber wegen des von dort eindringenden Geruchs selten benützt wird. Alle Personenwagen haben ein doppeltes Dach, im Zwischenraum zirkuliert Luft und hält die direkten Sonnenstrahlen ab. Seitlich reicht das Schutzdach bis auf die halbe Höhe des Fensters herab, so daß die Sonne nur abends, wenn sie tief im Westen steht, belästigen kann. Die Fenster sind außerdem mit vielerlei Schutz- und Schließvorrichtungen gegen Sonne, Staub und Regen versehen; mit weißen und bunten Scheiben, Läden und Fliegengittern.
Gegen ein Uhr treffen wir in Madura ein, wo wir uns gleich im Bahnhofsgebäude Betten sichern, was nach dem Verlassen des Zuges stets sofort geschehen muß, will man darauf rechnen, ein Unterkommen zu finden. Meist gibt es nur vier bis fünf Betten auf den Stationen, die man gegen eine Rupie Schlafgeld vierundzwanzig Stunden, aber nicht länger, benutzen darf.
Madura hat 73 000 Einwohner, meist Drawiden, die hinduisierte Urbevölkerung Südindiens, zu denen auch die Tamilen gehören, welche durch arische Ansiedler den brahmanischen Glauben erhielten.
Eine breite, lange, prachtvolle Straße, fest und sauber, als wäre sie makadamisiert (Lateritboden), führt durch die Stadt. Nächst dem Bahnhof im neuen, aber ärmlichen Teile der Stadt, steht rechts und links am Wege dicht gedrängt Häuschen an Häuschen mit kleinen Vorbauten. Diese Buden müssen als typisch für die Basare Indiens betrachtet werden. Sie sind wohl deshalb so eng, daß man sich kaum in ihnen rühren kann, weil der Kaufherr doch nur mit untergeschlagenen Beinen in der Mitte des Ladens auf dem Boden hockt und sich nicht von der Stelle bewegt, ja alle seine Waren auf Armlänge rings um sich aufgebaut hat, so daß er sie bequem von seinem Sitz aus erreichen kann. Muß er wirklich einmal aufstehen, so hängt eigens zu diesem Zweck ein Strick von der Decke herab, mit dessen Hilfe er sich emporrichtet. Der Estrich erhebt sich etwa einen Meter hoch über die Straße und dient zugleich als Ladentisch, an welchem außen die Käufer stehen, die sich die Zeit mit langwierigem Handeln vertreiben. Die alte Stadt mit ihren hohen Steinhäusern und reichen Fassaden zeugt von der vergangenen Glanzperiode unter Tirumal Nayak, der im 17. Jahrhundert lebte, und auf den all die bedeutenden Bauten, wie auch der große Shiwatempel zurückzuführen sind.
Dieser berühmte Tempel ist gleich allen andern Südindiens im Drawidastil ausgeführt, der ganz verschieden von jenem der Hindus Aryawarta, der arischen Hindus, ist. Die drawidische Tempelanlage wiederholt sich in der Hauptsache immer, nur die Zahl der Höfe, die sich um den Hauptbau herumziehen, resp. die äußere Umfassungsmauer rückt, je nachdem der Pilgerandrang zu einem Tempel wächst, weiter hinaus, d. h. es wird eine weitere Umfassungsmauer hinzugefügt. Den Mittelpunkt der Höfe bildet der Tempelhof, der die Hauptgebäude: den Tempel, die Wimanah, einen viereckigen Teich, ein paar offene Säulenpavillons und anderes umschließt. In der Wimanah liegt das Heiligentum, eine schmucklose kubische Zelle, die durch ein kleines pyramidenförmiges Dach bedeckt ist. Der hiesige Shiwatempel ist ein Doppelbau, der eine Teil dem Gotte Shiwa, der andere seiner Gattin Minakshi, »der Fischäugigen« geweiht. Durch die hohe Mauer, die den ganzen Komplex in seiner äußeren Peripherie umzieht, führen mächtige Tore, über denen sich Gopuras erheben.
Die Gopuras sind eine Eigentümlichkeit Südindiens, die durch farbenreiche Skulpturen einen wundervollen Eindruck machen. Sie wurden erst später als Verteidigungsbauten gegen fremde Ueberfälle auf die Umfassungsmauern der Pagoden, d. h. Tempel, gesetzt und gehören nicht dem ursprünglichen Drawidabaustil an, sondern lassen den Rückgang der Kunst im 16. und 17. Jahrhundert erkennen. Unter »Gopura« versteht man eine abgestumpfte Pyramide, die durch einen halbrunden Wulst abgeschlossen wird, dessen Schmalseite oben einen kleinen, eckigen Aufsatz mit reich ornamentierten Seitenflächen trägt. Der ganze Turm ist mit stufenförmig übereinander aufsteigenden Säulen, Nischen mit Gruppen von Figuren in oft wildleidenschaftlichen Bewegungen überladen.
Durch ein von herrlichem Grün umschattetes Tor, über dem eine hohe Gopura emporwächst, treten wir in die Halle der acht Statuen Lakshmis, der Gattin Vishnus. Auf Skanda, den Mars der Hindu, auf Subrahmanya, der auf einem Pfau reitet und uns ebenfalls als Kriegsgott bezeichnet wurde, lenkte man unsere Aufmerksamkeit. Vier Bettelelefanten, mit den Querstreifen der Shiwa-Anbeter auf dem breiten Kopfe, machten hier die Honneurs. Sie schwingen einen großen Grasbüschel im Rüssel und verscheuchen damit die sie quälenden Fliegen, sie knixen, verbeugen sich und fordern ihren Bakhschisch. Die Halle ist mit Händlern aller Art dicht besetzt. Heilige und profane Dinge werden hier ausgeboten. Eine ungeheuere Menschenmenge wogt zwischen den zahlreich darin aufgeschlagenen Buden hin und her. Alles gafft uns an, voll Ueberraschung, wie wir dies abenteuerlich Fremdartige bestaunen.
Wir durchwandern den Tempel in seiner ungeheueren Weite und Breite. Wie im Traum irren wir durch dies Labyrinth seltsamer Herrlichkeiten, prächtiger Ungeheuerlichkeiten, schreiten durch Säulenhallen, die im düsteren Dämmerlicht die phantastischen Bildnereien, die grotesken Gestalten an den Wänden nicht erkennen lassen. Wir gehen durch lange Korridore mit kolossalen Granitpfeilern, über denen entsetzliche Ungetüme mit fürchterlichen Gebissen von der Decke herabgähnen. Da plötzlich fällt in diese schwüle Dunkelheit durch eine runde Oeffnung im Gewölbe das weiße Tageslicht und beleuchtet grell einen der unzähligen Pfeiler, die in endloser Reihe sich vor uns hinziehen. Welch Fabelwesen tritt hier drohend aus der Wand hervor? Es ist der »Yali«, der Löwe des Südens. Steil aufgerichtet, auf seinen Hinterbeinen, steht er da, mit einem reich verzierten Kettenpanzer bedeckt. Sein stumpfer, greifenähnlicher Kopf weist eine wilde Fresse auf. Ein S-förmiger Stab, den er mit den Tatzen festhält, reicht bis zu seinen Füßen, wo ein junger Yali sitzt und den unteren Teil dieses Stabes im Maule hat. Das Ganze ruht auf einem kleinen Elefanten. Man steht und starrt. Was ist das für eine Welt monströser Ungetüme? Auf Schritt und Tritt sinnlos häßliche Ungeheuer, mit ungezählten Köpfen und Armen, übergroße Götzen mit dem Leib einer Kuh, dem Schweif eines Pfauen, der Brust, dem Kopf einer Frau.
Ueberall die Verkörperung unheimlicher Dämonen, finsterer Mächte; nirgends eine erhabene Gestalt. Weiter, immer weiter durch Kreuz- und Quergänge, die mit Göttern, Helden und Tieren ausgestattet sind, nahen wir uns dem Altar, an dem Shiwa Blumenopfer empfängt. Auch uns werden durch blumenbekränzte Priester weiße und gelbe Blütenguirlanden um den Hals gelegt. Hierdurch sind wir geweiht und dürfen uns jetzt dem inneren Raum des Tempels nahen, allerdings nicht ohne daß jeder von uns erst eine Rupie auf den Opferteller gelegt hat. Jetzt gelangen wir zu einem seltsam tiefen Schacht, in dem man, durch eine reich verzierte kleine Bogentür blickend, ein nahes und ein unendlich fernes Licht gewahrt, das mystisch Unsichtbares beleuchtet. – Durch die feierlich wirkende grandiose »Halle der tausend Säulen« treten wir aus tiefem Dunkel hinaus unter den hellglänzenden Himmel an den grünschimmernden »Tank der goldenen Lilien«. Auf weißen Stufen schreiten Tempelmädchen mit dem goldgelben Gesicht und dem schwarzen Seidenhaar hinab zum Wasser, um sich durch heilige Waschungen von allen Sünden zu reinigen. Die goldenen Kuppeln des Heiligentums ragen über die Mauer herüber, sie heben sich vom türkisblauen Himmel strahlend ab und glitzern in den sich leicht kräuselnden Fluten. Um den Teich zieht sich, durch feine Säulen getragen, eine Galerie, deren Rückwand in Bildern die vierundsechzig Wunder zeigt, die der Gott Sandara hier vollbracht hat.
An diesen Tank der »goldenen Lilien« knüpft sich eine tiefsinnige Legende. Hier stand vor Zeiten die berühmte Bank der »Dichter-Akademie von Madura«. Als einst Brahma zum Bade in die heilige Ganga hinabzog, wurde seine Gattin Saraswati durch die herrlichen Melodien eines himmlischen Sängers zurückgehalten. Zur Strafe belegte Brahma die Schuldige mit dem Fluch einer achtundvierzigmaligen Wiedergeburt auf Erden. Durch der Gattin Bitten ließ er sich jedoch dahin erweichen, daß sie die achtundvierzig Existenzen zu gleicher Zeit abmachen durfte. Er spaltete ihr Wesen in achtundvierzig Teile, und jeder Teil wurde als menschliches Einzelsein geboren, um später ein ausgezeichneter Dichter zu werden. Vom Berge Meru wanderte die Dichterschar zu dem König von Madura, der sie freundlich empfing und ihnen im Tempel eine eigene Halle erbaute. Doch bald drängten sich, wie die Herren Akademiker fanden, unwürdige und unlautere Elemente in ihr Kollegium. Sie baten deshalb den Gott des Tempels, ihnen eine Bank zu schenken, auf der nur sie allein Platz hätten. Und Sandara schenkte eine wunderbare Bank, »weiß glänzend, wie Mondlicht, nur eine Elle lang und breit«, die die Eigenschaft besaß, je nach der Zahl der anwesenden Akademiker sich auszudehnen oder zusammenzuziehen. Da legte eines Tages der Paria Turuwallur, der größte aller Tamildichter, seine herrliche Dichtung »Kural« neben die auf der Bank sitzenden Akademiker, und siehe da, die Bank schrumpfte zusammen, bis nur noch das Buch auf ihr Platz hatte, und die »Dichterfürsten« purzelten alle ins Wasser.
Durch neue Hallen und Gänge wenden wir uns dem Ausgange zu. Verwirrt, überwältigt, kann man die Umgebung kaum fassen. Welch' prahlerische Pracht, welche maßlose Ueberladung aller Teile! Kaum ein Fleckchen, das frei von plastischem oder gemaltem Zierat ist. Und doch, sieht man von der Fratzenhaftigkeit der figürlichen Darstellung ab, so findet man in den einzelnen Hallen Anklänge an die Spätrenaissance. Man entdeckt an den Konsolen der Decken schöne Pflanzenmotive mit feingezeichneten Blüten, sieht Wandflächen mit geschmackvollen geometrischen oder stilisierten Flächenornamenten, und man könnte sich wohl manchmal in Italien wähnen. Der Gesamteindruck dieses ungeheueren Tempels ist von gewaltiger Wirkung. Verwirrend stürmte all das toll Fremdartige auf uns ein, und wir hätten gerne diesen ersten Tag auf indischem Boden ohne weitere Sehenswürdigkeiten beschlossen. Aber wir mußten noch das herrliche Schloß von Tirumal Nayak besuchen, das jetzt als Justizpalast dient. Welch' neue Ueberraschung erwartete uns hier! Nach der wirren, maßlosen Ueberladung des Tempels ein vornehmer Bau im Renaissancecharakter. Allerdings sind die Motive anderer Stilarten vielfach verwendet, so z. B. verbinden sarazenische Hufeisenbogen die kolossalen, vierzig Fuß hohen Granitsäulen, welche einen mit mächtigen Palmen bepflanzten Hof umziehen. Hunderte von bunten Papageien schwirren durch die Luft. Der südindische Löwe, der Yali, hält Wache. – Das Schlafgemach Tirumals ist ein prachtvoller achteckiger Kuppelbau.
Der Jesuitenmissionar Robert de Nobili, der sich den religiösen Formen des Brahmanismus geschickt fügte und sich für einen römischen Brahmanen erklärte, gewann das Interesse des prachtliebenden Königs; er beeinflußte auch seinen Geschmack. Tirumal büßte die einem Europäer bewiesene Huld mit dem Tod. Die Priester fühlten, daß er ihrer Macht entschlüpfe, lockten ihn in das Heiligtum der Minakshi und mauerten ihn daselbst ein.
Vom Justizpalast aus fuhren wir durch eine herrliche Allee von Feigenbäumen, die ihre Aeste wie zu einer grünen Halle zusammenfügen, nach der großen Banyane im Garten des Richters von Madura. Die Luftwurzeln des Baumes senken sich zur Erde und schaffen einen herrlichen Säulensaal. Grauer Nebel liegt darunter, und wir eilen fort, die gefürchteten Fieberdünste fliehend. Gegen unsern Willen, da der Abend feucht war, aber sehr zu unserer Befriedigung, fuhr uns der Kutscher noch an einen reizenden Tank, an dem die fashionable Promenade Maduras liegt, wo wir aber keinen Europäer sahen, wie wir denn überhaupt keinen einzigen hier zu Gesicht bekamen.
»Tepa Kulan«, den wir im letzten Schein der Dämmerung erblicken, ist ein großer, mit Mauern aus weißen und rosa Quadersteinen umgebener Teich. In der Mitte liegt eine reizende Insel. Aus dem hohen Gesträuch blickt ein gopuraähnlicher Turm hervor, der das hier befindliche Mausoleum des Königs Tirumal überragt. An den vier Ecken der Insel stehen ebensoviel kleine Gopuren, die alle wie Baumkuchen aussehen. Das Bild im scheidenden Tageslicht war wie aus Tausend und einer Nacht.
Todmüde kamen wir an die Station zurück, speisten und gingen gleich zu Bett. Unser Zimmer war ein pompöser Raum, groß und luftig. Eine kolossale Punkah durchquerte den Saal, unter der zwei breite Betten standen. Prachtvoll sah alles aus, soweit man etwas sehen konnte. Denn nur mit einer armseligen, rauchenden Petroleumlampe als Leuchte, mußte man sich tastend im Zimmer orientieren. Nichts war zu finden, und wie Blinde tappten wir nach unsern Sachen. Und nun gar das Badezimmer! Grauen erfaßte mich bei dem Gedanken, in diese schwarze Badewanne zu steigen. Ich versuchte wohl oder übel in einer großen Schüssel meine brennend heißen Glieder zu kühlen, und die Aya mußte während dieser Zeit unaufhörlich hin- und herstampfen, um Schlangen und ähnliches Ungetier, das ich in dieser gräßlichen Düsterheit überall witterte, zu verscheuchen. Die Nacht war unbeschreiblich furchtbar. Fenster und Türen, alles stand wegen der Glühhitze offen, doch hätte man sie, da sämtliche Schlösser fehlten, auch gar nicht schließen können. Es war, als lägen wir auf dem Perron. Markerschütterndes Schreien und gellendes Pfeifen ließen uns keine Minute Ruhe finden. Ratten piepsten und pfiffen, und alles mögliche Unsichtbare huschelte über die Strohmatten.
3. Dezember. Um vier Uhr früh mußten wir aufstehen, nachdem wir uns gerade an das unerhörte Lärmen gewöhnt hatten und eingeschlafen waren.
Es war noch dunkel, als wir den Zug erwarteten. Auf dem trübbeleuchteten Perron ging es sehr lebhaft zu. »Khana Wallahs« – Verkäufer von Eingeborenenkost – zündeten Fackeln an, um ihre Eßwaren zu beleuchten. Doch sieh nur, was ist das für komisches Zeug: Runde Kuchen aus Mehl, längliche aus Kokosnuß, Stangen, die wie Makkaroni aussehen, aber zu Kringeln gedreht sind, braune Scheiben von irgendetwas Undefinierbarem, und dann gequollene Erbsen und gedünsteter Reis, die hauptsächlichste Nahrung des Hindu. Die Leute sind sehr genügsam, und ich glaube, wir essen an einem Tage mehr, als sie in einer Woche zu sich nehmen, das heißt, wenn sie nicht gerade ihren großen Fütterungstag haben, an dem sie dann so viel und so lange die landesüblichen Gerichte verschlingen, bis das vorgesteckte Ziel und höchste Glück – Platzen des Gürtels – erreicht ist.
Die Idee, bei Abgang eines Zuges rechtzeitig einzutreffen, scheint dem »Native« völlig fremd zu sein. Er weiß, daß im Laufe von vierundzwanzig Stunden der Schnellzug geht und kommt, wenn es ihm paßt; er wartet mit derselben Gemütsruhe zwanzig Stunden wie zwanzig Minuten. Für ihn ist Zeit wertlos. Er führt seine Steppdecke mit sich, in die gehüllt, er sich beruhigt in eine Ecke legt und schläft. Gestern abend, als wir unser Schlafzimmer erreichen wollten, konnten wir kaum über den Perron gehen. Wir stolperten und stießen an unzählige dunkle Haufen, die umherlagen; alles schlafende Eingeborene, die auf den Schnellzug warteten, der um fünf Uhr morgens durchfährt. Deshalb sind auch sämtliche Stationen überfüllt, herrscht solche Menschenansammlung und nachts ein Spektakel, daß man meint, eine Revolution bräche aus.
Der Zug dampfte aus der Dunkelheit daher. Mit Stoßen, Drängen und Schreien gelangten wir unter der Direktion des liebenswürdigen »Stationmaster« an das Coupé, welches er für uns reserviert hatte. Will man nämlich sicher sein, in Indien von einem Schnellzug mitgenommen zu werden, so muß man seine Plätze vierundzwanzig Stunden vorher bestellen. Wir fuhren äußerst angenehm und holten, auf drei sehr bequemen Chaiselonguen vorzüglich liegend, den versäumten Schlaf nach. Als der Tag leuchtend angebrochen war, ließen wir, behaglich ausgestreckt, die reiche Landschaft an uns vorübergleiten. Die Fahrt ging den Bergen zu. Die Vegetation war frisch und üppig. Hohe Aloehecken und Opuntien zogen sich wie Mauern am Bahngleise entlang. Zahllose Kakteenarten mit weißen und gelben Blüten, Agaven, Jukkas, Schirmakazien, zartbelaubte Bäume, deren Kronen flach wie Pilze wachsen, machen die Gegend, die oft durch zerklüftete schroffe Felspartien unterbrochen wird, sehr eigenartig.
Alles ist überschwemmt; die Reishalme stehen handhoch saftig grün über dem Wasser. Hin und wieder sind lebendige Vogelscheuchen aufgestellt, die auf einem von vier Pfählen getragenen Brett Wache halten. Diese Eingeborenen haben einen großen Sonnenschirm aus Bast mit kurzem Stiel, der sie gegen die brennende Sonne schützt. Alle Stationen, an denen wir vorbeikommen, sind überfüllt, und es herrscht ein Lärm, der mit dem Zunehmen des Tages zu wachsen scheint. Infolge der zahllosen Dialekte und Sprachen – über 400 in Indien – verstehen sich die Leute schwer, und zu der Aufgeregtheit der Eingeborenen, die sie beim Eisenbahnfahren überhaupt erfaßt, kommt noch ein eindringliches Schreien hinzu, dabei häufiges Wiederholen eines und desselben Wortes, um sich verständlich zu machen, so daß jede Konversation wie Streit klingt. – Sehr interessant sind die Kostüme, die wir hier sehen. Die Bevölkerung besteht teils aus Mohammedanern, teils aus Hindus, die in ihrem Aeußeren sofort kenntlich sind. Die Mohammedaner tragen nach dem Körper geschnittene und genähte Kleider, während der Hindu sich mit fünf bis sieben Meter langen, siebzig Zentimeter breiten Tüchern in einen antiken Faltenwurf hüllt. – –
Die ganze Hindubevölkerung ist mittels sichtbarer Zeichen durch das sogenannte »Nama« in die beiden Konfessionen der brahmanischen Religion geteilt. Die Shiwa-Anbeter malen sich drei Querstreifen, das Tripundra, die Vishnu-Anbeter zwei aufrecht stehende Striche oder ein aufrechtstehendes offenes Dreieck auf die Stirn und bezeichnen auch durch kleine Unterschiede in Farbe und Zeichnung die Sekte, zu denen sie gehören. Die Frauen des Shiwaglaubens tragen nur einen runden, weißen Fleck an der Nasenwurzel, das »Pottu«. – Die Haartrachten der Männer und Frauen sind sich in Südindien ziemlich ähnlich. Beide tragen das Haar lang, hinten durch einen geschickten Schlung zu einem spitz abstehenden Schopf gebunden. Viele Männer lassen sich die Kopfhaare teilweise, andere bis auf einen buschigen Büschel hinter dem Scheitel rasieren, was ihnen das Aussehen indianischer Wilder gibt, andere gleichen südafrikanischen Buschmännern mit ihrem halblangen Haar, das wie toupiert rings vom Kopfe absteht.
Unter den Frauen fallen die »Dewadaschis« (die Konkubinen der Priester) durch ihre sorgfältige Frisur auf; das glattgescheitelte Haar gibt ihnen einen vornehmen Ausdruck. – »Dewadaschis« heißt »Göttersklavinnen«. Sie gelten als dem Gotte angetraut, waren ehemals die Vestalinnen oder Nonnen des Brahmanentums, dabei ohne Gelübde; sie rekrutieren sich meist aus der Kaste der Waisjas, der Ackerbauer und Gewerbetreibenden. Früher sollen sie Muster der Reinheit, Keuschheit und Frömmigkeit gewesen sein; jetzt haben sich die Verhältnisse geändert, und die Tempel beziehen durch das Preisgeben der Mädchen große Summen. Außerdem verdienen sich die Dämchen privatim noch so viel, daß ihr Schmuck oft ein Vermögen repräsentiert.
Entsetzlich ist die Sitte, den Kindern schwere Ringe in die Ohren zu hängen, wodurch die Ohrläppchen lang heruntergezogen werden. Von Jahr zu Jahr fügt man einen weiteren Ring hinzu, bis das Ohrläppchen auf die Schulter reicht. Oft wird dieses Ohrloch einfach ohne Ringe durch das Einschieben eines Korkpfropfens erweitert. Die Nasenflügel der Frauen sind meist durchbohrt und mit Edelsteinen reich verliert, außerdem tragen sie einen großen Ring durch die Nase gezogen. An den Füßen, Zehen und Knöcheln, an den Handgelenken, am Oberarm glänzen und klingen Gold- und Messingreifen.