Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Auf den Feldern draußen wurde es noch stiller. Viele Hasen scheuten sich nun, diese große, weiße Fläche zu betreten. Dort war in vereinzelter roter Sprenkelschrift das furchtbare Ereignis tagelang verzeichnet. So ungeheuer weit die beschneite Flur sich auch dehnte, das hingeschüttete und verspritzte Blut hob sich scharf vom hellweißen Grund ab, warnte, erinnerte und gab eine stechende Witterung in die kalte Luft. Die Bestürzung jenes Tages, das Entsetzen, das er gebracht hatte, war einer dumpfen Trauer gewichen. Niemand von den Hasen sprach eine Silbe über die erlebten Schrecken, niemand erwähnte die Gefallenen mit einem Wort. Nur wenn sich jetzt zwei begegneten, selbst wenn sie einander sonst gar nicht oder nur ganz wenig gekannt hatten, begrüßten sie sich herzlich. Doch im lebhaften Spiel ihrer Löffel, im heftigen Beben ihrer Schnurrhaare lag unausgesprochen die Freude der Geretteten.

Dann fiel wieder Schnee, verwischte die blutige Spur auf der weißen Tafel, deckte das Geschehene für immer zu. Der Hasenschaft bemächtigte sich das dunkle Empfinden, Er werde sie von nun an in Ruhe lassen. Zudem wuchsen ihre Nahrungssorgen ins Katastrophale, trieben sie, trotz allem, wieder ins freie Feld, vom Feld in den Wald zurück. Es war unglaublich, was die Hasen um diese Zeit alles essen konnten, um nicht zu verhungern. Sie nagten Holz, sie kauten dürre Blätter, sie nahmen welke, verfrorene Grasbüschel zu sich, und das waren für sie besondere Leckerbissen.

Der Winter rückte vor. Es wurde grimmig kalt, und die Hasen mußten sich an das bißchen eigene Wärme halten, das ihnen geblieben war, und das von Nacht zu Nacht mehr hinschwand.

Hops und Plana hatten im Walde ein kleines Plätzchen gefunden. Da war der Boden vom Wind schneefrei gefegt; da gab es Wurzeln, gab es dürre Ästchen, Reste von allerlei, von Lattich und Erdbeerblättern. Alles, was einst blühend gewesen, voll Duft und Saft und Wohlgeschmack, war nun frosthart, wässerig und giftigbitter. Hops wurde von Übelkeiten angefallen, die er männlich niederkämpfte.

»Wenig essen!« sagte er. »Gerade nur so viel, als unbedingt nötig ist. Wenig essen!«

Plana zeigte sich heiterer denn je. Freilich, es war keine durchaus echte, sondern oft eine gespielte Heiterkeit, aber sie half ihnen beiden doch über das Schlimmste weg.

»Laufen wir!« schlug sie vor. »Laufen wir, Hops, das wärmt!«

So liefen sie, in kleinen Kreisen, sprangen hintereinander her, wie einst in Kinderzeiten.

»Fang mich, Hops!« rief sie und sauste davon.

Hops ihr nach.

»Ich hab' dich!« drohte er scherzend, »gleich hab' ich dich!«

Aber es war doch nicht wie einst, und das vormals so sausende Laufen blieb matt. Auch saßen sie bald wieder, denn sie fühlten sich müde, der Atem wurde ihnen zu kurz. Sie keuchten, während sie still nebeneinander hockten, und ihre Flanken hämmerten.

»Harte Zeiten«, klagte Hops bekümmert.

»Ach was!« fuhr Plana ihn an. »Sie vergehen, die harten Zeiten, sie werden bald vergehen . . . also ist es nichts!«

»Nichts?« zweifelte Hops. »Und wenn wir früher vergehen?«

Plana schnellte die Löffel hoch. »Wir . . . und vergehen? So spricht mein Hops? Mein kluger, mein gefaßter, mein entschlossener Hops?«

»Nein«, widersprach er, »ich bin nicht mehr klug und nicht mehr gefaßt.«

Plana hoppelte dicht zu ihm heran. Ihre Schnurrhaare bewegten sich zärtlich, die Löffel lagen ihr flach am Rücken: »Was ist dir? Bist du krank?«

Hops zuckte ein wenig unter dem Stoß, den ihm diese Frage gab. Er blickte Plana an. Sie war bildhübsch, aber sie sah abgemagert und schlecht aus. Rührend war sie und verhärmt. Doch ihre mädchenhafte Anmut wirkte um so ergreifender.

»Ich?« stammelte er, »ich . . . bin gesund . . . aber mich quält die Angst um dich . . .«

Plana fuhr hoch. »Um mich brauchst du keine Angst zu haben! Nicht einmal denken darfst du so etwas! Komm! Komm doch!«

Sie entsprang, Hops setzte ihr nach, und sie überkugelten sich, daß eine Wolke weißen Staubes sie einhüllte.

»Genug«, bat Hops atemlos.

»Nein«, antwortete Plana, »noch lange nicht. Du wirst mir zu faul!«

Sie tanzte und nahm sich aus, als wäre sie vollständig frisch. »Fang mi. . .!« Da versank sie kopfüber in einem Hügel aus lockerem Schnee. Plötzlich war sie nicht mehr da.

Hops stand erschrocken in den Hinterbeinen, staunte mit hochgeworfenen Löffeln.

Plana strampelte. Der Schnee stäubte spritzend um sie her. Langsam kam sie wieder zum Vorschein, schnappte nach Luft und wollte reden. »Das ist lustig . . .« brachte sie noch hervor. Dann lag sie, lang ausgestreckt, ganz still und atmete schwer. Sie war völlig erschöpft.

Hops saß bei ihr und murmelte: »Siehst du . . . Siehst du . . .«

Fast tonlos tröstete sie ihn: »Oh, es wird wieder gut! Alles wird . . . wieder gut!«

Unterdessen wurde es jedoch nur schlimmer.

Die Kälte verschärfte sich immer mehr. Ganz dünn und gläsern klar schien die Luft. Wie sprödes Glas sprangen Zweige, die sonst biegsam und elastisch waren, bei der leisesten Berührung entzwei.

Die Rehe versanken bis an den Rumpf im Schnee, konnten sich nicht mehr durch den Schwung des Springens darüber erheben, und man hörte sie da und dort im Walde klagen.

Mühsam arbeiteten sich selbst die Hirsche vorwärts und schälten überall die Rinde von den Bäumen.

Nächte gab es, in denen der Wald unter der eisigen Umklammerung des Winters erstarrt und gestorben schien.

Den Vögeln wurde dann das Fliegen schwer, wenn sie des Morgens erwachten. Ihre Schwingen waren überfroren und trugen sie nicht, ihre Gelenke waren steif.

Ganz hart wurde der Schnee, hatte zuoberst eine Eisdecke, und wenn ein Reh darüber ging oder sprang, zerbrach diese eisige Decke. Dann schnitten ihre Scherben die zarten Gelenke wund. Viele Rehe gab es, die mit blutigen Beinen umherhinkten. Die Kälte brannte wie Feuer in ihrem aufgerissenen Fleisch, auf der bloßgelegten Knochenhaut.

Der Wind tobte still, ohne Sturm, ohne wechselnde Laune. Ingrimmig, hartnäckig, grausam und vernichtend war dieses stille Toben.

Die Wildgänse zogen fort, nach südlicher gelegenen, milderen Himmelsstrichen. Die Wildenten folgten ihnen und alle die arktischen Vogelarten, die dem Polarwinter hatten entkommen wollen, und die nun hier von ihm eingeholt wurden. Metertief waren die Flußläufe zugefroren, die Teiche und Weiher hatten Grundeis, so daß alles Lebendige darinnen jämmerlich erstarb.

Der Frost begann in der Luft zu singen. Es war ein andauerndes Heulen, wie ein Klagelied, wie ein Totengesang. Des Nachts bellten die Füchse dazu und jaulten vor Hunger, mehr noch vor Kälte.

Eine Zeit kam jedoch, da die Füchse fast ungefährlich wurden. Niemand fürchtete sie jetzt. Denn sie hatten auf einmal Nahrung genug. Überall im Walde lagen steif und tot erfrorene Hasen, erfrorene Rehe; selbst ein junger Hirsch war eines Morgens ausgestreckt auf dem weißen Bett zu finden. Schwärme von Krähen, flatternde Elstern, die Streit anfingen, zeigten jedesmal solch einen Vorfall an.

»Für dieses Pack ist immer gesorgt«, sagte Hops und schnatterte vor Kälte. »Die haben von allem den Nutzen.«

»Was willst du«, erwiderte Plana, »sie sind die Starken, sie haben keine Scheu vor unserem Blut.«

Hops seufzte. »Unsereiner muß ihnen jetzt noch helfen, muß sein Leben drangeben, damit diese Meute den Winter übersteht. Und nachher morden sie uns um so gewisser.« Er schwieg.

Plana schüttelte ihr hübsches Haupt. »Wir sind arm . . .«

Hops meinte: »Es ist nicht gerecht, es ist nicht gut eingerichtet in der Welt . . . man kann erbittert werden . . .«

»Erbittert? Warum?« Plana staunte. »Denk daran, wie herrlich schön es in der Welt ist. Erinnere dich.«

Hops richtete sich auf. Er hörte nicht, was Plana sagte. Hoch und steif saß er da. »Müssen wir das wirklich dulden? Wenn wir zusammenhalten würden, wir Hasen, alle Rehe, alle, die unterdrückt und verfolgt sind, wenn wir zusammenhalten würden . . .«

Es war Nacht, und die Kälte biß an ihren Lungen, an ihren Knochen, fing ihren Atem weg und stach in ihre Kehle.

Plana wurde es unheimlich zumute.

»Komm«, rief sie und machte einen Sprung, »komm, laufen wir wieder ein bißchen.«

Hops weigerte sich: »Ich will nicht laufen, ich will hier sitzenbleiben . . .«

Plana unterbrach ihn: »Doch! Du mußt! Das wärmt . . .«

Sie lief. Sie merkte anfangs kaum, daß Hops ihr nicht folgte. Sie lief geradeaus, bis der Wald hinter ihr zurückblieb und sie auf das freie Feld kam. Da gewahrte sie, daß sie allein war. Aber sie lief weiter.

Sie fühlte sich schwach, fühlte sich sonderbar matt, und sie empfand eine große Sehnsucht danach, sich einfach hinzulegen und zu schlafen. Eben deshalb lief sie weiter. In einer merkwürdigen Benommenheit, auf deren unterstem Grunde Verzweiflung lauerte. Irgendeine äußere Gefahr drohte. Plana spürte das dumpf; sie wußte nur nicht, welche.

Sie wußte auch nicht, daß sie immer langsamer lief. Ihr schien es im Gegenteil, sie wäre so schnell wie noch nie, denn sie bot alle ihre Kräfte auf und strengte sich ungeheuer an.

Nun hatte sie auch die Äcker hinter sich. Sie gelangte in eine fremde Welt.

Da stand im umzäunten Garten ein kleines Haus. Da brannte hinter verhängten Fenstern eine Lampe und warf milden Schimmer ins Dunkel.

Plana hatte dergleichen nie gesehen.

Sie war mit dem leisen Wind gerannt und bekam deshalb keine Witterung, als sie innehielt, in die Hinterbeine stieg und schnupperte. Nur die schneidend eisige Luft zerriß ihr Nase und Gaumen. Es schmerzte. Alles schmerzte. Beine, Brust, Bauch, Hals. Alles bebte an ihr und schmachtete nach ein wenig Wärme, nach ein wenig Ruhe.

Plana taumelte vorwärts.

Sie begriff plötzlich: Da war Er!

Aber sie erschrak nicht. Sie fühlte ihre Not undeutlich wie einen Schutz. Undeutlich und nebelhaft fühlte sie, es sei jetzt ihr Recht, sogar zu Ihm zu kommen. Denken konnte sie nicht, und ihr war nun alles gleichgültig.

Als sie durch den Zaun schlüpfte und mühselig weiterhoppelte, geriet sie an ein unbekanntes Gebilde. Die Hundehütte.

Plana machte halt. Auch jetzt erschrak sie nicht, als sie die giftigbittere Witterung des Hundes einsog. Diese Witterung drang aus dem fetzenverhangenen Loch der Hütte und war warm.

Plana überlegte nicht; sie befand sich in einem Zustand, der alle ihre sonstigen Triebe, alle ihre sonstigen Bedenken und Ängste gelähmt hatte.

Wärme! Wärme! Das war alles, was sie suchte. Und hier strömte Wärme.

Plana stieß die Nase gegen den Fetzen, der vor dem Loch hing. Er gab nach, und sie kroch hinein. Wäre sie in ihrer verfrorenen Erschöpfung fähig gewesen, irgend etwas zu denken, sie hätte gemeint, das sei die glücklichste Stunde ihres Lebens. Sie konnte aber zuerst auch nicht sprechen. Lautlos sank sie im seidigweichen, wohldurchwärmten Stroh nieder, atmete wunderbar erquickt die lauwarme Luft, die den engen Raum dunstig erfüllte, und schmiegte sich an den gesunden, heißen Leib des Hundes, der bei ihrem Kommen erwachte.

»Hu! Wie bist du kalt«, flüsterte der Hund, indessen er sofort begann, Plana mit seiner breiten, heißen Zunge zu waschen.

Plana lag, ohne sich zu rühren. Der Geruch des Hundes, der ihr sonst immer wie allen Hasen bedrohlich und widerwärtig war, störte sie jetzt nicht im geringsten. Die Erwägung, sie könnte totgebissen werden, tauchte gewohnheitsmäßig, aber nur undeutlich in ihr auf und hatte seltsamerweise keine Schrecken. Plana lag da, genoß das Streicheln dieser großen, heißen Zunge an ihrem Rücken, an ihren Flanken, an ihrem Gesicht und an ihren Löffeln. Es war herrlich, es war genau das, was sie nötig hatte.

»Du armes Ding«, flüsterte der Hund, »du armes kleines Ding . . . ist dir noch kalt?« Dabei fuhr er ohne Unterlaß fort, sie zu waschen.

Plana war ganz feucht, das Fellhaar klebte ihr überall in dicken Strähnen am Leib. Ihr ganzer Körper fing zu dampfen an. Sie streckte sich voll auf strömendem Behagen, eng an die Brust des Hundes gedrückt.

»Ja, ja«, sagte der Hund und fuhr ihr mit der Zunge über die Augen, »ja, du, du hast Vertrauen zu mir . . . von allen da draußen im Walde hast du Vertrauen zu mir . . .«

Plana war in einem angenehmen Dämmerzustand; sie hörte kaum, was der Hund sagte.

»Ich nehm' dich freundlicher auf«, sprach er, »freundlicher, als ihr draußen im Walde mich alten Jago empfangen habt.«

Der Name schlug ihr bekannt ans Ohr. »Jago?« fragte sie leise. »Jago?«

»Natürlich«, antwortete der Hund, »natürlich bin ich Jago.«

Plana wollte bekennen: »Das hab' ich nicht gewußt . . .« Aber sie schlief plötzlich ein.

Der Hund achtete nicht darauf und erzählte ihr seine Geschichte. Die Verachtung, mit der man im Walde seine Versöhnungsversuche zurückgewiesen hatte, trieb ihn wieder heimwärts. Dazu der Hunger, die Kälte und die verwöhnte, der Freiheit entfremdete Lebensweise. Das Kesseltreiben hatte ihn überrascht. Er war mit den Hasen und Rebhühnern eingeschlossen, ohne es zu ahnen. In welch einer Verwirrung befand er sich! In welch einem schrecklichen Zwiespalt! Liebe, Sehnsucht rissen ihn zu seinem Herrn; Angst, Eifersucht und Kränkung hielten ihn ab, sich dem Herrn zu nähern. Er rannte ziellos in dem weiten Kessel umher, bereute sein ganzes Leben und war verzweifelt.

Endlich rief ihn sein Herr. Endlich! Glücklich und voll Angst eilte er zu Ihm.

Oh, was für Prügel bekam er, was für mörderische Prügel!

Aber das dauerte kürzer als sonst. Der Herr konnte sich nicht lange mit Jago aufhalten. Und was das seltsamste war, die Prügel, das Wiedervereintsein mit Ihm, die Entscheidung, alles zusammen hatte Jago gestärkt. Er fühlte sich mit einemmal kräftig, ernst und tapfer. Da hielt er denn sogleich Abrechnung mit seinem Feinde Treff. Gegen den Schluß der Jagd, weit weg vom Herrn, als Treff außerhalb des Kessels am Waldrand auf der Spur eines angeschossenen Hasen war, fiel Jago über Treff her.

Jago hatte sich auf alle alten Rauferkniffe besonnen, und er warf Treff so ungestüm und so überraschend in den Schnee, daß Treff hilflos auf dem Rücken lag. Kochend vor langverhaltener Wut, drückte Jago ihn nieder, hielt ihn an der Kehle und zischte ihm zu: »Ich töte dich, du Halunke, wenn du mich künftig nicht in Ruhe läßt!« Und Treff hatte ihm, kläglich winselnd, alles versprochen.

Plana erwachte, als Jago eben mit seiner Erzählung zu Ende war. Sie hörte gerade noch, wie er sagte: »Nun, siehst du, Kleines, und jetzt hab' ich wenigstens meinen Frieden . . .«

Aber Plana, die sich wohlig streckte, hatte Hunger, bohrenden, knurrenden Hunger.

»Komm mit hinaus«, riet ihr Jago, »da steht meine Schüssel noch halb voll . . . vielleicht findest du etwas . . .«

Die beiden krochen aus der Hütte. Es war noch finster, und die Kälte griff beide nun doppelt scharf an. Jedoch in Jagos Napf waren viele gekochte Kartoffeln, denn er hatte nur das Fleisch aus seinem Futter genommen.

Plana kostete. Es schmeckte fremd, aber es schmeckte. Es hatte eine Witterung, die unangenehm war, aber Planas Hunger überwand das. Sie aß mit Gier. Sie sättigte sich, wie sie sich seit langem nicht hatte sättigen können.

Der Hund stand dabei und wedelte.

Dann schlüpften beide wieder in die Hütte zurück.

»Danke«, sagte Plana, »danke. Das war großartig.«

Sie warf sich in die Streu zurück. Jago legte sich zu ihr, nun schliefen sie beide, dicht beisammen, bis zum hellen Tage.

Da trat Er an die Hundehütte.

»Jago«, rief Er. »Jago!«

Aber Jago spitzte nur die Ohren und stand nicht auf.

Plana war erwacht und zitterte, als Seine Witterung zu ihr drang.

»Sei nur ruhig«, sprach Jago ihr zu, »hab keine Angst . . . ich schütze dich.«

Vor der Hütte sagte Er: »Ich muß doch nachsehen, was mit dem Hund geschehen ist!« Und Er hob den Fetzen, der den Einschlupf verdeckte. Sein bleiches Antlitz erschien in der Öffnung.

Aber Jago fuhr Ihm mit gefletschten Zähnen entgegen, so daß Er erschrocken zurückschreckte.

»Na . . . na . . .«, hörte man Ihn murmeln. Dann ging Er weg. An der Schwelle Seines Hauses erzählte Er: »Jago hat einen Hasen bei sich und bewacht ihn!« Und als hielte Er jemand ab, sich zu nähern, fügte Er hinzu: »Bleib, laß die zwei in Ruh'!«

Es war zum erstenmal, daß Jago Ihn angeknurrt und Ihm die Zähne gezeigt hatte.

Vielleicht ahnte der Zweibeinige etwas von dem versöhnenden Geheimnis der Not, die in ihrer tiefsten Kraft für kurze Stunden alle Feindseligkeiten zwischen den Geschöpfen tilgt.

Den ganzen Tag lag Plana in der warmen Hütte; den ganzen Tag wachte der Hund bei ihr und wusch sie immer wieder mit seiner heißen, liebreichen Zunge.

Aber als der Abend dämmerte, sprang Plana plötzlich ins Freie und saß aufrecht mit hochgestellten Löffeln. Sie fühlte sich köstlich frisch, und ihr schien, als wäre es auch draußen warm. Anfangs glaubte sie an eine Täuschung. Ein süßer Taumel umnebelte ihre Sinne. Immer wieder ließ die Löffel hängen, schnellte sie immer wieder hoch, und ihre Schnurrhaare spielten immer lebhafter und fröhlicher.

Wirklich! Ein lauwarmes Hauchen wehte durch die Luft, so lind und so zärtlich, daß Plana von Bangigkeit, Glück und Sehnsucht bedrängt wurde.

»Komm doch herein!« rief der Hund nach ihr.

Doch sie rannte schon über das Feld, dem Walde zu. Rannte auf weichgewordenem Schnee, hastig, ohne Rast, wie auf der Flucht. »Hops!« dachte sie, während sie lief. »Mein Hops!« Nur das. Sonst nichts.

Das war die letzte kalte Nacht des Winters gewesen.

Eine Gruppe Birken stand im Walde, mitten unter den andern Bäumen. Sie waren miteinander aufgewachsen, hatten um ihren Wurzelboden, um ihren Platz an Sonne und Luft gerungen; nun ragten sie hoch, und das zerkerbte Silber ihrer Rinde schimmerte weithin sichtbar zwischen den Stämmen der Eschen, Ulmen und Eichen. Ihre Äste waren jetzt kahl, wie alle andern Zweige hier im Laubwald. Doch von der Erde her, tief aus der nährenden Scholle, begannen Säfte zu steigen und zu schwellen, belebten trotz der Kälte das lebendige Fleisch des Holzes, und die Birken warteten mit den übrigen Bäumen, denen Gleiches geschah.

Nur eine unter ihnen fühlte sich matt und kleinmütig. Ihre Äste sahen merkwürdig schwarz aus, waren ganz dürr, und es war schon einige Male vorgekommen, daß Zweige unter einem darüber laufenden Eichhörnchen oder unter einem aufbaumenden Fasan zerbrachen.

»Bist du krank?« fragte ihre Schwester die Birke.

»Ich weiß nicht, was mit mir ist«, antwortete sie. Aber das Antworten kostete Mühe, und ihre Stimme klang verändert.

Dann schwieg sie, tagelang, nächtelang, war im Geflüster der Schwestern die Schweigsame und trauerte still in sich hinein.

Hie und da erkundigte sich eine der Birken: »Nun? Wie geht's dir?«

Sie gab seufzend Auskunft: »Immer gleich.«

Einmal sagte sie ganz von selbst: »Ich werde wohl nie wieder Blätter haben.« Und verhauchend: »Nie wieder . . .«

Die andern trösteten, beschwichtigten, ermutigten: »Warte, bis die Sonne kommt.«

»Ich warte«, sagte sie leise. Aber noch viel leiser flüsterte sie: »Die Sonne wird mir nicht mehr helfen . . . wenn ich sie überhaupt noch sehe . . .«

Der laue Lufthauch aber steigerte sich rasch, schwoll zum Sturm. Der Sturm wuchs und wurde Orkan. Er brauste vom Süden her ins Land, kam aus der afrikanischen Wüste, jagte über das besonnte Mittelmeer und schien gleich einem Wütenden erpicht, dem eisigen Unfug hier ein Ende zu bereiten. Er war ein Empörer, ein Aufrührer, ein Befreier. Sein Rasen erlöste den Wald aus der winterlichen Erstarrung, erlöste die Fluren und Felder von der Leichendecke, unter der sie schliefen. Sein glühender Rachen fraß den Schnee, seine brennenden Sohlen zertraten ihn, seine hitzigen Hände fegten alles Weiße und Kalte mit raschem Grimm und Griff hinweg. Sein Toben zerbrach in wenigen Stunden die eisigen Fesseln der Seen, der Ströme, Flüsse und Bäche, so daß sie mit Donnerkrachen barsten und daß es überall rauschte, brüllte, stürzte und schrie von wieder beweglich werdenden Gewässern.

Niemand hörte im Sausen des Orkans die schwache Stimme der erfrorenen Birke.

»Das halte ich nicht aus«, stöhnte sie, »das geht über meine Kräfte . . .«

Aber alle Bäume des Waldes ächzten, stöhnten, knarrten und krachten unter den furchtbaren Stößen des Orkan-Befreiers. Von vielen splitterten schwere Äste und flogen davon, als wären sie Flaumfedern. Die Gesunden leisteten Widerstand, indem sie sich, elastisch in ihrer Vollsaftigkeit, beugten und bogen, um augenblicklich wieder emporzuschnellen. Die Gesunden begriffen den Aufruhr, der nun gegen die Herrschaft des Winters im Gange war. Einige von den festen, alten Bäumen gab es und viele junge, daseinsgierige, die jauchzten dem Schreckenstreiben zu.

Niemand vernahm es, auch nicht die Schwestern, die ihr am nächsten standen, als die kranke Birke starb.

»Oh, wie allein bin ich!« rief sie mit letzter Kraft. »Bin ich wirklich so ganz allein . . .?«

Da zerknickte sie, dicht über dem Boden. »Leb wohl, meine Wurzel«, hauchte sie im Niederfallen, »leb wohl . . . und danke!«

Der Orkan schleuderte sie gegen eine Esche, riß die toten Zweige aus dem lebensvollen Geäst des gesunden Baumes und warf die silberleuchtende Tote völlig zur Erde. Da lag sie nun, und von ihrem Dasein blieb nichts übrig als ein kurzer, weißer, zersplitterter Stumpf, der langsam fahl und grau wurde. Später trieb die Wurzel dünne kleine Schößlinge mit hellen Blättern aus dem Stumpf, deren Anblick alle Bäume und Sträucher rührte.

 


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