Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Was war ein Abenteuer! Es riß den munteren Hops weg aus der Schar seiner Spielkameraden. Er lernte sich selbst und das große, gefährliche Leben einmal kennen.

Während etlicher Wochen hatten sie alle eine herrliche Zeit verbracht. Hie und da schien die Sache freilich nicht geheuer. So zwischendurch gab es den entfernten Hauch einer Gefahr. Doch sie kannten ja nun die Warnsignale von Tag zu Tag besser, mochten diese auch nicht gerade ihnen selber gelten.

Wenn ein Häher zeterte, wenn eine Elster zu schakern begann, horchten sie auf. Sie wußten natürlich schon, daß Häher und Elster jetzt zu den Feinden zählten; allein sie wußten zugleich und wußten es von Tag zu Tag genauer, daß Elster und Häher mit ihren Rufen das Herannahen stärkerer Feinde verrieten.

Das helle Murren der Eichhörnchen erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie begriffen das Wispern und Fegen von Grasmücken und Meisen, die durch das Astwerk der Büsche schlüpften. Und sie verstanden zu flüchten.

Nichts auf dieser Erde vollbrachten sie mit solcher Meisterschaft wie die Kunst, zu entwischen und sich unauffindbar zu verbergen.

Und nichts in der Welt war ihnen so notwendig.

Der Trieb, sich irgendeinem lebenden Geschöpf zu widersetzen, sich zu verteidigen oder gegen einen noch so geringen Widersacher gar zu kämpfen, regte sich niemals in ihren kleinen Hasenherzen.

Ihre Verteidigung bestand in Wachsamkeit, ihr Widerstand war das schnell erregte Angstgefühl, das sie durchzuckte, und die Flucht, diese kunstvolle, listenreiche, im Augenblick ergriffene Flucht, war ihre Art, zu kämpfen.

Nun kam dieses Abenteuer, das Hops dahinfegte.

Er saß auf einer engen Blöße an der Salzlecke, die er und die andern gerne aufsuchten.

Dickicht, das schier undurchdringlich, doch nicht sehr geräumig war, trennte diesen Platz von der Wiese.

Beinahe alle erquickten sich zu dieser frühen Morgenstunde an der Lecke.

Indessen die andern, Rino und Olva, Murk und Lugea, Trumer, Plana, Klipps und wie sie alle hießen, am nackten, ockerfarbigen Lehmboden hockten und mit dem Tau der Frühe das köstlich erfrischende Salz schlürften, saß Hops mitten auf dem Trog, der, in die Erde gerammt, den puren Salzstein enthielt, den der helle Lehm eng umschloß.

Hops saß ganz am Stein und gab sich schrankenlosem Genießen hin.

Die andern unternahmen manchmal ein kurzes Haschenspiel, saßen dann wieder still und schleckten. Einige hoppelten ins Gras, das gerade hier noch einmal so üppig aufgeschossen war und besonders würzig schmeckte.

Nur Hops saß mitten auf dem Trog.

Ein munterer Bursche war dieser Hops jetzt geworden, und soweit seine Möglichkeiten reichten, dreist, dazu gierig; er liebte es, aus der Fülle zu schlemmen. Er konnte in Schwelgerei gerade versinken und sogar das oberste Daseinsgebot der Hasen, die ängstliche Vorsicht, gelegentlich für Augenblicke außer acht lassen.

Das geschah ihm auch jetzt.

Plötzlich merkte er, daß alle seine Kameraden auseinanderstoben und gleich darauf verschwunden waren.

Ihm fuhr's durch den Sinn, daß er die Alarmsignale von Häher und Eichhörnchen überhört hatte. Jetzt, da sie schon verstummt waren, nahm er sie nachträglich wahr und erstarrte darüber vor Entsetzen. Über ihm, auf der alten Buche, ganz niedrig, lief das Eichhörnchen den starken Ast entlang, saß an dessen äußerster Spitze, die leise wippte, hielt beide Vorderpfoten beschwörend vor die weiß schimmernde Brust und rief zu ihm hinunter: »Großmächtiger Baum! Du bist noch immer da!«

Sofort wandte es sich und sauste im dichten Laub des Wipfels hoch hinauf, daß man seine geschwenkte Fahne nur wie einen dünnen roten Strich durch die Blätter fegen sah.

Hops blieb regungslos.

Sein Herz begann wild zu klopfen.

Er zog den Wind so heftig ein, daß seine Schnurrhaare sich rasch bewegten. Nichts! Der Wind trieb ihm keine Witterung zu.

Hops stellte die Löffel hoch.

Da vernahm er gegenüber, im Hochholz, dem der leichte Wind zustrich, ganz leises Knacken im gebrochenen zarten Unterwuchs, vernahm ganz leises Tappen und Treten von Schritten. Zweibeinig.

Was war denn los?

Hops richtete sich in den Hinterbeinen auf. Kerzengerade saß er da, die Löffel hochgestellt, die Schnurrhaare, die schmucken, zitternd in Bewegung, die runden, klaren Augen so angstvoll erweitert, daß man das Weiße erblicken konnte.

Und jetzt erschaute er zwischen den Stämmen im Hochholz das riesenhafte, geheimnisvolle Wesen, das auf zwei Beinen aufrecht ging, das von jeglicher Kreatur im Wald mehr als alles andere gefürchtet wurde, und das nun herankam. Ganz nahe war dieses Wesen schon, schlich vorsichtig, tückisch und furchtbar bedrohlich näher und näher.

Hops blieb, vom Schrecken gebannt, wie angewurzelt sitzen.

Auch die kleinen Hasen hatten erfahren, daß dieses grauenhaft seltsame Wesen ihr Herr sei, wie es der Herr über jegliches Geschöpf des Waldes war. Sie wußten, daß es mit entsetzlichem Donnerschlag von ferne Vernichtung schleuderte. Und als neulich der Rehbock Gobo auf der Wiese draußen von diesem Donner getroffen wurde, saß Plana ganz nahe am Rande in der Dickung.

Gobo war über sie hinweggesprungen; da spritzte der rote Schweiß, der aus Gobos zerrissener Lunge troff, auf Plana, so daß sie an den Löffeln und Flanken ganz naß vom Blut war.

Blitzartig durchzuckte die Erinnerung an diesen Vorfall jetzt die Angst, die Hops erstarren ließ; seine Gelähmtheit löste sich, und mit einem hohen Satz sprang er vom Trog, stürzte sich ins Gras, das ihn taufeucht umzischte, während er dem Dickicht zustrebte. Als er es erreichte, atmete er tief und empfand den wohligen Schutz des Pflanzenwuchses, der ihn barg.

Noch einmal setzte er sich in die Hinterbeine, hob den Leib mit hochgestellten Löffeln und spähte zu der gräßlichen Gestalt hinüber, die jenseits der Blöße im Hochholz stand und lauerte.

Hops fühlte sich wohl im Augenblick zur Not geborgen, aber doch nicht ganz sicher. Die Nachbarschaft des Unheimlichen flößte ihm Bangen ein; die Furcht, die in seinen Pulsen hämmerte, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er wandte sich ab und begann die Dickung in beschleunigtem Tempo zu durcheilen.

Nur fort von hier. Weit fort!

Da raschelte es neben ihm. Etwas tat einen Sprung und schnappte nach ihm. Hops hörte deutlich das beinerne Zusammenklappen eines mörderischen Gebisses.

Feindselige Witterung schüttete über ihn her, giftig, scharf, stinkig, betäubend. – Ein Fuchs!

Der war hier gelegen, und sein Ansprung hatte im dichten Buschwerk Hops um Haaresbreite verfehlt.

Instinktmäßig vollführte Hops einen Haken, in der Richtung der Gefahr, doch an ihr vorbei.

Das zwang den Fuchs zu einer ganzen Wendung, doch inzwischen hatte Hops schon etwas Raum gewonnen.

Er raste davon.

Hinaus aus dem gefährlichen Dickicht, dessen Gestrüpp ihn etwa aufhalten oder hindern könnte. Hinaus auf die Wiese, wo die Bahn frei war.

Als er die grüne Weite erreicht hatte, durchdrang ihn das Gefühl, Kraft zur Flucht zu haben, mit einer Freude, in die sich seine Angst seltsam und aufwühlend mengte.

Hops lief geradeaus. In einer genauen Folge elastischer Sprünge. Er war schön in diesem Rennen, anmutig in seiner Jugend, in seiner unbedingten Entschlossenheit zu entwischen, in allen Bewegungen, darin die leicht und frisch verrichtete Arbeit des Laufens sichtbar wurde.

Ein paar Hasen hockten auf der Wiese, zwei Rehe standen da.

Hops nahm sie nur wie Nebelbilder wahr, und gleich Nebelbildern war es ihm, wie alles auseinanderstob.

Er rannte.

Der Fuchs war dicht hinter ihm her. Ganz eingenommen von der Beute, die er schon im Fang geglaubt hatte, die ihm nicht mehr verlierbar schien, verfolgte er Hops.

Jetzt . . . jetzt . . . würde er ihn fassen! Jetzt . . . jetzt . . . wird er die Wonne genießen, den warmen Balg zwischen den Zähnen zu spüren, dem zappelnden Ding das Genick zu zermalmen, während der klägliche Todesschrei wie Festgesang ihm in die Ohren tönt.

Nah vor sich sah er die runde weiße Blume von Hops auf und nieder wiegen, sah diese ersehnte, helle, üppige kleine Kugel lockend vor sich her tanzen, das im Rennen geschwenkte Hasenpanier von Hops, das er um alles niederwerfen und erobern wollte.

Aber da schlug Hops einen Haken.

So plötzlich tat er das, so überraschend, daß der Fuchs in voller Fahrt noch eine Strecke geradeaus ins Leere schoß.

Ein kurzer, jaffender Laut der Ungeduld entrang sich ihm.

Er wechselte die Richtung, sah die weiße Kugel gewichtlos durch das Gras auf und nieder schwingen. Nur etwas weiter entfernt. Er nahm die Diagonale des Bogens und lief, was er konnte.

Hops hatte den Jafflaut des Fuchses vernommen, er hörte das Gras hinter sich rauschen, hörte im Rücken den Verfolger wieder näher kommen. Er fühlte sich gehetzt und schlug einen neuen Haken.

Nun sauste er dahin, quer über die Wiese, sehnte sich danach, gegenüber in den knappen Waldstreifen zu gelangen. Dann hindurch, um den weiten Kahlschlag zu erreichen. Dort würde er den Fuchs zum Narren halten. Und wenn das nicht glückte . . . Er dachte nichts mehr sonst.

Jetzt bot er einen guten Anblick, wie er so den feuchten Rasen durchschnitt und in den von seinem Laufen gebeugten Gräsern einen Strich hinterließ, der genau so schmal war wie sein schmaler, junger Körper.

Seine Vorderpfoten waren gerade und parallel gestreckt. Sein Kopf schien sich zwischen diese Pfoten zu schmiegen. Die Löffel lagen dicht an den Leib gepreßt und deckten fast den halben Rücken. Nur die langen Hinterbeine, die unsichtbar blieben, schnellten ihn vorwärts. Die Vorderpfoten schienen den Boden kaum zu streifen.

Alles an diesem vollendeten kleinen Geschöpf sprach jetzt: Eile, Eile, Eile! Sprach jetzt: Flucht, Flucht, Flucht! Und sprach das in höchster Vollkommenheit.

Hops wurde reifer bei diesem tollen Laufen, wurde von Sekunde zu Sekunde mehr und mehr erwachsen. Die treibende Furcht, die ihn beherrschte, milderte sich, je rascher er dahinfegte. Und unbewußt tauchte in ihm die Empfindung auf, daß er nun seine Bestimmung erfüllte.

Er rannte um sein Leben.

Der knappe Waldstreifen war glücklich passiert. Vor Hops lag der weite Kahlschlag, den nur ein paar vereinzelte Birken, Eschen und Buchen überragten.

Hops rannte. Jetzt aber begann ihm das Blut im Kopf und in den Ohren zu sausen. Das Herz und die Halsadern hämmerten betäubend laut. Der Atem fing an schwer zu ziehen und schmerzte brennend am Gaumen, in der Kehle, die allmählich trocken wurde, zerriß ihm die keuchende Lunge. Und die Muskeln seiner Beine wurden immer lahmer.

Sehnsucht, sich hinzulegen und zu schlafen, beschlich ihn. Ein Schuldgefühl bemächtigte sich seiner, weil er davonlief, weil er zu entwischen strebte. Schuldgefühl, überhaupt auf der Welt zu sein.

Allein die Furcht brach übermächtig in ihm aus; er wurde ganz berauscht von ihr, und sie trug ihn vorwärts.

Jetzt war es einzig die Furcht in ihm, die noch rannte.

Er schlug Haken auf Haken. Er fiel in dicht überwachsene, lange Gräben, lag halbe Sekunden still, rappelte sich auf, sauste in der Richtung, die er gekommen war, zurück und erschien an Stellen wieder, wo der Fuchs ihn nicht vermutet hatte.

Sein weißes Hasenpanier schwenkte nun weniger blitzartig über die niedrigen Hartriegelstauden.

Mit einemmal blies ihm der Wind, gegen den er anlief, eine grausige Witterung an die ausgedörrte Nase. Das war Er, der aufrecht Schreitende, Er, der vernichtende Herr des Waldes.

Hops ließ jede Hoffnung schwinden. Verzweifelt machte er kehrt. Ihm war kein rechter Haken mehr gelungen. Nur ein schmächtiger Bogen, der ihn dem Fuchs gerade entgegenführte. – Da krachte der Donner.

Hops stürzte, vom Schrecken hingestreckt, nieder und sah, zusammensinkend, wie der Fuchs dort drüben sich überschlug. – Dann war Stille.

Am Boden liegend, mit atemlos fliegenden Flanken, behorchte Hops sich selbst. Er war fertig, hatte keine Spur Kraft noch Entschlossenheit zur Flucht. Still lag er da, in Angst und bebender Erwartung des Allerletzten. Aber der Donner hatte ihn nicht getroffen, hatte ihm gar nicht gegolten.

Die grausige Witterung des unbegreiflich Mächtigen wurde nun schärfer, aufreizender fühlbar, immer stärker und stärker.

Hops blieb liegen, hob nur sein todmüdes, gramgezeichnetes Gesicht, und die schönen weißen Schnurrhaare, die seine Oberlippe umbarteten, gerieten in ein lebhaft zitterndes Vibrieren, während er die bittere Botschaft dieser Witterung mit schnuppernder Nase einsog.

Aber er regte sich nicht. Er war am Ende und vollständig ergeben. Das Ausruhen, das langsam wieder Atemschöpfen, das Stillerwerden der Pulse, das Sanfterwerden des Herzpochens erfüllten ihn mit einem Entzücken, das er noch nicht kannte. Der Krampf seiner Muskeln begann nachzulassen. Die Beine, die hölzern gewesen und schmerzhaft, wurden nun heiß und wie von einem seltsam wonnig brausenden Summen durchströmt. Hops gebot über seinen erschöpften Körper noch nicht. Er hatte ihn bis zum äußersten angestrengt, ihn über die Kraft gebraucht. Jetzt hielt dieser ermüdete Leib Hops in seinem Bann. Ein angenehmer Dämmerzustand hüllte ihn ein und verwirrte seinen Willen. Eine süße Trunkenheit umnebelte seine Sinne.

Hops fühlte die gräßliche Witterung näher und näher. Er vernahm die Schritte des Zweibeinigen. Und als der Entsetzliche ganz dicht an ihm vorbeiging, blieb Hops reglos liegen.

Ohne Erstaunen sahen seine nebelverhangenen Augen, wie Er sich niederbeugte, den Fuchs, der sich nicht mehr bewegte, am Kragen emporhob und ihn davontrug.

Dann versank Hops in einen Schlaf, der ein wenig tiefer war als sonst.

 


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