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Man wird sich aus dem vorhergehenden Kapitel erinnern, dass einer von denen, die den Pfarrer angriffen, seine Kameraden verlassen und im Galopp fortgejagt war, wohin weiss ich nicht. Da er nun sein Pferd in einem hohlen und sehr engen Weg stark antrieb, sah er von ferne einige Reiter auf sich zukommen, wollte also, um ihnen auszuweichen, umkehren und lenkte dabei sein Pferd so kurz und schnell, dass es bäumte und mit seinem Herrn stürzte. La Rappinière und sein Haufen, denn diese waren es, die er gesehen hatte, fanden es auffallend, dass ein Mensch, der so geschwind auf sie zugeritten war, ebenso geschwind wieder umkehren wollte. La Rappinière schöpfte Verdacht. Er war ohnehin von Natur aus etwas sehr misstrauisch und seine Stellung berechtigte ihn schon dazu, eher Böses als Gutes vorauszusetzen. Seine Vermutung mehrte sich, als er näher kam. Der Mensch, der noch ein Bein unter dem Pferde hatte, war mehr über seine Zuschauer erschrocken als über seinen Sturz. La Rappinière, der nichts dabei riskierte, ihm noch mehr Furcht einzujagen, und der überhaupt einer der besten Profosse des Königreichs war, sagte: »So seid Ihr denn gefangen, mein schöner Herr. Wartet, ich will Euch an einen Ort bringen, wo Ihr nicht so leicht wieder fallen sollt.« Diese Worte machten den Unglücklichen noch bestürzter, und la Rappinière und die Seinen sahen so viel Zeichen eines bösen Gewissens auf seinem Gesicht, dass jeder auch weniger Beherzte ihn angehalten hätte. Er befahl also seinen Leuten, ihm aufzuhelfen und liess ihn auf sein Pferd binden. Die Zusammenkunft mit dem Pfarrer von Domfront, den er in so schlimmem Zustand traf, den getöteten Menschen neben dem erschossenen Pferd, alles das überzeugten ihn, dass er sich nicht geirrt hatte, ganz abgesehen von der Furcht, die der Gefangene sichtbar zeigte. Destin sah ihn aufmerksamer an als die übrigen und glaubte ihn zu kennen; doch sann er vergebens den ganzen Weg über nach. Man kam nach Mans, wo la Rappinière den vermeintlichen Missetäter ins Gefängnis setzen liess. Die Komödianten aber, die Tags darauf ihre Vorstellungen beginnen wollten, gingen in ihre Schenke, um ihre Sachen noch in Ordnung zu bringen. Sie versöhnten sich wieder mit dem Wirt, und der Poet, der so freigebig war wie nur ein Poet, wollte durchaus das Abendessen bezahlen. Ragotin, der auch in der Schenke war und mit seiner Liebe zu der Etoile gar nicht mehr daraus weggehen konnte, wurde von unserm Poeten dazu eingeladen, sowie auch alle jene, die vorige Nacht Zuschauer der Schlacht zwischen den Komödianten und der Familie des Wirts gewesen waren. Ein wenig vor dem Abendessen wurde diese auserlesene Gesellschaft in der Schenke noch um einen Operateur und dessen Gefolge vermehrt, das aus seiner Frau, einer alten schwarzen Magd, einem Affen und zwei Bedienten bestand. La Rancune kannte ihn seit langer Zeit und machte ihm viel Komplimente. Der Poet, der gerne Bekanntschaften machte, liess dem Operateur und dessen Frau keine Ruhe, bis er sie durch viel Komplimente dahin brachte, dass sie ihm die Ehre erwiesen, mit ihm zu speisen. Man ass und es passierte dabei nichts besonderes; es wurde viel getrunken und auch nicht weniger gegessen. Ragotin weidete seine Augen an der schönen de l'Etoile, was ihn noch betrunkner machte als der Wein. Er sprach gar nichts, obgleich ihm der Poet Stoff genug zum zanken gab, damit dass er die Verse Theophiles verächtlich besprach, die Ragotin sehr verehrte. Die Komödiantinnen plauderten noch eine Weile mit der Frau des Operateurs, die eine Spanierin und nicht übel war. Darauf begaben sie sich auf ihre Zimmer, wohin ihnen Destin folgte, um seine Geschichte fertig zu erzählen, auf die la Caverne und ihre Tochter sehr begierig waren. L'Etoile fing an ihre Rolle zu studieren und Destin setzte seinen Stuhl an ein Bett, worauf la Caverne und ihre Tochter sassen und begann:
»Bisher haben Sie mich sehr verliebt gesehen und darüber beunruhigt, was für eine Wirkung mein Brief auf Leonore und deren Mutter gemacht haben wird, – jetzt werden Sie mich nur noch verliebter und als den unglücklichsten unter den Menschen sehen. Ich ging täglich zu Mademoiselle de la Boissière und deren Tochter und war von meiner Leidenschaft so verblendet, dass ich die Kälte gar nicht merkte, mit der man mir begegnete und weiter gar nicht bedachte, dass meine häufigen Besuche ihnen am Ende unangenehm sein könnten. Mademoiselle de la Boissière war es das auch wirklich, seitdem Saint-Far ihr gesagt hatte wer ich war; aber nach dem was vorgefallen war, konnte sie mir ihr Haus wohl nicht gut verbieten. Ihre Tochter stimmte mit der Mutter nicht überein; sie bedauerte mich, allein wir konnten uns nie sprechen, weil ihre Mutter uns nie verliess. So konnte die Tochter mir nicht anders begegnen, wenn sie es auch gewünscht hätte. Ich litt unaussprechlich und meine häufigen Besuche machten mich bei denen verhasst, welchen ich zu gefallen suchte. Eines Tages, als Mademoiselle de la Boissière Briefe aus Frankreich erhielt, die sie nötigten, sofort auszugehen, schickte sie nach einem Mietwagen und zugleich nach Stephano, dass er sie begleite, weil sie sich seit jener unangenehmen Geschichte nicht mehr traute, allein auszugehen. Ich war ja näher und besser imstande, ihr Beschützer zu sein als der, den sie rufen liess, aber sie wollte keine Dienste von einem annehmen, den sie los sein wollte. Zum Glück war Stephano nicht zu Hause, und sie war gezwungen, mir ihre Verlegenheit einzugestehen, damit ich mich anbieten möchte; was ich nun mit ebensoviel Freude tat als sie Verdruss darüber hatte, mich mitzunehmen. Ich führte sie zu einem Kardinal, der damals die französischen Geschäfte besorgte und der ihr glücklicherweise Audienz gab, sobald sie sich melden liess. Ihre Audienz musste wichtig und nicht ganz ohne Schwierigkeit sein, denn sie dauerte sehr lange und fand in einer Grotte statt, die in einem schönen Garten lag. Ich befand mich also mit der schönen Leonore in einer Orangenallee allein, wie ich es mir so oft gewünscht hatte, und doch war ich verlegen wie immer. Ich weiss nicht, ob sie es bemerkte oder aus Güte zuerst das Wort ergriff: »Meine Mutter hat Ursache auf Herrn Stephano böse zu sein, der uns im Stiche liess, so dass wir Sie bemühen mussten.« Ich antwortete ihr, dass ich ihr ja so viel Dank schuldig wäre, da sie ohne ihr Wissen mir das grösste Glück der Welt verschafft hätte. »Ich bin Ihnen so viel Verbindlichkeit schuldig und nehme an allem teil, an allem, was Ihnen angenehm ist. Sagen Sie mir nur, worin besteht das Glück, das ich Ihnen verschaffte, damit ich mich auch darüber freuen kann, wenn es eine Sache ist, die ein junges Mädchen hören darf.« – »Ich fürchte,« sagte ich, »Sie würden mir die Freude nehmen.« – »Ich?« fragte sie, »ich war nie neidisch, und wenn ich es auch wäre, so doch niemals gegen einen Menschen, der sein Leben für mich gewagt hat.« – »Sie sollten mich nicht beneiden?« fragte ich. »Und aus welchem Grunde sollte ich mich Ihrem Glück entgegen setzen?« sagte sie. »Aus Verachtung«, antwortete ich. »Sie machen mich sehr verlegen,« sagte sie, »wenn Sie mir das nicht sagen, was ich verachten sollte, und auf welche Art eine Sache, die ich verachte, Ihnen unangenehm werden kann.« – »Es ist mir leicht, mich darüber zu erklären, aber ich weiss nicht, ob Sie mich anhören werden.« – »Nun, so sagen Sie mir's also nicht,« antwortete sie, »denn zweifelt man schon, ob eine Sache angehört werden wird oder nicht, so ist es ein Zeichen, dass sie entweder unverständlich oder unangenehm ist.« Ich gestehe, dass ich mich nachher oft darüber wunderte, wie ich ihr antworten konnte, denn ich dachte nicht an das, was sie sagte, sondern nur immer daran, dass ihre Mutter kommen konnte und mir die Gelegenheit genommen wäre, ihr je von meiner Liebe zu sprechen. Kurz, ich fasste Mut und ohne eine Unterredung zu verlängern, die mich nicht geschwind genug dahin brachte wohin ich wollte, sagte ich ihr, ohne auf ihre letzte Bemerkung zu antworten, dass ich schon längst Gelegenheit gesucht hätte sie zu sprechen, um ihr das zu bestätigen, was ich kühn genug schon geschrieben hätte, und dass ich niemals gewagt hätte, es zu sagen, wenn ich nicht wüsste, dass sie meinen Brief gelesen hätte. Ich wiederholte nun einen grossen Teil von dem, was ich ihr geschrieben hatte, und fügte hinzu, dass ich bereit wäre in den Krieg zu gehen, den der Papst mit einigen italienischen Fürsten führte, und entschlossen wäre, darin zu sterben, weil ich doch nicht würdig wäre, für sie zu leben. Ich bäte sie nur, mir zu sagen, was sie für mich gefühlt haben würde, wenn meine Glücksumstände in besserem Verhältnis zu den ihrigen gestanden hätten. Sie gestand mir, dass mein Tod ihr nicht gleichgültig gewesen wäre. »Und wenn Sie imstande sind, etwas für Ihre Freunde zu tun, so erhalten Sie uns einen, der uns so nützlich war, oder wenn Sie doch dem Tode zueilen wollen, so heben Sie ihn für eine wichtigere Angelegenheit auf als die ist, die Sie mir angegeben haben, und warten Sie bis wir nach Frankreich zurückgekehrt sind, wohin ich bald mit meiner Mutter reisen werde.« Ich drang in sie, mir deutlicher zu erklären, was sie für mich fühlte, allein ihre Mutter war uns so nahe, dass sie nicht mehr antworten konnte. Mademoiselle de la Boissière war sehr kühl gegen mich, vermutlich weil ich Zeit gehabt hatte, mich mit ihrer Tochter zu unterhalten, die etwas verlegen war. Ich hielt mich nicht mehr lange bei ihnen auf und verliess sie zufrieden und zog aus Leonorens Antwort gute Vorbedeutung für meine Liebe. Den andern Tag ging ich meiner Gewohnheit gemäss wieder hin: man sagte mir, die Damen seien ausgegangen und so drei Tage hintereinander, da ich mich nicht abschrecken liess, immer wieder hinzugehen. Endlich riet mir Stephano meine Besuche einzustellen, weil Mademoiselle de la Boissière mir nicht mehr erlauben würde, ihre Tochter ferner zu sehen, und er setzte hinzu, dass ich doch zu vernünftig wäre, mir eine abschlägige Antwort zu holen. Er erzählte mir auch die Ursache dieser Ungnade. Die Mutter hat Leonoren dabei getroffen als sie eben einen Brief an mich schrieb und war deshalb sehr hart gegen sie gewesen; sie befahl darauf all ihren Leuten mich jedesmal abzuweisen und zu sagen, sie wären ausgegangen. Ich erfuhr nun auch den schlechten Streich, den mir Saint-Far gespielt hatte, und dass seit dieser Zeit meine Besuche der Mutter sehr unangenehm gewesen wären. Was die Tochter betrifft, versicherte mir Stephano, so hätten meine Verdienste in ihren Augen meine niedere Geburt ersetzt, und sie wäre nicht so eigennützig wie die Mutter. Ich will nicht sagen, in welche Verzweiflung mich diese Nachricht gestürzt hat. Ich grämte mich, als hätte man mir Leonoren unrechtmässigerweise geraubt, obgleich ich niemals gehofft hatte, sie zu besitzen. Ich war über Saint-Far wütend und wollte mich mit ihm schlagen. Als ich jedoch alles wieder bedachte, was ich seinem Vater und seinem Bruder zu danken hatte, begnügte ich mich mit Tränen und weinte wie ein Kind. Ich musste abreisen ohne Leonore mehr zu sehen. Wir machten einen Feldzug in der päpstlichen Armee mit, wo ich alles tat um mein Leben los zu werden, – aber das Glück war mir darin zuwider, so wie in allen andern Dingen. Ich konnte den Tod nicht finden, den ich suchte, und fand Ruhm, den ich nicht suchte und der mir zu einer andern Zeit lieb gewesen wäre; aber damals war nichts als Leonore. Verville und Saint-Far mussten nach Frankreich zurück, wo sie Baron d'Arques als liebevoller Vater in die Arme schloss. Meine Mutter empfing mich sehr kalt und mein Vater war in Paris bei dem Grafen von Glaris, der ihn zum Hofmeister für seinen Sohn erwählt hatte. Der Baron d'Arques, der erfahren hatte, was ich in dem italienischen Krieg geleistet und dass ich Verville das Leben gerettet hatte, wollte haben, dass ich als Gesellschaftskavalier bei ihm bleiben solle. Er erlaubte mir, meinen Vater in Paris zu besuchen, der mich noch kälter empfing als meine Mutter. Ein anderer Vater, der einen solchen Sohn gehabt hätte, würde ihn gewiss dem schottischen Grafen, seinem Herrn, vorgestellt haben; statt dessen eilte mein Vater mit mir auf die Strasse, gleich als ob er sich meiner geschämt hätte. Er warf mir vor, dass ich zu kühn wäre; dass ich ein stolzes Aussehen hätte und dass ich besser getan hätte, wenn ich ein Handwerk gelernt als dass ich den Degen ergriffen hätte. Man kann leicht denken, dass dergleichen Reden einem jungen Menschen, der gut erzogen war, sich Ruhm im Kriege erworben und einem schönen Mädchen seine Liebe erklärt hatte, sehr unangenehm sein mussten, und ich gestehe, dass mich die Achtung, die man für einen Vater haben soll, nicht hinderte, ihn für einen alten unangenehmen Mann zu halten. Er begleitete mich zwei bis drei Strassen lang, und verliess mich dann mit dem Verbot, ihn je wieder zu besuchen. Es kostete mich nicht viel Überwindung ihm zu gehorchen. Ich verliess ihn, um Herrn von Saint-Sauveur zu besuchen, der mich wie ein Vater empfing und über das schlechte Benehmen des meinigen sehr empört war und mir versprach, mich nicht zu verlassen. Der Baron d'Arques hatte Geschäfte, die ihn nötigten in Paris zu wohnen. Er nahm sein Quartier an dem äussersten Ende der Vorstadt Saint-Germain in einem sehr schönen Hause, das man nebst vielen andern erst kürzlich gebaut hatte, wodurch diese Vorstadt so schön wurde wie die Stadt selber. Saint-Far und Verville gingen zu Hof, machten Besuche und taten alles, was junge Leute vom Stande in dieser grossen Stadt zu tun pflegen, in der die Einwohner anderer Städte wie Leute vom Land aussehen. Ich ging, wenn ich sie nicht begleitete, auf alle Fechtböden oder auch in die Komödie, und dies wird die Ursache sein, dass ich ein leidlicher Komödiant geworden bin.
Eines Tages nahm mich Verville beiseite und entdeckte mir, dass er in eine Dame sehr verliebt wäre, die in der gleichen Strasse wohnte. Er sagte mir, sie hätte einen Bruder, namens Saldagne, der auf sie und noch eine Schwester ebenso eifersüchtig sei als wenn er ihr Mann wäre. Er sagte noch, dass er sie beredet habe, ihn des Nachts in ihren Garten einzulassen, dessen Hintertür so wie die des Baron d'Arques auf das freie Feld ging. Er bat mich, ihn dahin zu begleiten und alles zu tun, um mich bei dem Kammermädchen einzuschmeicheln, das sie mitbringen musste. Ich konnte das Verville, dem ich so viel Freundschaft schuldete, unmöglich abschlagen. Wir gingen also abends gegen zehn Uhr durch die Hintertür unseres Gartens, und wurden im Garten der Dame erwartet. Mademoiselle de Saldagne zitterte vor Furcht und traute sich nicht zu sprechen. Verville war auch nicht viel beherzter. Ich sprach überhaupt nicht und hatte auch keine Lust zu reden. Endlich fasste sich Verville und führte seine Dame in eine bedeckte Allee, nachdem er dem Mädchen und mir eingeschärft hatte, ja genau aufzupassen; und dies taten wir denn auch so gründlich, dass wir lange Zeit hindurch auf und ab spazierten ohne ein Wort zu reden. Am Ende der Allee stiessen wir mit den Verliebten wieder zusammen. Verville fragte mich laut, ob ich Mademoiselle Madelon gut unterhalten hätte; ich antwortete, ich glaube nicht, dass sie sich über mich zu beklagen hätte. »Nein, gewiss nicht,« antwortete das Kammermädchen, »denn er hat noch kein Wort mit mir gesprochen.« Verville lachte und versicherte Madelon, dass es sich schon verlohnte, mit mir bekannt zu werden, wenn ich auch etwas melancholisch wäre. Mademoiselle de Saldagne nahm das Wort und sagte, dass ihr Kammermädchen auch nicht zu verachten wäre, worauf uns die beiden Verliebten wieder verliessen mit der nochmaligen Mahnung ja gut acht zu geben. Ich machte mich nun auf sehr viel Langeweile bei dem Mädchen gefasst; ich dachte, sie würde fragen, wieviel Lohn ich hätte, welche Mädchen aus der Nachbarschaft ich kenne, ob ich bei meinem Herrn viel verdiene; ferner die Geheimnisse des Hauses von Saldagne, sowie alle Fehler des Bruders und dessen Schwester zu hören. Denn wenig Mädchen kommen zusammen, ohne sich gegenseitig alles zu erzählen, was sie über ihre Herrschaften wissen und zugleich zu klagen, dass sie ihr eigenes und das Glück ihrer Bedienten so wenig förderten. Ich war deshalb sehr erstaunt, mit einem Mädchen allein zu sein, das schliesslich zu mir sagte: »Du stummer Geist, ich beschwöre dich, mir zu bekennen, ob du ein Bedienter bist, und wenn du einer bist, so sage mir, durch welches Wunder du dich bisher hast zurückhalten können, von deinem Herrn Übles zu sagen.« Diese Worte klangen im Munde eines Kammermädchens doch recht sonderbar und ich fragte sie, mit welchem Rechte sie mich denn so beschwöre. »Ich sehe wohl,« fuhr sie fort, »du bist ein hartnäckiger Geist; vermöge der Macht, die ich über alle hochmütigen und prahlerischen Bediente habe, sage mir, wer bist du?« – »Ich bin ein armer Teufel,« sagte ich, »der jetzt gerne in seinem Bette liegen möchte.« – »Ich sehe wohl,« sagte sie, »es wird schon etwas Mühe kosten, dich kennen zu lernen. Wenigstens habe ich bemerkt, dass du nichts weniger als galant bist; denn hättest du mich nicht zuerst anreden sollen, mir viele Süssigkeiten erzählen, die Hand drücken, drei oder vier Ohrfeigen dafür in Empfang nehmen, um nachher als einer der glücklichsten Menschen nach Hause zu gehen?« – »Es gibt Mädchen in Paris,« sagte ich, »von denen ich Zeichen gerne an mir tragen möchte, andere aber gibt es auch, die ich nicht gerne ansehen möchte, aus Furcht böse Träume davon zu bekommen.« – »Du glaubst also,« sagte sie, »dass ich hässlich bin? Mein heikler Herr, weisst du denn nicht, dass bei Nacht alle Katzen schwarz sind.« – »Ich will des Nachts nichts tun,« sagte ich, »was ich am Tage bereuen könnte.« – »Und wenn ich nun schön wäre?« fragte sie. »Alsdann wäre ich nicht ehrerbietig genug gegen dich gewesen,« versetzte ich »ausserdem würdest du mit dem Verstand, den du zu haben scheinst, verdienen, in aller Form bedient und geliebt zu werden.« – »Und würdest du wohl einem anständigen Mädchen aufwarten?« fragte sie mich. »Besser als jeder anderen,« sagte ich, »vorausgesetzt, dass ich sie liebe.« – »Was liegt daran?« versetzte sie, »genug, dass du geliebt würdest.« – »In Liebessachen müssen beide Teile übereinstimmen«, antwortete ich. »Gewiss,« sagte sie, »wenn ich von dem Bedienten auf den Herrn schliessen soll, so hat meine Gebieterin an Herrn von Verville hübsch gewählt, und das Mädchen, zu dem du dich herablassen würdest, hätte grosse Ursache stolz zu sein.« – »Es genügt nicht, mich reden zu hören, man muss mich auch sehen.« – »Ich glaube,« versetzte sie, »keines von beiden ist nötig.« Hier wurde unsere Unterredung unterbrochen, denn draussen klopfte Herr von Saldagne heftig an die Türe, die nach der Strasse ging. Man beeilte sich nicht sehr, ihm zu öffnen, da seine Schwester vorher sich noch auf ihr Zimmer begeben wollte. Die Dame und das Mädchen waren so verwirrt, dass sie uns ohne Gutenacht-Gruss zum Garten hinaus liessen. Niemals habe ich einen verliebtern und zufriedenern Menschen gesehen als Verville; er hielt mich die ganze Nacht auf, wiederholte mir hundertmal das nämliche und ich konnte erst bei Tagesanbruch zu Bette gehen. Ich für meinen Teil verwunderte mich sehr, ein Kammermädchen mit so viel Verstand gefunden zu haben, und gestehe gerne, dass ich begierig war zu erfahren, ob sie schön wäre, wennschon das Andenken an Leonore mich bis jetzt gegen alle schönen Mädchen von Paris unempfindlich gemacht hatte. Verville und ich erwachten zu Mittag. Sogleich schickte er einen Brief an Fräulein von Saldagne durch einen Bedienten, der schon mehrere überbracht hatte und der in Briefwechsel mit dem Kammermädchen stand. Als er ging, dachte ich mir, wenn das Mädchen, mit dem ich mich unterhalten hatte, ihn sähe, mit ihm sprechen würde und ihn so hässlich fände, könnte sie wohl nicht annehmen, dass es derselbe wäre, der am Abend vorher Verville begleitet hatte. Dieser einfältige Kerl richtete den Auftrag für einen Dummkopf gut aus; er fand Mademoiselle de Saldagne bei ihrer älteren Schwester, der Mademoiselle de Lery, die das Vertrauen der jüngeren Schwester hatte. Während er noch auf Antwort wartete, hörte man Herrn von Saldagne auf der Treppe; er trat in das Zimmer der beiden Schwestern, die den Kerl rasch in eine Garderobe versteckten. Der Bruder blieb nicht lange bei der Schwester und der Gefangene war bald erlöst. Mademoiselle de Saldagne schloss sich in ein kleines Kabinett ein um Verville zu antworten und Mademoiselle de Lery sprach unterdessen mit dem Bedienten, der sie wohl nicht gut unterhielt. Ihre Schwester, die nun ihren Brief beendet hatte, befreite sie von dem Tölpel und schickte ihn mit dem Zettel zu seinem Herrn: sie versprach ihm, ihn zur selben Stunde wieder im Garten zu erwarten wie am Abend zuvor. Des Abends wurden wir in den Garten eingelassen und ich fand wieder dieselbe Person, die mich am Abend zuvor so witzig unterhalten hatte. Ich wünschte am Klang ihrer Stimme, sie möchte ebenso schön sein als klug. Sie konnte nicht glauben, dass ich der Bretagner wäre, den sie am Tage gesehen hatte, und nicht begreifen, warum ich da weniger Verstand hätte als bei Nacht; der Bretagner hatte gesagt, dass ihn die Ankunft des Saldagne in dem Zimmer seiner Schwester sehr erschreckt hätte, worauf ich dies nützend sagte, dass mich das nicht für meine Person, sondern für Fräulein von Saldagne erschreckt hätte. Diese Rede nahm ihr nun jeden Zweifel, dass ich der Bediente von Verville sein könne, obschon sie es darauf absah mich nur durch Bedientendiskurse zu unterhalten. Sie sagte mir, dass Herr von Saldagne ein schlimmer Herr wäre; seine Eltern wären früh gestorben, hätten ihm viel Geld hinterlassen, auch wären wenig Verwandte am Leben, da hätte er seine Schwestern sehr tyrannisiert, dass sie in ein Kloster gehen sollten, und wäre ihnen nicht nur wie ein ungerechter Vater, sondern wie ein eifersüchtiger und unerträglicher Gatte begegnet. Ich wollte ihr nun meinerseits von Baron d'Arques erzählen, als wir auf einmal an der Gartentüre, die wir nicht geschlossen hatten, Herrn von Saldagne mit zwei Bedienten herein kommen sahen, von denen einer eine Fackel trug. Er kam gerade aus einem Hause am Ende derselben Strasse, das auf der einen Seite seines und unseres Hauses lag und in dem auch Saint-Far öfters spielte. Sie hatten beide an diesem Abend gespielt und als Saldagne all sein Geld verloren hatte, kehrte er wider seine Gewohnheit früh durch die offen gebliebene Hintertüre des Gartens heim, wo er uns alle vier überraschte. Wir waren soeben alle vier in dem bedeckten Gang, was uns Gelegenheit gab uns zu verbergen. Die Dame blieb unter dem Vorwande noch im Garten den Abend zu geniessen und fing sehr gegen ihre Lust, wie man sich denken kann, an zu singen. Inzwischen hatte Verville an einem Holzgitter die Mauer erstiegen und war auf der andern Seite hinunter gesprungen; aber ein dritter Bedienter, der noch nicht im Hause war, sah ihn springen und lief zu seinem Herrn, ihm zu sagen, dass er einen Mann habe über die Gartenmauer springen sehen. In demselben Augenblick hörte man mich in den Garten fallen, denn das Gitterwerk, das Verville getragen hatte, zerbrach unter mir. Durch dieses Geräusch kam alles, was im Garten war, in Bewegung. Saldagne folgte sofort der Richtung des Lärms, und als er einen Mann mit einem Degen in der Hand erblickte (sobald ich aufgestanden war, hatte ich mich in Verteidigungszustand gesetzt), griff er mich sogleich an. Ich zeigte ihm nun auch den Meister; da der Bediente mit der Fackel näher kam, sah ich Saldagnes Gesicht und erkannte in ihm denselben Franzosen, der mich seinerzeit in Rom hatte ermorden wollen, weil ich ihn gehindert hatte, Leonore unanständig zu begegnen. Er erkannte mich ebenfalls und zweifelte nicht daran, dass ich gekommen war, mich an ihm zu rächen. Also schrie er mich an, dass ich ihm dieses Mal nicht entgehen würde. Jetzt befand ich mich auch wirklich in Gefahr, zumal ich das Bein bei dem Falle fast gebrochen hatte. Beim Zurückweichen kam ich bis an das Gartenhäuschen, wo ich Vervilles Geliebte hatte sehr traurig hinein gehen sehen. Sie ging nicht hinaus als ich mich dahinein flüchtete, sei es, dass sie die Zeit dazu nicht hatte oder dass sie vor Schrecken unbeweglich blieb. Als ich nun sah, dass ich, durch die Türe geschützt, nur mehr von vorne angegriffen werden konnte, fasste ich von neuem Mut. Ich verwundete Saldagne an der Hand und einen der hitzigsten Diener am Arm. Dies verschaffte mir einen Augenblick Ruhe; ich glaubte jedoch nicht mit dem Leben davon zu kommen, und nahm an, sie würden mich, wenn sie anders nicht mit mir fertig werden konnten, mit Pistolenschüssen umbringen. Da kam mir Verville zu Hilfe. Er wollte nicht ohne mich nach Hause gehen, hörte den Lärm und das Degengeklirr und kam, mich aus der Gefahr zu retten, in die ich durch ihn gekommen war, oder sie wenigstens mit mir zu teilen. Saldagne, der ihn kannte, glaubte, er käme ihm zu Hilfe als Freund und Nachbar. Er war höflich und sagte zu ihm: »Sie sehen, verehrter Herr, wie man mich in meinem Hause ermorden will.« Verville, der seinen Gedanken erraten hatte, sagte kurz, er würde ihm gegen jeden andern beistehen, aber jetzt käme er nur, mir gegen jeden, wäre es auch wer immer, zu helfen. Saldagne wurde über seinen Irrtum so rasend, dass er fluchte und schwur, mit zwei Verrätern auch noch fertig werden zu können; und zugleich ging er auf Verville unsinnig los, der ihn tapfer empfing. Ich kam aus dem Gartenhäuschen heraus um meinem Freund zu helfen und da ich den Bedienten mit der Fackel sah, dachte ich nicht ihn umzubringen, sondern versetzte ihm nur einen Schlag mit dem Degenkorb auf den Kopf, dass er heftig darüber erschrak und weit hinaus ins Feld lief und Mörder schrie. Auch die übrigen Bedienten liefen fort. Saldagne sah ich im Augenblick als die Fackel verlöschte fallen, entweder durch Zufall oder weil Verville ihn verwundet hatte. Wir hielten es nicht für ratsam, ihn aufzuheben, sondern machten uns in grösster Eile davon. Die Schwester Saldagnes hatte von ihrem Versteck aus alles gesehen, eilte nun hervor und bat uns, voller Angst vor dem Bruder, wir sollten sie doch mitnehmen. Verville war ganz entzückt, seine Geliebte in seiner Gewalt zu haben; wir fanden die Türe des Gartens noch unverschlossen, verschlossen sie auch nicht, falls wir sie wieder benutzen sollten, und eilten fort. In unserem Garten war ein schöner bemalter Pavillon, in dem im Sommer gespeist wurde, vom Wohnhaus entfernt; meine jungen Herren und ich belustigten uns öfters darin mit Fechten; da es der angenehmste Ort des Hauses war, hatten der Baron d'Arques, seine Söhne und ich jeder einen Schlüssel, damit die Bedienten nicht hinein könnten und die Möbel und Bücher nicht ruinierten. In diesen Pavillon brachten wir unsere Dame, die ganz untröstlich war. Ich sagte ihr, dass wir für ihre und unsere Sicherheit sorgen und gleich wieder bei ihr sein würden. Verville brauchte eine gute Viertelstunde, bis er seinen stark angetrunkenen Bretagner aufgeweckt hatte. Sobald dieser uns nun Licht gebracht hatte, überlegten wir eine Weile, was wir nun mit Saldagnes Schwester anfangen sollten. Endlich beschlossen wir, sie auf mein Zimmer zu bringen, das im dritten Stocke des Hauses lag und von niemandem ausser mir und meinem Bedienten betreten wurde. Wir kehrten nun mit dem Lichte in den Gartensaal zurück; beim Eintreten stiess Verville einen lauten Schrei aus, was mich sehr verwunderte. Ich hatte keine Zeit zu fragen, was ihm begegnet sei, denn ich hörte an der Saaltüre reden in demselben Augenblick als ich mein Licht auslöschte. Verville rief: »Wer da?« Sein Bruder Saint-Far antwortete uns: »Ich bins, was Teufel sucht Ihr hier zu dieser Stunde ohne Licht?« – »Ich unterhielt mich hier mit Garigues, weil ich nicht schlafen konnte«, antwortete Verville. – »Und ich«, sagte Saint-Far, »kann auch nicht schlafen, ging in den Pavillon und bitte Euch, mich allein zu lassen.« Wir liessen uns nicht lange bitten. Ich liess die Dame so leise wie möglich zur Türe hinaus gehen, indem ich mich zwischen sie und Saint-Far stellte. Ich führte sie hinauf in mein Zimmer, ohne dass sie unterwegs aufgehört hätte zu jammern, und ging alsdann zu Verville, wo dessen Bedienter soeben wieder Licht gemacht hatte. Verville sagte mir düster, dass er notwendigerweise wieder zu Saldagne gehen müsste. »Und was wollen Sie dort machen? ihm vollends den Garaus?« – »Ach lieber Garigues, ich bin der unglücklichste Mensch von der Welt, wenn ich nicht Fräulein von Saldagne aus den Händen ihres Bruders rette.« – »Wie kann sie denn bei ihm sein, wenn sie auf meinem Zimmer ist«, fragte ich. – »Wollte Gott, es wäre so«, seufzte er. – »Ich glaube Sie träumen«, versetzte ich. – »Ich träume nicht,« sagte er, »wir haben die ältere Schwester der Mademoiselle de Saldagne statt ihrer mitgenommen.« – »Wie,« sagte ich, »waren Sie denn nicht mit ihr im Garten?« – »Selbstverständlich«, sagte er. – »Warum wollen Sie denn hingehen und sich von ihrem Bruder totschlagen lassen, da die Schwester in meinem Zimmer ist?« – »Ach Garigues,« rief er aus, »ich weiss wohl was ich gesehen habe.« – »Und ich auch,« rief ich, »und damit Sie sehen, dass ich nicht irre, so kommen Sie mit mir und sehen Sie Mademoiselle de Saldagne.« Er sagte, ich wäre närrisch und folgte mir ganz niedergeschlagen. Es war aber doch mein Erstaunen gross, als ich eine Dame fand, die ich niemals gesehen hatte und die auch nicht diejenige war, die ich hergeführt hatte. Verville war ebenso erstaunt wie ich, jedoch zugleich der glücklichste Mensch der Welt, denn es war wirklich Mademoiselle de Saldagne. Er gestand, dass er sich geirrt hatte. Ich konnte nicht antworten, denn ich begriff nicht, durch welchen Zauber sich eine Dame auf dem kurzen Wege vom Pavillon in mein Zimmer in eine andere verwandelt hatte. Ich betrachtete Vervilles Geliebte immer aufmerksamer und fand immer mehr, dass es die nicht war, die wir von Saldagne mitgenommen hatten. Verville, der mich so erstaunt sah, wiederholte, er gebe noch einmal zu, dass er sich geirrt habe. »Und ich habe mich noch mehr geirrt,« antwortete ich, »wenn es Mademoiselle de Saldagne war, die mit uns hierherkam.« – »Und mit wem denn sonst?« antwortete er. – »Ich weiss es nicht, und niemand wird es besser wissen als Mademoiselle selbst.« – »Ich weiss auch nicht, mit wem ich gekommen bin,« sagte Mademoiselle de Saldagne, »wenn es nicht dieser Herr da war. Herr von Verville hat mich nicht von meinem Bruder weggenommen, sondern ein Mensch, der einen Augenblick später in unser Haus kam als ihr schon fort wart; ich weiss nicht, ob ihn die Wehrufe meines Bruders herbeigelockt haben oder ob die Bedienten, die mit ihm kamen, ihn davon benachrichtigt hatten. Er liess meinen Bruder in sein Zimmer bringen, und als meine Kammerfrau mir das hinterbrachte und hinzufügte, dass sie bemerkt hätte, dieser Herr wäre meinem Bruder bekannt und unser Nachbar, so erwartete ich ihn im Garten und bat ihn, mich bis morgen früh mitzunehmen, wo ich mich alsdann zu einer Dame meiner Bekanntschaft begeben würde, bis der Zorn meines Bruders vorüber wäre, den zu fürchten ich Ursache hätte. Dieser Mensch bot sich an, mich dahin zu führen, wohin ich wolle und mich mit Gefahr seines Lebens gegen meinen Bruder zu verteidigen. Unter seinem Schutz bin ich hierher gekommen, wo Verville, dessen Stimme ich erkannte, mit eben diesem Herrn sprach.« Das, was uns Mademoiselle de Saldagne sagte, gab uns zwar noch keinen völligen Aufschluss, doch konnten wir ungefähr erraten, wie die Sache zugegangen war. Verville betrachtete seine Geliebte so entzückt, dass er wenig darauf achtete, was sie sagte. Er sagte ihr eine Menge zärtliche Dinge, ohne sich viel darum zu kümmern, wie sie zu uns gekommen war. Ich liess sie also allein, nahm ein Licht mit mir und ging zurück nach dem Pavillon, um mit Saint-Far zu reden, auf die Gefahr hin, dass er seiner Gewohnheit nach mir schlecht begegnen würde. Wie erstaunte ich aber, hier die Dame zu treffen, von der ich sicher war, dass ich sie von Saldagne mitgebracht hatte! Mehr erstaunte mich noch ihr Zustand, denn sie sah aus, wie eine Person, der man Gewalt antun wollte: ihre Frisur war zerrissen, ihr Halstuch verschoben und ihr Gesicht an verschiedenen Stellen blutig. »Verville,« sagte sie als sie mich sah, »kommen Sie mir nicht zu nahe, anders als um mich zu töten! Dies wäre besser als eine zweite Gewalttätigkeit gegen mich unternehmen! Da ich Kräfte genug hatte, der ersten zu widerstehen, so wird mir Gott helfen, Ihnen die Augen auszukratzen, wenn ich Sie nicht töten kann! Dies also ist die heftige Liebe, die Sie zu meiner Schwester haben? Wie teuer muss ich die Gefälligkeit gegen Ihre Torheit bezahlen! Es ist ganz gerecht, wenn man das Ärgste ertragen muss, hat man vernachlässigt, das Rechte zu tun. – Was überlegen Sie denn so lange«, fuhr sie fort als sie mich so erstaunt dastehen sah; »fühlen Sie Reue über Ihre Schlechtigkeit? Wenn das der Fall ist, so will ich es vergessen. Sie sind jung und ich war unvorsichtig, mich einem Menschen Ihres Alters zu überlassen; ich beschwöre Sie, führen Sie mich zu meinem Bruder zurück, so grausam er auch ist, so fürchte ich ihn doch noch weniger als Sie, da Sie ein niederträchtiger Mensch oder besser ein geschworener Feind unseres Hauses sind, denn es war Ihnen nicht genug ein Mädchen zu verführen und einen Edelmann zu ermorden, Sie wollten auch noch grössere Sünden begehen.« Bei diesen Worten fing sie heftig an zu weinen. Ich gestehe, ich verlor jetzt ganz den Verstand, der mir in all diesem Wirrsal übrig geblieben war. Hätte sie nicht aufgehört, ich hätte es nicht gewagt sie zu unterbrechen, so gross war mein Staunen und der Eindruck ihrer Worte und Vorwürfe. »Fräulein,« sagte ich, »ich bin nicht Verville und versichere Ihnen, dass er keiner solchen schlechten Handlung fähig ist, wie die, worüber Sie sich beklagen.« – »Wie, du wärst nicht Verville? Habe ich dich nicht mit meinem Bruder fechten sehen? Und ist dir nicht ein junger Edelmann zu Hilfe gekommen? Hast du mich nicht auf mein Bitten hierher geführt, wo du mir eine dir und meiner unwürdige Gewalt antun wolltest?« Der Schmerz erstickte ihre Stimme, sie konnte nicht weiter reden. Ich war nun in grosser Verlegenheit und konnte nicht begreifen, wie sie Verville kannte und wieder nicht kennen konnte. Ich sagte ihr, dass es mir nicht bewusst wäre, dass man ihr Gewalt hätte antun wollen, und ich sie, da sie eine Schwester des Herrn von Saldagne wäre, nun zu ihrer Schwester führen wollte. Da trat Verville mit Fräulein de Saldagne herein, die von einem sonderbaren Einfall getrieben, durchaus zu ihrem Bruder zurück wollte. Die beiden Schwestern fielen sich unter Tränen in die Arme. Verville bat sie inständig auf mein Zimmer zurückzukehren; er stellte ihnen vor, wie schwer es sein würde, bis man ihnen bei Herrn von Saldagne öffnete, das ganze Haus wäre in Aufruhr, und die Gefahr gross, die sie bei einem so unsinnigen Menschen erwarte; und dass sie in unserer Wohnung nicht entdeckt werden könnten, dass es bald Tag werden würde, dass man, wenn man Nachricht über Herrn Saldagnes Zustand hätte, weitere Entschlüsse fassen könne. Verville hatte sie bald überredet, da sie sich durch ihr Zusammensein schon sehr beruhigt hatten. Wir gingen in mein Zimmer zurück und fanden nach reifer Untersuchung, dass die schlechte Behandlung, die Mademoiselle de Lery erfahren hatte, nur von Saint-Far herrühren konnte; Verville und ich wussten, dass er noch ganz anderer Dinge fähig war. Und wir hatten uns nicht geirrt. Saint-Far hatte in demselben Hause gespielt, wo Saldagne sein Geld verloren hatte, und da er einen Augenblick später als wir den Lärm verursacht hatten, an dem Garten vorbeiging, hatte er die Bedienten Saldagnes getroffen, die ihm alles erzählten, was ihrem Herrn begegnet war, lind versicherten, er wäre von etwa acht Räubern ermordet worden, um ihre eigene Feigheit zu beschönigen. Saint-Far glaubte sich als Nachbar verbunden, ihm seine Dienste anzubieten; er verliess ihn nicht eher, bis er ihn in sein Zimmer hatte bringen lassen; beim Weggehen hatte Mademoiselle de Saldagne ihn ersucht, sie vor dem Zorn des Bruders zu schützen, und war in unser Haus gekommen, so wie mit uns die Schwester. Er wollte sie nun in den Gartensaal bringen, wo, wie ich bereits sagte, wir schon waren; er fürchtete ebenso wie wir, wir möchten seine Dame sehen, so wie er die unserige. Da beide aber ungefähr nebeneinander standen als er hereintrat und wir herausgingen, so nahm ich die seinige, und er, sich gleichfalls irrend, die unsere; auf diese Weise geschah der Tausch. Dies konnte um so leichter geschehen, da ich gleich anfangs das Licht gelöscht hatte, und weil jede, so wie wir selbst alle, nicht mehr recht wusste, was sie tat. Sobald wir sie nun in dem Pavillon verlassen hatten und Saint-Far mit einem schönen Frauenzimmer allein, seinen Trieben immer mehr gehorchte als der Vernunft, mit einem Worte die Unverschämtheit selber war, wollte er die Gelegenheit nützen ohne zu bedenken was daraus entstehen konnte, eine Dame von Stande so zu beleidigen. Seine Unverschämtheit wurde aber nach Verdienst bestraft. Mademoiselle de Lery verteidigte sich tapfer, sie biss und kratzte ihn ganz blutig. Nach all dem legte er sich ganz ruhig zu Bett als wenn nichts geschehen wäre. Vielleicht wird man noch fragen, wie Mademoiselle de Lery sich in dem Garten befinden konnte als uns ihr Bruder überraschte, da sie doch nicht mit der Schwester gekommen war; und dies setzte mich ebenso in Verwunderung wie euch. Doch ich erfuhr nachher von den beiden, dass Mademoiselle de Lery ihre Schwester in den Garten begleitet hatte, da sie sich auf keine Bediente verlassen wollten, und dass sie es war, die sich unter dem Namen Madelon mit mir unterhalten hatte. Ich wunderte mich also nicht mehr über die Klugheit des Kammermädchens und Mademoiselle de Lery gestand mir, dass sie, nachdem sie mich im Garten gesprochen hatte, sich tags darauf über den Bedienten des Herrn von Verville sehr gewundert hätte. Von dieser Zeit an fühlten wir beide etwas mehr als Achtung für einander und waren beide froh, ich getraue es mir zu behaupten, dass wir uns mit mehr Parität sozusagen besser lieben konnten, als wenn eins von uns ein Bedienter oder eine Magd gewesen wäre. Der Tag brach an, als wir noch zusammen waren. Wir liessen unsere Damen in meinem Zimmer, wo sie schlafen konnten, wenn sie Lust hatten. Verville und ich beratschlagten, was wir tun wollten. Ich, der ich nicht verliebt war, hätte viel für einen tüchtigen Schlaf gegeben; aber bei so wichtigen Dingen durfte ich meinen Freund nicht verlassen. Ich hatte einen Bedienten, der ebenso geschickt war wie der Vervilles ungeschickt; ich unterrichtete ihn so gut wie möglich und schickte ihn aus, bei Saldagne auszukundschaften, was dort vorging. Er besorgte seinen Auftrag gut und berichtete, dass Saldagnes Bedienung aussprenge, dass Diebe ihren Herrn verwundet hätten, und dass man von seinen Schwestern nicht spräche, als wenn er nie welche gehabt, sei es dass er sich nicht um sie bekümmere, sei es dass er seinen Leuten verboten hatte, über Dinge zu sprechen, die ihm keine Ehre machten. »Ich sehe wohl,« sagte Verville, »dass es hier ein Duell geben wird.« – »Vielleicht auch einen Mord,« fügte ich bei und erzählte Verville, dass Saldagne ebenderselbe wäre, der mich habe in Rom ermorden wollen, und dass wir uns wieder erkannt hätten. Ich ging zu den Damen, um ihnen unsre Neuigkeiten zu hinterbringen; unterdessen begab sich Verville zu Saint-Far, um dessen Gesinnung zu erforschen und zu sehen, ob wir richtig geraten hatten. Er fand ihn mit einen zerkratzten Gesicht. Verville konnte jedoch mit allem Fragen nichts anderes herausbringen, als dass er, vom Spiele zurückgekommen, Saldagnes Türe offen gefunden habe und sein ganzes Haus in Aufruhr, ihn selbst hätte er in den Armen seiner Leute verwundet getroffen. »Das ist ein eigener Zufall,« sagte Verville, »und seine Schwestern werden wohl sehr traurig darüber sein; es sind sehr hübsche Mädchen, ich will sofort hingehen, sie besuchen.« – »Was geht das mich an?« antwortete ihm Saint-Far und fing an zu pfeifen, ohne auf die weitern Fragen seines Bruders zu antworten. Verville verliess ihn und kam auf mein Zimmer zurück, wo ich alles versuchte, um unsere traurigen Schönen zu beruhigen. Sie wollten verzweifeln, da sie das Allerschlimmste von ihrem Bruder erwarteten, der ganz der Sklave seiner Leidenschaften war. Mein Bedienter brachte ihnen aus dem nächsten Wirtshaus zu essen. So führten wir dies Leben vierzehn Tage, hielten sie immer in meinem Zimmer versteckt, das im obern Stockwerk ganz abgesondert von den andern Räumen lag. Sie würden sich nicht geweigert haben in ein Kloster zu gehen; doch nach den Vorkommnissen fürchteten sie, dass sie so leicht nicht wieder aus einem Kloster heraus kommen würden. Inzwischen wurde Saldagne wieder gesund; Saint-Far hatte ihn täglich besucht. Verville verliess fast mein Zimmer nicht mehr, was zwar niemandem auffiel, weil man gewohnt war, dass er öfters ganze Tage bei mir mit Lesen und Plaudern zubrachte. Seine Liebe für Mademoiselle de Saldagne vermehrte sich täglich und auch sie liebte ihn nicht weniger; ich missfiel der ältern Schwester nicht, und sie war auch mir nicht gleichgültig, doch hatte ich meine hoffnungslose Liebe zu Leonore deshalb nicht verloren.
Eines Tages erhielt Verville eine Mitteilung von Saldagne, er wolle ihn auf der Ebene Grenelle mit einem seiner Freunde erwarten; in demselben Zettel wurde Verville gebeten, keinen andern als mich mitzubringen: dies gab mir den Gedanken, er wolle uns beide in einer Schlinge fangen. Ich hatte ja Grund genug zu dieser Vermutung und wusste auch, wessen er fähig war. Verville wollte sich nicht daran kehren, wollte ihm alle Genugtuung geben und sich erbieten, seine Schwester zu heiraten. Er liess eine Mietkutsche holen, obschon wir drei eigene Wagen im Hause hatten. Wir gingen hin, wo uns Saldagne erwartete, und Verville war sehr erstaunt, seinen eigenen Bruder als Sekundanten Saldagnes zu sehen. Wir versuchten es mit Bitten und Anerbietungen, der Sache einen gütlichen Verlauf zu geben, mussten uns aber doch entschliessen, uns mit den zwei unvernünftigen Menschen zu schlagen. Ich wollte Saint-Far vorher um Verzeihung bitten, dass ich gezwungen wäre, den Degen gegen ihn zu ziehen; aber er sagte, er hätte mich von jeher nicht leiden können; wenn ich seine Gunst erringen wollte, müsste ich mich schon entschliessen, zwei oder drei Degenstiche zu empfangen. Damit ging er wütend auf mich los. Ich parierte eine Zeitlang, fest entschlossen, mich nicht zu schlagen, wenn ich auch einige Wunden erhalten sollte; das Glück war erst meiner guten Gesinnung günstig; er fiel vor mir nieder: ich liess ihn wieder aufstehen und das machte ihn nur noch wütender auf mich. Nachdem er mir eine leichte Wunde beigebracht hatte, schrie er mich wie einen Bedienten an, dass ich überwunden wäre, so dass ich die Geduld verlor; ich ging auf ihn los, brachte ihn in Verwirrung und kam ihm so nahe, dass ich ihm sein Degengefäss nehmen konnte. »Dem Menschen, den Ihr so hasst, sollt Ihr wenigstens Euer Leben zu danken haben«, sagte ich. Er machte vergebliche Versuche sich loszumachen und sprach kein Wort, der sonst so ein Prahler war. Ich stellte ihm vor, dass wir seinem Bruder und Saldagne zu Hilfe eilen müssten, die sich auf dem Boden wälzten. Da sah ich, dass ich ganz anders mit ihm verfahren müsste: ich schonte ihn also nicht mehr und riss ihm den Degen mit solcher Gewalt aus der Hand, dass ich ihm beinahe den Arm gebrochen hätte; den Degen warf ich weit weg. Ich lief Verville zu Hilfe, der noch heftig mit seinem Gegner kämpfte; als ich hinkam, sah ich von weitem einige zu Pferd auf uns zukommen. Saldagne wurde entwaffnet und ich erhielt von hinten einen Stoss vom tapfern Saint-Far. Nun war ich nicht mehr Herr meines Zornes und brachte ihm eine grosse Wunde bei. Der Baron d'Arques, der gerade in dem Momente dazu kam als ich seinen Sohn verwundete, war ebenso erzürnt auf mich als er vorher gütig war; er ritt auf mich ein und gab mir einen starken Schlag mit seinem Degen auf den Kopf; seine Umgebung folgte seinem Beispiel und ging auf mich los; ich verteidigte mich so gut ich konnte gegen so viel Feinde; am Ende hätte ich aber doch der Überzahl unterliegen müssen, wenn mein grossmütiger Freund Verville sich nicht mit Gefahr seines Lebens zwischen uns gestellt hätte. Er gab seinem Bedienten einen starken Hieb auf den Kopf, der, um sich ihm angenehm zu zeigen, stärker als alle andern auf mich eingehauen hatte. Ich bot dem Baron d'Arques meinen Degen an, aber auch dies rührte ihn nicht; er nannte mich einen undankbaren und törichten Menschen und drohte sogar, mich hängen zu lassen. Ich antwortete ihm darauf sehr stolz: wenn ich auch das alles wäre, so hätte ich doch seinem Sohne das Leben geschenkt und ihn nicht eher verwundet, als bis ich einen verräterischen Stoss von ihm empfangen hätte. Verville beteuerte seinem Vater, dass ich recht hätte, doch der bestand darauf, dass er mich nie mehr sehen wolle. Saldagne stieg mit dem Baron d'Arques in den Wagen, in den man Saint-Far gelegt hatte, Verville, der mich nicht verlassen wollte, setzte sich mit mir in den andern. Er liess mich in dem Hause eines Prinzen absteigen, wo er Freunde hatte, und ging zu seinem Vater. Herr von Saint-Sauveur schickte mir noch in derselben Nacht seinen Wagen und liess mich heimlich in sein Haus holen, wo er wie ein Vater für mich sorgte. Verville kam am andern Tage und erzählte mir, dass sein Vater durch Saldagnes Schwestern von unserer Schlägerei erfahren hatte, und dass die ganze Angelegenheit durch eine doppelte Heirat enden würde, sobald sein Bruder wieder gesund wäre, dessen Wunden ungefährlich wären; es käme bloss auf mich an, mich mit Saldagne zu versöhnen, sein Vater wäre nicht mehr zornig auf mich und bereute, dass er mir so übel begegnet wäre. Er wünschte nur, bald geheilt zu sein, um an so vieler Freude teilzunehmen; aber ich antwortete ihm, dass ich nun nicht länger in einem Lande leben könne, wo man mir meine niedere Herkunft vorwerfen würde, wie es sein Vater getan, dass ich bald das Königreich verlassen wolle, um den Tod im Felde zu finden. Ich glaube, dass ihn mein Entschluss betrübte, doch ein verliebter Mensch denkt selten an etwas anderes mehr als seine Liebe.«
Als Destin in seiner Geschichte so weit gekommen war, hörte man plötzlich einen Flintenschuss auf der Strasse und gleich darauf eine Orgel spielen. Alle liefen an die Fenster. Die Orgel spielte immer weiter, und die etwas davon verstanden, hörten, dass es ein geistliches Lied war. Niemand konnte diese fromme Serenade begreifen, von der man nicht wusste, was sie zu bedeuten hatte. Doch bald wurde jeder Zweifel genommen: man hörte zwei jämmerliche Stimmen, deren eine den Diskant, die andere den Bass heulte, beide Sänger zusammen begleitete die Orgel und sie machten einen solchen Lärm, dass die Hunde der ganzen Nachbarschaft zu heulen begannen. Sie sangen aber:
Lasst uns mit unsern Lauten und Stimmen
Alle Seelen entzücken usw.
Nachdem dieses veraltete Lied war schlecht genug abgesungen worden, vernahm man eine laute Stimme, die den Sängern vorwarf, dass sie immer dasselbe singen. Die armen Leute antworteten, dass sie nicht wüssten was sie singen sollten. »Singt was ihr wollt,« antwortete dieselbe Stimme, »ihr müsst singen, da ihr dafür bezahlt seid.« Nach diesem Machtspruch änderte die Orgel den Ton und man hörte ein schönes Exaudiat, welches sehr tröstlich gesungen wurde. Niemand von den Zuschauern hatte zu reden gewagt, um die Musik nicht zu stören, da fing la Rancune an zu schreien, da er bei solcher Gelegenheit um alles in der Welt nicht geschwiegen haben würde: »Wie ich sehe, hält man hier die Kirche auf der Strasse?« Einer der Zuhörer sagte, dass man dies mit Recht Kirche auf der Strasse nennen könne, ein anderer behauptete, es wäre ein nächtlicher Umgang, kurz alle Witzbolde der Schenke machten sich über die Musik lustig, ohne dass jemand den Anlass zu dieser Musik erraten konnte. Das Exaudiat wurde unterdessen frisch herunter gesungen, als auf einmal ein Schock Hunde einer lüderlichen Hündin nachliefen und sich unter die Beine der Musikanten mischten; da nun Nebenbuhler sich nicht lange zusammen vertragen, so fingen sie an zu bellen und knurren und plötzlich fielen sie sich mit solcher Wut an, dass die armen Musikanten für ihre Beine besorgt davon liefen und den Hunden die Orgel überliessen. Die unbescheidenen Tiere gingen nicht fein säuberlich damit um, und stiessen das Gestell, worauf das harmonische Instrument stand, um, – ich will nicht beschwören, dass nicht auch einer sein Bein aufhob und an die Orgel gepisst hätte. Da nun das Konzert also gestört war, machte der Wirt die Haustüre auf und wollte wenigstens die Orgel in Sicherheit bringen. Wie er nun mit seinem Knechte dies verdienstliche Werk verrichtete, kam der Organist nebst drei andern Personen zurück, unter den letztern eine Frau und ein Mann, die das Gesicht unter dem Mantel versteckten. Dieser Mann war kein anderer als der leibhaftige Ragotin selber, welcher der Mademoiselle de l'Etoile ein Ständchen bringen wollte, und sich deshalb an einen Kastraten, der Organist einer Kirche war, gewendet hatte. Dieses Ungeheuer, das weder Mann noch Weib war, hatte den Diskant gesungen und die Orgel gespielt, die von seiner Magd getragen wurde; ein Chorschüler hatte den Bass gesungen, und all dies um den Preis von zwei Groschen: so teuer war es schon damals im lieben Vaterland. Als der Wirt die Ständchenbringer erkannte, sagte er so laut, dass alle es an den Fenstern hören konnten: »Also Ihr, Herr Ragotin, seid es, der vor meiner Tür Kirche hält? Es wäre besser, Ihr legtet Euch schlafen und liesset meine Gäste auch ruhen.« Ragotin antwortete, er irre sich und hielte ihn für einen andern, aber dies auf eine Art, dass man ihn nur um so leichter erkannte. Der Organist war wie alle unbärtigen Tiere sehr zornig als er seine Orgel gefunden hatte und schrie Ragotin an, dass er sie ihm bezahlen müsse. Ragotin erwiderte, da lache er nur darüber. »Es gibt hier nichts zu lachen, ich will bezahlt sein!« erwiderte der andere. Der Wirt und seine Leute traten auf seine Seite; Ragotin sagte ihnen, was sie noch nicht wussten, dass das bei einem Ständchen gar nicht gebräuchlich wäre und ging darauf stolz auf seine Galanterie seiner Wege. Die Orgel wurde nun wieder der Magd des Kastraten aufgeladen, die mit dem Tisch auf dem Rücken und der Chorschüler mit dem Gestell sehr verdriesslich wieder nach Hause gingen. Die Schenke wurde wieder verschlossen. Destin wünschte den Komödianten gute Nacht, und versprach das Ende seiner Geschichte auf die nächste Gelegenheit.
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