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Um zwölf Uhr Abfahrt nach Khanpur.
Natürlich mußten wir über eine Stunde warten, bis unser Gleise frei wurde und unser Zug abgelassen werden durfte. Mit uns wartete eine ungeheure Menge Eingeborener, die, wie wilde Bestien hinter hohen Gittertüren abgesperrt, ihre dürren Arme durch die Spalten zwischen den Stäben hindurch zu zwängen versuchten, um einen Backhschisch zu bekommen. Am Brunnen waren Frauen mit ihrer Toilette beschäftigt. Mit Lotas übergossen sie sich Kopf, Gesicht und Füße, dann hockten sie sich auf den Randstein und es begann eine minutiöse, langwierige Zahnpflege.
Buntes, uniformiertes Militär saß schon im Zug. Ein wenig abseits stand ein Soldat neben seiner Frau. Sie nahmen schweigend Abschied. Ihre schmerzerfüllten, demütigen, großen Augen ruhten angstvoll auf seinen gramdurchfurchten Zügen. Aus den hohlen, bleichen Wangen sprachen Sorge und Krankheit. An die junge Frau, die den Mantel eng um ihre dürftige Gestalt geschlungen trug, schmiegten sich zitternd ein Knabe und ein Mädchen. Sie hatten die durchlöcherten, kurzen Hemdchen fest um die gelben, kleinen Körper zusammengezogen. Im Arm hielt das Weib ein Bündel zerfetzter Lumpen. Fleischlose Aermchen und Beinchen, lange, dürre Knochen hingen aus den armseligen Lappen heraus. Es war ein neugeborenes Kind, das ihr an der armen, welken Brust lag. Der Junge klammerte sich an den Mantel der Mutter, faßte nach der Hand des Vaters – er wollte sie beide halten. – Leise streichelte der Soldat noch einmal über die schmalen Schultern der Frau, drückte dem Sohn die Hand mit einem Blick, der ihm sagte: »Jetzt sorgst du für die Mutter«, und wendete sich schnell ab. Die Türe des Wagens, in den er eingestiegen, fiel zu, und der Schaffner schloß sie mit doppeltem Riegel. Der Mann stand tränenden Auges am Fenster; er winkte der Frau, den Kindern, sich zu entfernen. Der Knabe flüsterte der Mutter leise etwas zu – aber sie hörte ihn nicht, sah nur den Gatten, der von ihr ging. Und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Verzweifelt zog die Frau die Kinder mit sich, neben dem fahrenden Wagen hin, immer den flehenden unterwürfigen Blick auf den Mann über ihr am Fenster gerichtet – und nun kam die Schranke, sie konnte nicht weiter. Stöhnend preßte die Unglückliche die Stirne gegen die Barriere. Ganz nahe hinter dem Gitter hielt der Zug noch einmal. Noch ein Wort wollte das arme Weib hinüberrufen, noch einmal grüßen, da faßte sie die harte Hand des Beamten und schleuderte sie roh beiseite. Wie ein geschlagenes Tier flüchtete sie bebend in eine ferne Ecke. Jetzt sah sie den Geliebten nicht mehr, und kraftlos brach sie zusammen – hilflos kauerte sie im Winkel.
Das Elend, dem wir hier auf Schritt und Tritt begegnen, steht in krassem Widerspruch zu den phantastischen Vorstellungen, die wir uns in Europa von dem in tausend Liedern gepriesenen Lande der Pracht und des Ueberflusses machen. Gegenüber einer verhältnismäßig geringen Anzahl Reicher, Mächtiger und Großer steht eine ungeheure, ungezählte Volksmenge unsäglich Armer, die, ohne sich aufzulehnen, als stille Dulder das Leben tragen, aber sein Ende verlangend erwarten. Ein finsterer Ernst liegt über diesen Menschen. Die Kulis lärmen wohl, aber sie sind nicht heiter. Nirgends hört man frohes Lachen, selten sieht man fröhliche Kinderaugen, überall nur stumme Klage auf den abgezehrten Zügen. Das ganze Volk drückt Sorge und Not.
Aber das traurigste Los in diesem Lande ältester Kultur zog doch das Weib, dessen ganzes Leben sich unter Verhältnissen abspielt, die für unsere Begriffe unerträglich erscheinen – geradezu barbarisch sind. Uebersieht man das Leben der indischen Frau, so findet man kaum ein paar Möglichkeiten, die es glücklich gestalten können. Von allen Seiten drängen sich die traurigen Wahrscheinlichkeiten für ein verkümmertes Dasein heran. Betrachtet man doch schon die Geburt eines Mädchens als Unglück, als Strafe für ein in einem früheren Leben begangenes Vergehen. Wenn ein Mädchen geboren wird, sagt der Vater »Nichts ist geboren«, und die Hebamme bekommt ein Drittel des Lohnes, den sie bei der Geburt eines Knaben erhält. Das Mädchen gilt für ein vom Manne ganz verschiedenes, viel tiefer stehendes Wesen. Es wird ohne Seele geboren. Erst durch die Heirat, erst durch die Vermittelung des Gatten, empfängt sie eine Seele, und nur dadurch, daß ihr Sohn oder der Gatte den Scheiterhaufen einst entzündet, kann sie auf eine höhere Wiedergeburt rechnen. Deshalb wird die Verheiratung des Mädchens für die Mutter zu einer religiösen Pflicht, und sie ist ängstlich besorgt, ihr Töchterchen beizeiten unter die Haube zu bringen. Nicht selten verloben daher zwei befreundete Frauen, die zu gleicher Zeit die Geburt eines Kindes erwarten, die beiden noch im Schoße ruhenden Wesen, falls dieselben ein Knabe und ein Mädchen werden sollten. Mit fünf, sechs und sieben Jahren werden die Kinder dann verbunden, bleiben aber natürlich vorläufig bei ihren beiderseitigen Eltern. Stirbt der kleine Junge in dieser Wartezeit, so ist das kleine Mädchen trotzdem Witwe und bringt ihr ganzes Leben unter dem Druck des Verlustes von etwas zu, das sie nie besessen, das sie nur aus Gebeten gekannt, die sie vielleicht schon seit ihrem fünften Jahre für den kleinen Ehegatten gesprochen.
Diese zahllosen »verwitweten« Kinder sind ein großes Uebel. Ihre Wiederverheiratung stößt meist auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Sie ist ein direkter Verstoß gegen die religiöse Anschauung, nicht nur, weil die höhere Wiedergeburt des Mädchens gefährdet erscheint, sondern auch, weil jene des verstorbenen Gatten nachteilig beeinflußt wird. In der letzten Zeit soll unter den »Aufgeklärten« Wiederverheiratung der Witwen vorkommen, doch findet dieselbe in Abwesenheit des Brahminen statt und heißt »Shanghai«. Die obenerwähnten, in so großer Jugend vermählten Kinder ziehen erst im heiratsfähigen Alter zusammen, resp. das Mädchen tritt in das Haus der Schwiegereltern ein, denn der junge Ehemann ist oft noch ein Schulknabe, der keine Familie ernähren kann.
Dieser Wechsel im Leben des Mädchens gestaltet sich meistens nicht glücklich, denn nun steht sie im Zenana (Frauengemach) unter dem Regiment der Schwiegermutter, die in Indien eine ganz besonders »böse Nummer« sein soll. Diese Schwiegermutter fühlt sich als Mutter eines Sohnes nicht nur sehr verehrungswürdig, sondern sie will an ihrer Schwiegertochter auch die Quälereien vergelten, die sie in ihrer Jugend einst selbst erdulden mußte, vor allem aber verhüten, daß sich ihr Sohn von ihr abwende und sich seiner jungen Frau zukehre. Aus dieser Eifersucht entspringt viel Zank und Streit in den Frauengemächern; sie ist das Grundübel des weiblichen Daseins. Um sich von der Tyrannei der Schwiegermutter zu befreien, gibt es nur eine Möglichkeit – die junge Frau muß einem Sohne das Leben geben, dann ist mit einem Schlage ihre ganze Situation verändert, von jetzt ab ehrt man in ihr die Mutter eines höheren Wesens, vergißt ihren Namen und nennt sie fortan nur noch nach dem des Sohnes, z. B. »Ramas Mutter«. Aber wehe ihr, wenn sie diesen Sohn oder wenn sie gar den Gatten verliert. Dann ist ihre Existenz vernichtet. Der Verlust des Sohnes kann durch die Geburt eines zweiten ausgeglichen, der Tod des Mannes aber vermag durch nichts gesühnt zu werden. Und es wird nicht etwa als ein Unglück angesehen, für das die Frau bemitleidet werden sollte, sondern sie wird für diesen Tod verantwortlich gemacht, denn nur infolge ihres Verschuldens in diesem oder in einem früheren Leben mußte der Gatte sterben.
Als Witwe bleibt die Frau in Indien einem unendlich traurigen Lose preisgegeben. Kaum ist der Mann gestorben, so wendet sich alles von der Schuldbeladenen ab. Weiber aus niederer Kaste scheren ihr das Haar und nehmen ihr die »Tali«, das goldene Ehezeichen, das sie um den Hals trägt. Man beraubt sie ihrer Schmucksachen und Gewänder. Es soll bei diesen Gelegenheiten oft unendlich roh zugehen. Fortan muß sie ein grobes, weißes Gewand – weiß ist die Farbe der Trauer – tragen, wird auf schmale Kost gesetzt, hat alle vierzehn Tage einen besonderen Hungertag, ist die Sklavin des Haushaltes und, wenn ein Unglück passiert, »trägt die Witwe daran die Schuld«. Eine große Kalamität für die Witwen sollen auch die Nachstellungen sein, mit denen die männlichen Angehörigen der Familie sie verfolgen. Rechtlos, wie diese armen Unterdrückten sind, werden sie oft zum Kindesmord getrieben. Bei der ewigen Hungersnot mag der Kindesmord wirtschaftlich gerade kein Unglück sein, aber trostlos bleibt er immer in Anbetracht der Tatsache, daß auch im Hinduweibe die Mutterliebe das stärkste Gefühl ist. Der Hindu lebt zwar in Monogamie, was aber nicht ausschließt, daß er sich nach Vermögen Sklavinnen hält, die seinen Wünschen dienen müssen.
Das Leben in den Frauengemächern ist das Unseligste, was man sich vorstellen kann. Die vornehmen Frauen, die unter dem »Pörda« »Pörda« heißt Vorhang und bezeichnet die Abgeschlossenheit der Frau von aller Oeffentlichkeit. Das System ist nicht arischen, sondern semitischen Ursprungs.-System stehen, das besonders in Nordindien, wo die mohammedanische Bevölkerung vorherrscht, sehr streng gehandhabt wird, erfreuen sich nicht einmal der Abwechslung häuslicher Beschäftigungen, haben keine andere Unterhaltung als sich zu zanken und zu schmücken. Nach der Menge und dem Werte der ihr vom Gatten geschenkten Schmuckgegenstände prüft und taxiert das Weib seine Liebe.
Die Verwendung des Schmuckes ist in Indien eine so allgemeine, sein Gebrauch so vielseitig, daß alljährlich vierhundert Millionen Rupien für Steine, Perlen und Goldarbeiten verausgabt werden sollen. Am ganzen Körper gibt es aber auch kaum eine Stelle, an der es nicht glitzert und blinkt: Auf dem Kopf, in den Flechten, um den Hals, in den Ohren, der Nase, um alle Gelenke, Finger und Zehen. Ja, sogar die »Feigenblätter« der kleinen Knaben und Mädchen sind goldene Pfeifchen und silberne Herzchen. Von den wertvollen Prachtgegenständen gar nicht zu reden! Die Frauen niederer Kaste tragen sämtlich ein paar Arm- oder Fußreifen, die gewiß nicht selten von Europa eingeführt sind. Ganz ohne Schmuck sieht man kaum je ein Weib.
Die Frauen des Arbeiterstandes haben es im Verhältnis viel besser als die Höhergestellten. Ihnen obliegt es, den Haushalt zu besorgen, und wenn sie auch hinter dem Manne stehen müssen, während er seine Mahlzeit hält, und nur das bekommen, was übrig bleibt, so dürfen sie sich doch frei auf der Straße bewegen und sind keine Gefangenen.
Alle Frauengemächer, die der Reichen sowohl wie die der Armen, sind schmutzig, trotzdem ich nirgends in meinem Leben soviel scheuern, putzen und waschen sah, wie hier in Indien. Bei den Maharadjas sieht es mit ihren defekten europäischen Möbeln und den armseligen Cretonnevorhängen geradezu verkommen aus. Bei den »andern« sind eine Liegebank, ein Kasten und in einer Ecke ein paar Steine, auf denen gekocht wird, alles, was ich an Möblement gesehen. Die Höfe, welche die Zenanas umschließen, sind meist eng, dunkel, feucht und unrein, und gelten als Herd für ansteckende Krankheiten. Man sagt, daß die Missionarinnen und Bibelfrauen (letztere sind christliche Eingeborene) auf die hygienischen Verhältnisse günstig wirken, wie sie denn überhaupt dem Frauenleben neue Interessen zuführen. Besonders in Nordindien sollen sich die Frauen merkwürdig lernbegierig zeigen, und in den Zenanas soll es nicht selten sein, daß eine alte Frau mit der Brille auf der Nase noch das ABC lernt, um bald fließend lesen zu können. Ganz besonders aber machen sich jene europäischen Frauen um die weiblichen Eingeborenen verdient, welche als Aerztinnen in Indien wirken. Es sind meist Engländerinnen und Amerikanerinnen, die nach einem vierjährigen Kursus in einem Londoner Hospital hier Krankenhäuser und Kliniken gründen und unberechenbaren Nutzen stiften. Wenn man bedenkt, daß dem Arzte der Zutritt in die Zenana absolut verboten ist und daß, wenn er eine Kranke behandeln soll, er von dieser höchstens die Zunge durch den Spalt des Vorhangs zu sehen bekommt, so kann von einer Behandlung der Frauen durch Männer kaum die Rede sein.
Aber in einem sind uns die Hindus doch über. Es gibt keine alten Jungfern unter ihnen. Und das wird so gemacht. Haben Eltern mehrere Töchter, so bestimmen sie eine oder zwei zu Pagodentänzerinnen (Bajaderen), die, wenn sie zugleich singen, Dewadashis genannt werden, und die sich trotz ihres lockeren Lebenswandels als Tempeldienerinnen beim Volke einer gewissen Achtung erfreuen. Diese haben ihr Leben dem Gotte geweiht. Sie sind nicht mit den Weibern zu verwechseln, die sich als Freudenmädchen in der Nähe des Tempels aufhalten, ohne zu seinem Dienste zu gehören, und meist als Witwen in Verzweiflung die Zenanas verließen, um hier, von aller Kaste und Familie ausgestoßen, ein verachtetes, aber doch weniger trauriges Leben wie ehedem zu führen.
Außer den Tempeldienerinnen bleiben auch jene Mädchen unverheiratet, die ihre Erlösung selbst erzwingen wollen, die religiösen Asketinnen, Joginis genannt.
Nun soll es noch eine dritte Art geben, wie sich Mädchen eine Seele verschaffen. Eine eigene Brahminenkaste existiert, die »Kulinbrahmanen«, von denen Hübbe Schleiden erzählt, »daß sie viele Frauen heiraten, und zwar solche, die keinen Mann fanden, um sie zu erlösen.« Die Kulinbrahmanen machen ein Geschäft aus der Heirat, sie bekommen die Mitgift des Mädchens, die Frau selbst aber bleibt bei ihren Eltern.
Meine Reflexionen über die drückenden Verhältnisse, unter denen das Hinduweib lebt, ließen mich die Reiseroute ganz vergessen – und ich fahre doch nach Khanpur. Die Gegend, durch welche die Eisenbahn führt, ist eben. Ab und zu steht einsam eine Palme »am heißen Felsenrand«. Große Teiche unterbrechen die Landschaft. Graue Flamingos stehen auf ihren roten Beinen am Wasser, spiegeln sich darin und heben sich reizend gegen den klaren Abendhimmel ab.
Um acht Uhr treffen wir in Khanpur ein. Es ist bereits stockfinster. Wir tappen in tiefster Dunkelheit einem leuchtenden Punkte zu, der uns in der Ferne gezeigt wird und der das » Civil and Military Hotel« sein soll. Die Boys und die Aya mit einem Karren, auf dem das Gepäck verladen ist, begleiten uns. Plötzlich höre ich etwas kollern. Ein Koffer ist vom Karren gefallen. Jedermann sucht, niemand findet das Stück, bis schließlich die Boys und Kulis alle auf einmal darüber stolpern und, sich gegenseitig an die Schädel stoßend, in ein furchtbares Wehegeheul ausbrechen. Das » Civil and Military Hotel« sieht von außen ganz elegant und einladend aus. Große Palmen in Töpfen stehen zwischen den Säulen, die das Gebäude umgeben, und eine ungeheure Lampe erleuchtet die Fassade tageshell. Wir treten ins Haus, wo uns absolute Dunkelheit und Totenstille empfängt. Nach langem Rufen kommt ein Mann mit einer kleinen Handlampe, deren Docht nicht dicker als ein Streichholz ist, und führt uns in die Zimmer.
Dieses »Hotel für Civil und Militär« war doch schon das Heruntergekommenste, was wir bisher gesehen: Eine echte, rechte Lotterfalle. Graf Lippe bekam als Zimmer einen kellerartigen Raum, der bei uns zu Lande kaum für Gartengeräte gut genug befunden worden wäre. Die Fenster waren Luftluken ohne Scheiben! Der Fußboden gestampfte Erde. Dieser Höhle zunächst lagen unsere Appartements: drei Salons mit Badekabinett! Im ersten stand nichts, im zweiten ein ungeheurer Tisch, im dritten waren die wackeligen Betten aufgeschlagen. Der Betthimmel hing schief und drohte jeden Augenblick herabzustürzen. In Fetzen das Moskitonetz! Ohne Schiebfächer die Kommode! Ohne Lehne der Stuhl! Ohne Handtuch der zusammengeknickte Ständer! Durch Löcher, in denen die Spatzen nisten, dringt Luft und Licht. Nur das Badezimmer besaß ein großes Fenster, allein es fehlten die Vorhänge. Im Hof arbeitete bei flackerndem Feuerschein eine Schar Kulis. Immer nur mit dem Nachtlicht als Leuchte, suchten wir den Speisesaal und traten plötzlich in einen hell erleuchteten, menschenleeren Raum. Als einzige Gäste setzten wir uns, geblendet von dem Lichterglanz, an einen kleinen, runden Tisch, dessen Linnen Erinnerungsbilder entschwundener Tage in vielen Farben trug, und harrten unseres »Dinners«. Von dieser Silvestermahlzeit kann ich mit dem besten Willen nichts Rühmliches erzählen. Sie war einfach gräßlich. Mit einem Gläschen Chartreuse stießen wir aufs neue Jahr an und suchten dann mit mißtrauischen Gefühlen unser Nachtlager auf.
1. Januar 1903. Wir wurden nicht von den Ratten angefressen, obwohl sie die ganze Nacht einen tollen Tanz aufführten und den Jahreswechsel mit seltsam pfiffigen Tönen begleiteten. Das Jahr fängt gut an, dachte ich mir, als ich mich nachts im Bette umdrehte, wobei die Matratze jedesmal in allen »Federn« quietschte und ich in eine Vertiefung sank, aus der die geknickten Drähte wie Stacheln hervorstanden. – Morgens fühlte ich mich wie gerädert und gegeißelt, und Graf Lippe war so verschnupft, daß er nicht aus den Augen sah. Wir fühlten uns alle sehr übernächtig, gar nicht disponiert, Khanpur mit seinen blutigen Erinnerungen kennen zu lernen, die eigentlich nur für Engländer Interesse haben. Die Stadt ist der Schauplatz des großen Aufstandes von 1857 und hat die grausame Metzelei von tausend Männern, Frauen und Kindern durch den berüchtigten Nana Sahib gesehen.
Es genügte uns, das bunte Markttreiben, welches sich in der Nähe des Bahnhofes entfaltete, und die Spiele der jungen Burschen zu beobachten. Die Leutchen hockten in langen Reihen an einer Hecke in der Sonne und spielten »Schusser« in der Weise, daß sie den dritten Finger der rechten Hand zurückbiegen, der, niederschnellend, die Kugel fortschleudert. Diese fliegt mit großer Sicherheit dem Ziele zu. Es war das erstemal, daß wir junge Menschen spielen sahen und vor allem, daß wir sie heiter lachen hörten.
Um zehn Uhr sollten wir Khanpur verlassen, aber ich weiß nicht, wie lange der Zug, auf das Zeichen zur Abfahrt wartend, in der Bahnhalle stand. Die Wartezeit vertrieben uns die Händler, welche alle Coupéfenster belagerten, mit dem Anpreisen ihrer Ware. Die Geduld dieser Männer ist unbeschreiblich. Jetzt steht z. B. einer mit Solinger Messern vor mir und bietet und feilscht wohl schon seit zwanzig Minuten, schließlich beginnt der »billige Jakob« mit sich selbst zu unserm Vorteil zu handeln. Wir können nicht anders und kaufen sowohl ein deutsches Messer, als auch bunt bemalte Figuren, die, realistisch modelliert, in ihren Darstellungen das ganze indische Leben wiedergeben.
Kurz nach Khanpur erblicken wir zum erstenmal den mit der Geschichte der Zivilisation Indiens so eng verknüpften Ganges, der seit Tausenden von Jahren auf die physische Entwicklung der indischen Rasse maßgebenden Einfluß ausgeübt hat. In seinem 1O57 Meilen langen Lauf bewässert der Strom 391 1OO englische Quadratmeilen, also ein anderthalbmal so großes Gebiet wie Deutschland, und ist noch heute, trotz des Eisenbahnnetzes, das sich über Indien ausdehnt, einer der bedeutendsten Transportwege der Welt. Der Ganges entspringt unter dem Namen Bagirathi 13 800 Fuß hoch aus einer Eishöhle am Fuß der Schneeregion des Himalaya. Ueber seinen Ursprung berichtet eine alte Legende. Sie schildert die Not der Menschheit und wie Ganga, die liebliche Tochter des Königs Himavat (Himalaya) und der Nymphe Menaka, überredet wurde, ihre reinigende Flut über die sündige Welt zu ergießen. Die Eiszapfen der Gletscherhöhle, in der die Ganga ihren Ursprung nimmt, sind, der alten Sage nach, das verwirrte Haar Shivas. Gleich heilig wie der Ursprung, ist die Mündung des Ganges mit der Insel »Sagar«, die das Ziel großer Pilgerfahrten bildet. – Als Ganga die 60 000 verdammten des Hauses Sagar reinigen wollte, zerteilte sie sich zu hundert Kanälen, um deren Ueberreste sicher zu erreichen, und bildete so das bengalische Delta.
Der Ganges hat sich durch seine treue, lebenspendende, fruchtbringende, nie versagende Arbeit die Verehrung des Volkes erworben. Von allen Strömen der Welt kann sich keiner mit ihm an Heiligkeit messen. Die Hindus nennen ihn liebend und verehrend » Mutter Ganga«. Noch oft wird die sechsjährige Pilgerfahrt – die Pradakhsina – von der Quelle bis zur Mündung des Stromes und dann zurück unternommen. Es gibt sogar Pilger, die sich der anstrengenden, aber höchst verdienstvollen Bußübung unterziehen, einen Teil des Weges den Strom entlang durch »ihre Länge zu messen«, d. h. sie legen sich auf den Boden und messen den Weg mit dem Maßstab ihrer eigenen Körperlänge.
Zur Zeit der großen Feste in der Ganga zu baden, befreit von aller Schuld, und jene, welche sich so entsündigt haben, füllen Gefäße mit dem heiligen Wasser und bringen es ihren Verwandten, die in ferneren Provinzen leben. – Am Ganges zu sterben und in demselben versenkt zu werden, ist der höchste Wunsch von vielen Millionen Hindus. Fanatiker behaupten, daß selbst jene, die sich in ihrer letzten Stunde noch auf hundert Meilen dem heiligen Strom nähern können und »Ganga, Ganga« ausrufen, die Sünden von drei vorhergegangenen Inkarnationen tilgen. Das braune Wasser der heiligen Ganga hier bei Khanpur macht übrigens nicht den erhebenden Eindruck, den man nach den verklärenden Wirkungen des Stromes von ihm erwarten sollte.
Wir fahren über die den Ganges kreuzende Brücke, kommen dann durch eine freundlich grünende Landschaft und treffen um zwei Uhr in Lucknow ein. In Wutzlers Hotel fanden wir das »Wunder« aller indischen Gasthöfe. Der Besitzer ist ein Schweizer. Er reist momentan mit dem Herzog von Connaught an der Grenze von Afghanistan und sorgt für dessen leibliches Wohl. Sein Gasthof kann mit jedem erstklassigen europäischen Etablissement (relativ) konkurrieren. Es liegt in einem gut gepflegten Garten. Die Zimmer sind luftig und hell, gut möbliert, ja, das ganze Haus zeichnet sich durch eine für Indien unvergleichliche Sauberkeit aus. Das Essen ist vortrefflich, kurz, wir fühlen uns wie im Paradies. Wir essen mit dem Gefühl, uns zu sättigen, und baden mit der Ueberzeugung, uns zu reinigen.