Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Manche andere Morgenstunde verbrachte Hops mit den Gefährten seiner Kindheit draußen auf der Wiese.

In der langen, wunderreichen Stunde, während die Nacht versank, wie ein schwarzer Schleier sich löste, sich hinweghob, der Himmel heller und heller wurde und die Sterne verblaßten, während dieser Stunde ergötzten sich die Hasenkinder auf der Wiese.

Die Wiese lag mitten im Laubwald; sie hatte gar keine ausgesprochene Form, weder die eines Kreises noch sonst eine andere. Mit vorgestoßener Spitze drang der Wald an der einen Stelle in den Rasen, gleich einer schmalen Halbinsel. An einer anderen Stelle riß die Wiese eine tiefe Bucht in das Dickicht. So unregelmäßig und so lieblich konnte nur ein See, ein Weiher oder nur eine wilde Wiese sein. Sie war wie ein Aufatmen des großen Waldes, ein Stückchen Freiheit, Licht, Luft und . . . Gefahr.

Da tummelten sich die jungen Hasen und waren oft ganz berauscht, waren voll jener seligen Raserei, die alle Geschöpfe nur in der Kindheit erfüllt.

Sie glichen kleinen Wolkenrestchen, die noch einen Schein des Himmels an sich tragen, und denen es Spaß macht, auf der Erde zu tanzen. So körperlos, so zart sahen sie aus.

Sie jagten einander rundum. Ganz nah am Waldrand. Denn ein Etwas lag dabei immer in ihrem Kindersinn, das ihnen sagte, man könne nie wissen, was geschehen werde, und es sei vorteilhaft, mit einem Satz im Dickicht zu verschwinden.

Hops war einer der Vorsichtigsten von allen. Oft trieb es ihn, drauflos, mitten in die Wiese zu rennen und weiter, immer weiter. Er hielt sich zurück. Hie und da gewaltsam, ohne daß er recht wußte, warum. Immer blieb er ganz nah am Rande der Dickung, immer war er bereit, zu flüchten und sich zu verstecken.

Die kleine Plana vertraute sich seiner Führung an. Das war von ungefähr so gekommen, ganz von selbst.

Plana war lustig, war übermütig, doch ohne jede Selbständigkeit.

Wenn die andern sich überkugelten, weil sie so schnell dahinschossen, war die kleine Plana mitten drunter. Wenn alle von dem unfreiwilligen Purzelbaum entzückt in die Höhe sprangen und erst recht anfingen wie verzückt zu rennen, war Plana die Tollste.

Dann klapperte Hops mit den Löffeln und rief nach ihr.

»Plana . . .«

Sie kam sogleich.

»Bleib bei mir . . .« sagte Hops.

Und sie blieb. Sie hockte neben ihm und sah ihn fröhlich an. Er schwieg.

Sie war hold, die kleine Plana. Und sie hatte etwas Rührendes in ihrem Wesen, etwas von hilfloser Ergebenheit.

Hops konnte das noch nicht so deutlich empfinden. Doch er fühlte es wohl, wenn Plana bei ihm saß.

Manchmal gerieten die Hasenkinder außer sich vor Entzücken über sich selbst, über die starke, belebende Morgenluft, über den Hauch der Gräser und Blumen.

Da sprangen sie hintereinander drein, so blitzschnell, daß es unmöglich blieb, zu erkennen, wer den Verfolger spielte und wer den Verfolgten. Sie hätten selbst nicht vermocht das zu entscheiden.

Auch Plana fiel regelmäßig in diese Ekstase, der sich sogar Hops nicht entziehen konnte. Er sauste mit Plana auf und nieder, hin und her. Aber stets nah der Dickung, immer die schützenden Sträucher entlang.

Wollte Plana übermütig gegen die Wiese ausbrechen, dann kam Hops sogleich zur Besinnung, hockte nieder und rief: »Nicht so weit!«

Plana kam herbei, setzte sich zu ihm und sagte nur: »Ach . . . du!«

Über den Rasen schritten feierlich Fasane: farbenprächtig, stolz, nickenden Hauptes. Sie waren Familienväter auf Ferien. Denn drinnen, im lockeren Dickicht, führten die Hennen ihre junge Brut spazieren. Und die Mütter, umwimmelt von den winzigen Küchlein, hatten ein demütig-selbstbewußtes Gehaben und vermochten sich vor lauter Wachsamkeit nicht zu fassen.

Draußen, auf der Wiese, hob da und dort ein Reh sein Haupt, bewegte anmutig die Lauscher und äugte zu den spielenden Hasenkindern hinüber.

Manchmal blieb denen der Atem weg vor Laufen und Springen. Dann saßen sie still und nahmen ernste, ja bekümmerte Mienen an. Der Schatten des schweren, künftigen Schicksals schien während solcher Sekunden über sie alle hinwegzuhuschen.

Sie saßen da, regten sich nicht, indessen ihre Lungen flogen und ihre Pulse jagten.

Aber so junge Hasen brauchen nicht lange, um sich zu erholen.

Da fing einer von neuem an, hockte sich in die Hinterbeine und blinzelte pfiffig umher; der zweite hoppelte zu ihm, stieß ihm die Nase in die Flanke; ein dritter tat so, als wäre die ganze Schar hinter ihm drein, und rannte wie gehetzt.

Worauf die ganze Bande nun sofort wieder ins Kreiseln geriet.

Heute jedoch wurde die allgemeine Heiterkeit durch ein ernstes Ereignis gestört.

Ein kleiner, ein winzigkleiner Hase wurde vor sinnloser Freude so närrisch, daß er weit fortrannte. Mitten hinein in die Wiese. Er war ein netter Junge, der tollste, der lustigste von allen. So rannte er drauflos, zutraulich, neugierig, unerfahren und berauscht von seiner Fröhlichkeit.

Ein paar Krähen, die feldwärts strichen, erblickten den kleinen Hasen, wie er allein auf der Wiese umherlief.

Da senkten sich die schwarzen Vögel rasch zu ihm herab, und ehe der Arme sich zu besinnen vermochte, fühlte er grimmigen Schmerz in beiden Augen. Die schöne grüne Welt verschwand ihm, wurde schwarz und finster. Wühlende Pein fuhr durch sein Hirn. Und alles war vorbei.

Das Klagen des sterbenden Jungen, der noch kaum gelebt hatte, blieb ungehört. Es klang zu leise, und es verstummte zu schnell.

Nichts blieb übrig als umhergestreute Flöckchen zarter Wolle und ein bißchen Blut, das in Rubintropfen an den Gräsern hing oder im Erdboden bald versickerte.

Manche von den Hasenkindern hatten den Zwischenfall gar nicht bemerkt. Einige andere hatten die Krähen, die herniederstießen, erblickt. Während der kurzen Sekunde, in der sie sich mit hochgeschnellten Löffeln aufrichteten, hatten sie den Mord, der dort draußen an einem der Ihren begangen wurde, mehr erraten als mitangesehen.

Verstört duckten sie sich und flüchteten, mitten aus dem Spiel, ins Dickicht.

Aber keiner redete zum andern auch nur eine Silbe über das Geschehnis.

Ein stilles Grauen zerrte an ihnen, verblaßte bald wieder und zwang sie doch zu schweigen.

Hops saß unter einer niedrigen, dichten Holunderstaude am Wiesensaum und hatte Plana bei sich. Über Holunder und anderem Buschwerk ragte riesenhaft eine uralte Esche und breitete prächtig ihren Wipfel.

Zwei Eichhörnchen jagten einander baumauf, baumab. Ihre roten Standarten fegten durch das hellgrüne Laub.

»Es ist gefährlich, so drauf loszurennen«, sagte Hops leise. – Plana seufzte nur.

Sie saßen beide ganz still. Hin und wieder bewegten sie ihre Löffel. Und ihre Schnurrhaare bebten.

Als dann die Sonne emporstieg und ihre ersten Strahlen wie hingeschleuderte goldene Speere niederblitzten, krochen die Hasenkinder in das schattenkühle Dickicht. Sie blieben nicht beisammen. Einzeln schlüpfte jedes zu seiner Mulde, die es sich unter dem überhängenden Geäst eines Strauches zurechtgekratzt hatte. Jedes allein und für sich drückte den kleinen, schmalen Leib in die warme Scholle, blieb ohne Regung liegen und gab sich dem dünnen Hasenschlummer hin.

Nur Hops und Plana waren nahe beieinander. Die Vögel sangen, zwitscherten, pfiffen, jauchzten ein paar Stunden noch, bejubelten den blauen Morgen, beschwatzten ihre Liebesangelegenheiten, ihre Sorgen, Freuden und Zerwürfnisse. Dann breitete der Mittag sein brutheißes Schweigen über den Wald.

»Wie schön!« sagte Plana, manchmal aus ihrem Halbschlummer erwachend.

»Schön . . . und schwer«, antwortete Hops jedesmal. Und fügte jedesmal die Mahnung hinzu: »Halt dich still.«

Nicht immer war Plana geneigt, auf diese Mahnung zu achten. Sie hatte solche Worte zu oft gehört, dachte sich nichts mehr dabei, ja sie fühlte sich mitunter dadurch einfach gereizt. So geschah es hie und da, daß sie, gerade wenn Hops ihr zugeflüstert hatte: »Halt dich still«, aufsprang und im Kreise herumzurennen begann.

»Du bist toll!« murrte Hops.

Und Plana entgegnete: »Toll vor Freude!«

Hops warnte: »Du wirst schon sehen . . . aber dann ist es zu spät.«

Plana duckte sich sogleich. »Es ist ja nichts geschehen«, meinte sie begütigend.

»Jeden Augenblick kann etwas geschehen«, erwiderte Hops.

»Ich bin schon still«, versicherte Plana und lag ohne sich zu regen in ihrer Mulde. – –

Eines Nachts jedoch wurden sie beide Zeugen eines Ereignisses, das sie zittern machte.

Groß, unhörbar und majestätisch schwebte die Eule im Gehölz umher. Manchmal hoch oben, längs der Baumwipfel, manchmal ganz nah am Boden.

Noch nie hatten die zwei solch ein zauberhaftes Wesen erblickt. Doch Hops wurde mißtrauisch; diese Erscheinung war ihm unheimlich, ohne daß er wußte, weshalb. Er rührte sich nicht. So leise er konnte, schickte er dringende Warnung zu Plana hinüber, die sich aufrichten wollte.

Sie erschrak und gehorchte.

Aber ein anderes Hasenkind, etwa zwanzig Sprünge von ihnen entfernt, hatte den wunderbaren schwebenden Schatten sehen wollen und hatte sich bewegt, kaum merkbar, nur ganz leise.

Schon war es von den breiten Schwingen der Eule gedeckt, war umfangen von dem lautlosen und wie zärtlichen Gefieder. Wäre nicht der kurze, schwache Schmerzensschrei gewesen, der Hops und Plana ans Ohr drang, sie hätten geglaubt, das sei eine Liebkosung.

Gleich scharfen Dolchen fuhren die Krallen der Eule dem armen Hasenkind durch den schmalen, mageren Leib. Ein paar Schnabelhiebe, und es war schon tot, als es aufgehoben und durch die Nachtluft fortgetragen wurde.

»Furchtbar . . .« flüsterte Plana. Das Grauen schüttelte sie. Hops verharrte in Schweigen.

Plana begriff jetzt die Mahnung, die ihr von Hops immer wieder zuteil wurde. Nun hatte sie es erlebt, wie man Neugier, wie man Leichtsinn büßen mußte. Sie empfand Dankbarkeit für Hops. Und sie hörte jetzt selbst in ihrem eigenen Blut die ängstliche Stimme, die ihr zuraunte: »Halt dich still.«

Am Morgen kamen ein paar Mütter, um nach den Kleinen zu sehen.

Auch Hops saß wieder einmal bei seiner Mutter und erzählte ihr von der Eule.

»Ja, ja«, sagte die Mutter nachdenklich vor sich hin, »uns bedrohen alle . . . alle verfolgen uns . . . und wir verfolgen keinen . . .«

»Wo ist mein Vater?« fragte Hops plötzlich. Er hatte Sehnsucht nach einem Beschützer.

Die Mutter erschrak. »Was fällt dir ein?« rief sie, und ihre Löffel schnellten entsetzt in die Höhe. Ihre schönen Schnurrhaare bebten erregt, während sie fortfuhr: »Was hast du für verwegene Wünsche? Laß es dir nicht einfallen, ihm in den Weg zu kommen!«

Hops überwand die Scheu, die ihn sogleich durchdrang. »Warum denn nicht?« forschte er.

»Aber Kind!« rief die Mutter, »er würde dich umbringen!«

Hops war erschüttert. Es dauerte eine Weile, bis er sich fassen konnte. »Umbringen . . .?« stammelte er.

»Laß dich vor ihm nicht blicken«, bat die Mutter, »jetzt nicht, solange du so klein bist . . .«

»Weshalb haßt er mich?« wollte Hops wissen.

»Ach, er haßt dich ja gar nicht«, die Mutter seufzte ein bißchen, »er hat mich nur so schrecklich lieb. Immer soll ich bei ihm sein, immer . . .«

Hops saß verblüfft da. Er verstand kein Wort.

Die Mutter begann zu erklären: »Siehst du, ich will doch mit meinen Kindern sein . . . wie jetzt mit dir . . . denn ich hab' jetzt nur noch dich . . . aber das begreift er nicht, das duldet er nicht! Wenn er eins von den Kleinen erblickt, wird er zornig. In seiner Eifersucht, in seiner Wut kennt er sich nicht mehr.«

»Hat er schon einmal . . .?« Hops stockte.

»Beinahe«, gab die Mutter Bescheid, »beinahe . . . den Schrecken vergess' ich nie. Aber ich hab' das Kleine damals noch gerettet.«

Hops saß still und grübelte. Das war eine schwierige Sache, die er nicht ganz verstehen konnte. Es war schmerzlich, das zu hören; zugleich war es auch auf eine seltsame Weise schön und spannend. »Mutter«, sagte er dann, »ist das der Grund, warum ich dich so selten sehe?«

Sie antwortete sofort: »Du darfst deinem Vater nicht böse sein, Hops.«

Er lag ganz eng an den Boden gedrückt, hielt die Löffel glatt auf dem Rücken und sprach: »Nein, ich bin ihm nicht böse. Ich kann ihm gar nicht böse sein . . . nur . . . daß ich jetzt auch vor ihm Angst haben muß . . . auch vor ihm!«

»Nicht mehr lange«, tröstete die Mutter, »nicht mehr lange. Bald bist du groß genug, bald ist der weiße Stern auf deiner Stirne verschwunden. Dann darfst du dich ihm ruhig zeigen, und er wird nett zu dir sein.«

»Ich werde warten«, sagte Hops.

Als dann die Mutter fort war, hockte er sich wieder zu Plana. Doch er verschwieg ihr das Gespräch, das er mit seiner Mutter geführt hatte. Wozu sollte er davon reden? Plana war doch so kindisch. Und überdies: Hops schämte sich zu erwähnen, daß der Vater die Mutter so sehr liebte.

 


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