Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Am Fenster der Stube, in der Epi seine Gefangenschaft vertrauerte, hing ein kleiner Vogelkäfig. In diesem Vogelkäfig war ein Zeisig, den man im Walde draußen gefangen hatte.

Epi lag still auf dem nackten, nur spärlich mit Stroh bestreuten Bretterboden seiner schmalen Kiste; er hatte immer ein paar welke Kohlblätter vor sich.

Der Zeisig sprang in seinem engen Gefängnis ruhelos hin und her. Von Sprosse zu Sprosse. Es waren nur zwei. Doch von einer zur andern hüpfte der Zeisig den ganzen lieben Tag. Ruhelos.

Die Menschen im Hause freuten sich dann und sagten: »Der ist munter!«

Allein der Zeisig war keineswegs munter. Er war verzweifelt und halb irrsinnig vor Verlangen nach der Freiheit, vor Sehnsucht nach den Seinigen.

Was geschehen, wie er hierher geraten war, wollte und wollte ihm nicht in den Sinn. Immer noch durchzitterte ihn der tödliche Schrecken, der ihn gelähmt hatte, als die furchtbare Hand ihn ergriff, ihn umschloß und ihn erst hier in diesem festen, durchsichtigen Kerker wieder entließ.

Da war er zu Anfang ungebärdig gegen die Drahtstäbe geflattert, hatte sich weh getan, hatte an ihnen seine kleinen Schwingen zerzaust und manche Feder zerbrochen. Nach und nach wurde er müder, wurde matter, ließ das fortwährende Flattern sein. Doch beruhigen konnte er sich nicht. Sein kleines Herz tobte nach der Freiheit, frühmorgens, beim Erwachen, es träumte vom freien Dasein, abends, wenn der Zeisig den Kopf unter die Flügel barg, um zu schlafen. Diese Schwingen, sie waren ihm nun zu nichts mehr nütze. Sie trugen ihn nicht mehr wie einst. Wenn ihm einfiel, wie er sich durch die Luft geschleudert hatte, im Geruch der Bäume, im Duft der Sonne, im Hauch des Schattens, wenn er daran dachte, glaubte er zu vergehen vor Jammer. Dann begann in der qualvollen Enge des Kerkers das qualvolle Springen und Hüpfen, von einer Sprosse zur andern, ohne Unterlaß, von einer Sprosse zur andern. Zwischendurch kam hie und da ein kurzes Flattern. Nur selten noch und nur, wenn er infolge einer Täuschung meinte, der Kerker habe sich geöffnet. Denn ein einziges Hoffen wich niemals aus seiner Brust: einmal werde dieses Gefängnis ein Loch haben, werde einmal einen Ausschlupf zeigen. Beständig wartete der kleine Vogel auf diese Möglichkeit zu entwischen. Zuversichtlich wartete er. Das hielt ihn aufrecht. Doch wenn das Heimweh nach dem Walde ihn zu ersticken drohte, begann er zu singen.

Epi hatte ein trauriges, einsames Dasein gelebt, ehe der Zeisig dort am Fenster sein Genosse wurde. Er war ganz stumpf und dumpf geworden. Epi hatte tagelang, nächtelang vor sich hin gedöst und verlor seine flinke Beweglichkeit.

Während der ersten Zeit, inmitten der Schrecknisse, die ihn umgaben, dachte er immerzu an Hops und Plana. Was die beiden jetzt wohl machten, wie es ihnen ergehen mochte, da draußen im Walde.

Viele Stunden schwanden ihm hin, während er den Fehler überlegte und wieder überlegte, den er begangen, und durch den er in diese unglückselige Lage geraten war.

»Ich hätte nicht so lange zaudern sollen«, sann er, »aber Hops und Plana blieben ja auch noch in ihren Betten . . .«

Nein, das verwarf er. »Hops und Plana sind im richtigen Augenblick auf und davon . . .« Er grübelte: »Auf und davon hätt' ich müssen . . . Hops hat es ja immer gepredigt . . . für unsereins gibt's nur auf und davon! Das nächste Mal kriegen sie mich nicht . . . mich nicht! Das nächste Mal . . .« Dabei stockte er.

Dann wieder verlor er sich in Träume. Wie er entspringen wird! Hinaus in die Felder! Oh, er wird schon zurückfinden in den Wald! Er wird sicherlich zurückfinden. Er wird dem Duft des Waldes nachrennen. Manchmal fegte ja der Wind einen Atemzug des Waldes hier herein in die Stube. Manchmal kam es durchs Fenster geweht, wie Geruch der Walderde, wie Botschaft des Dickichts. Dann schnellte Epi die Löffel hoch, seine Schnurrhaare spielten munter, seine Augen rollten hin und her. Bei solchen Anlässen sprang Epi aus der Kiste, sprang in der Stube herum, wurde beinahe übermütig und erprobte die Gelenkigkeit seiner Beine. Bis man ihn wieder erjagte, bis man ihn haschte und in die Kiste zurücksteckte.

Da saß er, war sich seines Unglücks doppelt bewußt und hielt sich still.

Wie er dieses nackte, schamlos gewordene Bretterholz verachtete, das ihn umgab! Wie er diesen Bretterboden verabscheute, der durchtränkt von Unrat war! Wie er die Kohlblätter, die Kartoffelstücke, die Rüben haßte, die man ihm als Nahrung hinwarf! Das war alles geschändet durch Seine Berührung, das stank nach Ihm, vor dem Epi so viel beklemmende Angst und so starken Widerwillen empfand. Er aß immer nur mit würgendem Ekel.

Ab und zu einmal verirrte sich eine Wespe in das Zimmer, schwirrte um Epi, der das Brausen ihres Fluges mit Entzücken wahrnahm.

»Kommst du aus dem Walde?« fragte er.

»Wald?« summte die Wespe. »Ich weiß nicht . . . vielleicht . . .«

»O nein«, flüsterte Epi wehmütig, »o nein . . . wärst du aus dem Walde, du würdest es wissen.«

Ein anderes Mal brummte ein Käfer herein.

Epi zuckte auf: »Vom Walde?«

»Ach was«, antwortete der Käfer, »vom Misthaufen!«

Epi schenkte ihm keine Beachtung mehr. »Elender!« dachte er.

Dann wieder gaukelte ein Schmetterling über den schlummernden Epi hin. Der hörte das feine Sausen der Schwingen, erwachte und rief: »Ich grüße dich . . . du bist vom Walde, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete der Schmetterling und tanzte in der Luft, »ja, von dorther bin ich!«

»Oh!« Epi war so ergriffen, daß er nicht sprechen konnte.

»Was weißt denn du vom Walde?« tanzte der Schmetterling.

»Ich? Ich?« stammelte Epi. »Ich bitte dich . . .« er war ganz aufgeregt, »ich bitte dich, setz dich ein bißchen.«

Der Schmetterling ließ sich nieder und klappte mit den Flügeln. »Nur eine Sekunde«, sagte er.

Epi flehte: »Bleib doch . . . ich muß dir erzählen . . . ich muß dich fragen . . .«

»Unmöglich!« Der Schmetterling erhob sich. »Hier halte ich's nicht aus!« Er tanzte schon wieder hoch in der Luft. »Wie bin ich nur hierher geraten?« rief er zu Epi hinunter.

»Hör doch zu, wie ich hierher geraten bin«, bettelte Epi zu ihm empor.

»Das kümmert mich nicht«, antwortete der Schmetterling. Er schaukelte fröhlich dem offenen Fenster zu.

»Fliegst du in den Wald?« Epis ganze Sehnsucht klang in diesen Worten.

Aber der Schmetterling hörte sie nicht mehr. Er war schon draußen, im Freien.

Epi versank in seinen Trübsinn, und er wurde allmählich stumpf. Zuweilen schien es ihm, der ganze Wald, Hops und Plana, die andern Hasen, all das sei gar nichts Wirkliches gewesen, sei nur ein Traum seiner Sehnsucht, der nun verdämmerte. Epi ließ ihn verdämmern. Er besaß nicht mehr Willen genug, nicht mehr hinreichende Lebenskraft, um sich am Gewesenen festzuhalten.

Als aber der gefangene Zeisig im engen Bauer aufs Fensterbrett gesetzt wurde, erwachte Epi einmal noch aus seiner Dumpfheit. Er stellte die Löffel kerzengerade, er schnupperte mit gieriger Hast zu dem kleinen Vogel hinauf, er hob sich in die Hinterbeine, und seine Schnurrhaare, die gelblich, spröd, gefühlsarm geworden waren, spielten jetzt heftiger denn je. Der Zeisig dort kam aus dem Walde. Epi spürte den leisen Hauch, der dem Gefieder des winzigen Vogels entströmte, diesen unvergeßlichen Duft der Freiheit, der Baumwipfel, der unberührten Zweige, des niemals entweihten Laubes. Er war nur ganz zart, dieser Hauch, wurde mit jeder Stunde zarter und verging schließlich. Aber Epi hatte ihn leidenschaftlich eingeschlürft. Diese Frische, diese herrliche Botschaft der herrlichen Heimat drangen Epi ins Herz, das davon aufgewühlt und erschüttert wurde.

Anfangs ließ sich mit dem Zeisig gar nicht reden. Er tobte wie rasend gegen das Gitter und hörte wohl nichts. Doch diese wilde Verzweiflung riß auch Epi wieder in wilde, verzweifelte Trauer. Er saß still in sich verkauert, hielt die armen, kummervollen Augen auf den Zeisig gerichtet, der im Käfig zerflattern wollte, und Epis ganzes Wesen flatterte, raste, tobte mit dem kleinen gefangenen Vogel. Ganz still schien Epi, wenn man ihn so ansah. Aber seine kleine, unglückliche Seele wurde zerfetzt vom Sturme der Sehnsucht, der Ungeduld, der bitterheißen Klagen und Anklagen. Epi verfiel in diesen Stunden rascher als früher in Wochen.

Der Zeisig hatte das sinnlose Wüten aufgegeben und begann das unruhige Hin- und Herspringen.

Epi fragte zu ihm hinauf: »Kommst du vom Walde?«

Immer und immer wieder fragte er, ohne Antwort zu erhalten. Epi verlor die Geduld nicht. Er stand aufgerichtet in den Hinterbeinen, solange er konnte. Lange war er's freilich nicht mehr imstande. Er schnellte die Löffel hoch und ließ sie wieder fallen. Er schnupperte mit stark bewegter Nase, um noch diesen letzten Rest des geliebten Heimatgeruchs zu erhaschen, den der Gefangene mitgebracht hatte. Und er ließ nicht ab, seine Frage zu wiederholen: »Kommst du vom Walde?«

Endlich piepste der Zeisig: »Was geht's dich an?«

Zärtlichkeit glänzte in Epis Augen, als er zärtlich sagte: »Auch ich bin aus dem Walde!«

»Was geht's mich an!« Das klang mürrisch und zornig.

Epi war davon völlig niedergeschmettert. Lange saß er geduckt und schweigsam. Dann seufzte er: »Schön ist der Wald!«

Da begann der Zeisig zu singen.

Epi lauschte. Er wurde bis zum Bersten erregt, er wurde bis zur Seligkeit beruhigt, er wurde von Begeisterung durchglüht und zuletzt doch furchtbar vernichtet.

Was er vernahm, war der ungezügelte Ausbruch eines zermarterten Herzens, war Verheißung und Verzweiflung, war sein eigenes Schicksal, ins Wunderbare erhöht.

Später kamen Gespräche zwischen dem sanften Epi und dem widerspenstigen Zeisig auf.

»Kennst du Plana und Hops?« erkundigte sich Epi.

Abweisend entgegnete der Zeisig: »Nein!«

»Doch«, beharrte Epi mild, »denk nur nach . . .«

Schroff wiederholte der Kleine: »Nein.«

Epi staunte: »Wie wär' das möglich? Du kommst aus dem Walde und kennst Hops, kennst Plana nicht?«

»Wer ist das?« ließ sich der Zeisig herbei.

Epi sagte mit Stolz: »Meine Verwandten sind das, meine guten Freunde.«

»Sehen sie so aus wie du?« forschte der Zeisig.

»Oh!« Epi rief das gerührt. »Oh, sie sind viel schöner, sie sind wahrhaft schön!«

Der Zeisig sauste hin und her, hin und her: »Mag sein, mag sein . . . aber wir . . . wir, die wir fliegen können . . . wir achten wenig auf das, was am Boden kriecht.«

Epi schämte sich. Er schwieg an diesem Tage und grübelte. Den nächsten Morgen aber sagte er, als gäbe er jetzt Antwort auf soeben Vernommenes: »Und doch bist auch du gefangen, ebenso wie ich . . .«

Der Zeisig fing wieder an zu singen, und Epi wurde davon erneut in den seltsamen zerstörenden Rausch gestürzt, darin seine Lebenskraft hinschwand.

Sie sprachen noch oft miteinander, die beiden Gefangenen, ausführlicher, freundlicher. Der Zeisig gewann Verständnis für die erdgebundenen Wesen, die nicht fliegen und nicht singen können, für ihre Einfachheit, für ihre Not wie für ihr Glück. Epi lernte das Leben der beschwingten Sänger kennen, die den Blick von oben haben und die Seligkeit unermeßlichen Raumes genießen.

Doch gerade diese Seligkeit, die er ja in der Angst seines Herzens nur zu ahnen vermochte, ließ ihn immer unfähiger werden, sein Los zu ertragen.

»Du wirst es länger aushalten als ich«, sagte er.

»Warum?« pfiff der Zeisig.

»Weil . . . weil . . .« Epi stotterte, »weil dir . . . dein Gesang beschieden ist . . . dein . . . Herz . . . zu befreien . . .«

Er sprach jetzt überhaupt nur noch schwer. Tagelang saß er da, nahm keinen Bissen Nahrung zu sich und zitterte am ganzen Leib. Einmal beugte sich das kleine Mädchen, das ihn gefangen hatte, zu ihm nieder, merkte, daß sein Futter unberührt geblieben war, merkte, daß er zitterte. Das kleine Mädchen hob Epi sanft empor, hielt ihn auf dem Arme, streichelte den armen Hasen, der nur stärker bebte, und sprach zu ihm: »Was ist denn mit dir?«

Es rief die Mutter. Sie kam, streichelte Epi und sagte: »Was ist denn mit dir?«

Eine Weile lang liebkosten ihn beide, und beide wiederholten immer aufs neue: »Na, was ist denn mit dir?«

Ewige Menschenfrage an die stumme Kreatur. Viel Zärtlichkeit und ganz ohne Verstehen. Ewige Menschenfrage, die von der begangenen Mißhandlung nichts ahnt, nichts wissen will, und die sich merkwürdigerweise selbst genügt, da sie ewig ohne Antwort bleibt.

Gegen Abend lag Epi entkräftet in der Kiste.

Der Zeisig sang.

In seinem Gesang erstand der Wald mit all seinem wilden Zauber; inbrünstiges Drängen nach Freiheit war in diesem Gesang, leidenschaftliches Sehnen nach Baumwipfeln, nach Sonne, nach grünem Schatten.

Epi lag, vom bittersüßen Rausch umfangen. Er begann das geliebte Dickicht zu sehen, er glaubte sich bei Plana und Hops. Viele Hasen liefen herbei, um ihn zu begrüßen. Das Spielen und Haschen hob wieder an, auf der Wiese seiner Kindheit.

Epi schnellte die Löffel hoch, er sprang toller als alle andern.

In Wahrheit zuckte er nur schwach.

Und während der Zeisig sang, fiel Epi leise zur Seite, streckte sich und rührte sich nimmermehr.

 


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