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Auch in Italien gibt es nicht immer einen wolkenlosen lachenden Himmel, wie die meisten Nordländer glauben, die im Winter nach Rom und Neapel kommen. In den Monaten Dezember und Januar hat man auch dort eine Reihe von Tagen, die keinem Menschen gefallen, in denen die dicken Regenwolken herabhängen bis auf den Pincio und Posilip, und Alles grau und melancholisch aussieht.
An einem solchen Tage war es, als wir, ein kleiner bunter Kreis von Deutschen, in einer römischen Pension nach dem Pranzo im Gesellschaftszimmer beim Kaffee sassen. Um die Zeit hinzubringen, wurde von allem Möglichen gesprochen, und da tauchte denn auch, weil eben erwähnt worden war, dass ein kleiner verwachsener Maler in eine bildschöne Signora, eine junonische Gestalt, ganz sterblich verliebt sei, die Frage auf, welcher Fall bei der Liebe wohl der schwierigere: der, wo der Mann, oder der, wo die Frau verwachsen sei. Die Meinungen schwirrten zunächst etwas verworren durcheinander, bis die Ansicht das Übergewicht gewann, dass für die Frau die Verunstaltung am störendsten sei. In der Frau erblickte man die geborene Vertreterin der Schönheit, alle Künstler wählten zur Darstellung der edelsten und zartesten Formen den Körper der Frau, in der Venus werde man immer die höchste und feinste Blüte des Menschengeschlechts verehren. Dazu komme, dass auch im geselligen Leben bei der Frau das Äussere eine ganz andere Rolle spiele als beim Manne; sogar die Kleidung ziele darauf ab, den Wuchs der Frau in weit vorteilhafterem Lichte zu zeigen. So lege denn die Frau weit mehr Wert auf ihr Äusseres als der Mann und suche in der Gesellschaft durch Grazie, Anmut und Liebreiz zu glänzen, der Mann durch Wissen und Charaktervorzüge. Ein körperliches Defizit müsse daher auch bei Liebesverhältnissen von der Dame schmerzlicher empfunden werden als von dem Manne.
Eine sehr redegewandte Norddeutsche hatte eben diese letzten Sätze formuliert und durfte auf allgemeine Annahme derselben hoffen, als ein alter Maler, der bisher geschwiegen, gerade die entgegengesetzte Ansicht aufstellte: »Wenn sich zwei Personen lieben,« sagte er, »von denen die eine unter einer solchen Verunstaltung leidet, so wird der Mann, falls diesen das Missgeschick traf, weit mehr die Härte des Schicksals empfinden, weit mehr Zwiespalt durchzukämpfen haben, weit mehr unter Hangen und Bangen leiden, als im umgekehrten Falle die Frau. Es ist vorhin betont worden, dass die Frau sehr viel auf das Äussere gibt, ich möchte hinzufügen, nicht nur auf ihr Äusseres, sondern auch auf das Äussere des Mannes. Ihr scharfes Auge bemerkt sofort jede Nachlässigkeit, jede Unordnung bei der Kleidung des Mannes; eine Verunstaltung verletzt ihr Schönheitsgefühl unzweifelhaft weit mehr, als das des Mannes. Bei der leichten Beweglichkeit ihres Geistes, bei der Neigung, sich über das, was ihr missfällt, zu moquieren, wird ihr bisweilen ein Scherzwort entschlüpfen, das den Verwachsenen beleidigt. Jeder missgestaltete Mann wird daher nach und nach bei den Damen eine ganze Reihe schmerzlicher Erfahrungen machen. Man kann es ja oft genug beobachten, wie Frauen sich durch das Äussere bestimmen lassen; wie sie einen nur mittelmässigen Sänger umschwärmen – hauptsächlich weil er ein hübscher Kerl ist. Wir Männer werden dagegen doch schliesslich von den Frauen gefesselt, die durch Herzensgüte und feinen Sinn für alles Edle und Schöne glänzen, und wir werden dann auch, wenn wir eine solche schätzen und verehren gelernt haben, vor einer kleinen Missgestaltung nicht zurückschrecken. Die Situation ist also entschieden für den Mann misslicher als für die Frau. Dieser Ansicht war übrigens auch Franz Liszt, der ausgezeichnete Frauenkenner, wie ich einmal zu beobachten Gelegenheit hatte.« –
An verschiedenem Kopfschütteln hatte man schon bemerkt, dass sich eine namhafte Opposition gegen die Ansichten des Malers vorbereitet hatte; als dieser nun aber geschickt am Schlusse seinen Trumpf mit Liszt ausspielte, überflutete sofort die Neugier alle Gegenrede, und gleich vier bis fünf Stimmen riefen:
»Auch Franz Liszt? – O, das müssen Sie uns erzählen – Sie waren selbst dabei? – Waren Sie befreundet mit ihm?«
Der Maler lächelte gelassen bei diesem Liszt-Enthusiasmus, und als sich die Erregung etwas gelegt hatte, hub er an:
Gewiss, ich war mit Liszt befreundet. Ich habe ihm einmal, als er hier war, ein paar kleine Puszta-Bilder gemalt, nach einigen Skizzen, die er zufällig sah und die ihm sehr gefielen. Seinem Ungarlande hat er ja stets die herzlichste Liebe bewahrt. Da er nun auch einer der erkenntlichsten Menschen war, die mir je vorgekommen sind, so erinnerte er sich immer meiner, wenn es einmal etwas Besonderes bei ihm gab. So war ich denn auch bei allen den kleinen reizenden Festen, die er damals ab und zu seinen Freunden und Freundinnen auf der Villa d'Este oben im Tivoli gab, als er längere Zeit dort wohnte. Solche hochinteressanten Abende bieten sich einem nur wenige im Leben, ich versäumte daher keinen einzigen. Ähnlich erging es einem jungen italienischen Musiker; ich will ihn Paolo nennen; sein Name hat heute einen sehr guten Klang. Auch Paolo fehlte an keinem der Gesellschaftsabende, und Liszt, der längst sein grosses Talent erkannt hatte, begrüsste ihn stets mit ausserordentlicher Herzlichkeit. Sofort, wenn Paolo eintrat, ging ihm Liszt entgegen und schüttelte ihm die Hand, und dann bot sich uns Anderen ein originelles Bild dar: der grosse, stattliche Liszt mit den eleganten Manieren eines vollendeten Weltmannes stand neben einem kleinen Männlein, dessen Haupt tief im Rockkragen stak und dessen steife, unbehilfliche Bewegungen nicht die geringste Grazie besassen, dieweil das kleine Gebirge auf seiner Nordseite ihn jeder Elastizität beraubte.
Paolo war besonders Komponist, aber auch zugleich vorzüglicher Klavierspieler. Wenn er in der Dämmerstunde, bevor die Diener die Lichter brachten, auf dem Flügel phantasierte, war der ganze Kreis der Damen stets »zerflossen in Wehmut und in Lust«, und auch Liszt lauschte mit grösster Aufmerksamkeit. Ich habe es selbst einmal gesehen, dass er den Dienern Zeichen gab, mit den Lichtern noch zurückzubleiben, damit Paolo noch etwas länger spiele. Das tat denn auch der Künstler offenbar ganz gern, und wir sollten auch bald erfahren warum.
Hinter den Damen, die ständig zu den Liszt-Abenden in der Villa d'Este erschienen, befand sich auch eine Kontessa, die früh ihren Mann verloren hatte und nun in Rom hauptsächlich dem Kunstgenüsse lebte. In ihrem kleinen Salon trafen sich an ihren Gesellschaftsabenden alle bedeutenderen Musiker, Maler, Bildhauer und Schriftsteller, die zur Zeit in der ewigen Stadt weilten. Paolo wurde durch Liszt bei ihr eingeführt. Sie wurde von den meisten Künstlern geradezu vergöttert, denn sie war in der Tat eine imponierende Schönheit. Da sie aus dem Süden Italiens stammte, war das Oval ihres Antlitzes vielleicht etwas zu lang gezogen, aber das Gesicht erhielt dadurch etwas Eigenartiges, und alle übrigen Linien waren ausserdem so weich und fein, und die herrlichen dunkeln Augen leuchteten unter den edel geschwungenen Brauen mit einer solchen Zaubermacht hervor, dass man auch als Künstler dieses hoheitsvolle Bild selbst nicht um eine Nüance hätte anders haben mögen. Sehr leicht hätte sie sich natürlich wieder verheiraten können, aber wie es schien, wollte sie dies nicht tun – oder es war ihr, da sie vielleicht sehr hohe Ansprüche machte, der Rechte noch nicht begegnet. Wenn wir Künstlerleute uns mittags im Café trafen, oder abends nach Ponte molle hinaus spazierten, war sie natürlich oft der Gegenstand unseres Gespräches, man erzählte sich mit Behagen, wie sie den oder jenen, der sie allzu dreist umflattert, mit Grazie in respektvolle Entfernung zurückgewiesen, wie sie mit einem unnachahmlichen Lächeln die Versuche dieses oder jenes, sie zu erobern, in ein vollständiges Nichts habe zerstieben machen. Es machte uns das natürlich einen köstlichen Spass, denn keiner gönnte sie dem anderen.
Bei diesen Plaudereien über die Kontessa fiel es mir schon bald auf, dass Paolo jederzeit schwieg, wenn die Rede auf die schöne Frau kam, und weiterhin musste ich dann erkennen, dass auch ihm sie es angetan hatte. Armer Paolo! dachte ich bei mir. Was ich ihm sagte, weiss ich nicht mehr; es kann nur der fadeste Trost gewesen sein. Er war übrigens auch selbst von der Aussichtslosigkeit seiner Liebe überzeugt und wusste schliesslich kein anderes Mittel, um von seinem Liebeskummer zu gesunden, als das, nach Amerika auszuwandern.
Die Nachricht davon wirkte natürlich sensationell.
Wir bestürmten ihn, von seinem Vorhaben abzustehen, aber er hatte immer nur dieselbe Antwort: hier verzehre ich mich, hier gehe ich zugrunde – ich muss weit, weit weg, in durchaus andere Verhältnisse, wenn ich die verzehrende Leidenschaft nur einigermassen dämpfen will. Eine Hoffnung, dass sie mich erhören könnte, habe ich ja doch nicht – bei meiner Figur, und wenn ich ihr auch Sphärenmusik komponierte! Er seufzte dann, nicht bloss wie Romeo, sondern wie ein armer Verliebter, der noch ausserdem beständig seinen Schatten bejammern muss.
Wir waren ratlos.
In dieser Stimmung kam ich eines Tages aus dem Vatikanischen Museum und schritt eben über die Engelsbrücke, als der Wagen Liszts an mir vorbeifuhr und mir der Meister lebhaft zunickte und mir winkte. Drüben am Ende der Brücke hielt dann der Wagen. Ich sprang nun schnell hinzu, und unterdessen hatte Liszt auch schon den Schlag geöffnet.
»Sie müssen mir einige Minuten schenken, lieber Freund!« rief er mir mit seiner ganzen Herzlichkeit entgegen, »steigen Sie ein. Ich habe zwar Pio nono versprochen, um fünf Uhr zu kommen, aber er wird mir verzeihen, wenn ich ihm sage, aus welchem Grunde ich unpünktlich war.«
Als ich eingestiegen war, liess er auf dem Platze vor dem Borgo seitwärts von der Fahrstrasse nach dem Tiber zu fahren und dort halten, worauf er mich mit Fragen über Paolo förmlich überschüttete.
»Haben Sie ihn von seinem Entschlusse noch nicht abgebracht? Leidet er sehr? Weiss die Kontessa darum?«
Ich konnte ihm keinen tröstlichen Bescheid geben.
»Er darf nicht nach Amerika,« fuhr Liszt dann mit der grössten Entschiedenheit fort, »dort verkommt sein schönes Talent, und das wäre ein grosser Verlust für die Kunst. Ich werde meinen ganzen Einfluss aufbieten, dass er bleibt. Ich werde auch bei der Kontessa meine Fühler ausstrecken, noch heute, wenn ich von Pio nono komme. Sie schwärmt für seine Musik; glauben Sie, dass sie es tiefer berühren würde, wenn er nach Amerika ginge?«
Er blickte mich mit seinen grossen Augen so durchdringend an, als wollte er die verborgensten Gedanken meiner Seele lesen. Ich war ganz betroffen über seinen warmherzigen Eifer. Er besass eben ein Herz, das für alles, was zur Kunst gehört und mit ihr zusammenhängt, immer gleich in mächtigen Pulsen schlug.
Ich meinte, dass das vielleicht der Fall sein könnte. Ich hatte auch wohl hier und da bemerkt, dass sie einen gewissen Enthusiasmus für seine Kompositionen hege, aber ich hätte nicht weitere Schlüsse gezogen – bei seinem körperlichen Mangel – –
»O, denken Sie nicht zu gering von ihr,« fiel er lebhaft ein, »sie hat den inneren Wert des Mannes stets über sein Äusseres gestellt, wie es denn überhaupt ein Irrtum ist, dass die Frauen sich nur durch das Äussere in ihren Sympathien und und Neigungen bestimmen lassen. Ich habe da oft sehr merkwürdige Erfahrungen gemacht.«
Er schwieg einen Augenblick; um seinen scharf geschnittenen Mund zuckte es wie ein feines Lächeln. Es war, als schössen ihm allerlei Gedanken durch den Kopf.
»Meist kommt es in solchen Fällen,« fuhr er fort, »nur auf den ersten Schritt an, und diesen muss der Mann tun. Aber er hat nicht immer den Mut dazu, weil er unter dem Banne des allgemeinen Vorurteils steht. Da darf wohl eine freundschaftliche Hand etwas nachhelfen.«
In seinen Augen leuchtete es auf, aber er äusserte sich nicht weiter, und wir verabschiedeten uns. In schnellem Trabe fuhr er in die enge Strasse des Borgo hinein. –
Einige Tage später wurden wir allesamt wieder einmal auf die Villa d'Este eingeladen. Die Karten waren ganz so abgefasst wie zu den früheren Gesellschaftstagen, trotzdem konnte ich mich einer kleinen Beklemmung nicht erwehren, als ich die kurzen Zeilen gelesen hatte, und immer wieder sah ich das Antlitz Liszts vor mir, in dessen Augen es leuchtete und sprühte, Unwillkürlich musste ich daran denken, dass er einst in den dreissiger Jahren in Berlin – ein echter moderner Rattenfänger von Hameln – schon allein mit diesen Augen alle Frauen bezaubert hatte. Bei seinem Spiel war ja dann vollends die ganze Damenwelt willenlos ihm zu Füssen gesunken. Sollte er seine alte Kunst noch einmal probieren, um Paolo die schöne Kontessa zu erobern – und würde dem alternden Künstler glücken, was dem jungen Virtuosen allerdings nur ein leichtes Spiel gewesen war? Dies alles würfelte sich mir im Kopfe herum, und dann sollte ich sehen, wie überflüssig meine Besorgnisse waren, wie das Rattenfängerstücklein in der originellsten Weise und mit der ganzen Elastizität der Jugend ausgeführt wurde, allerdings mit Zuhilfenahme einer Kunst, die ich bisher an Liszt noch nicht zu bewundern Gelegenheit gehabt hatte. Erst später habe ich einmal gelesen, dass er sie in jener Zeit, als er in Frankreich mit Chopin und George Sand verkehrte, wiederholt in ergötzlicher Weise geübt hat.
Als ich an dem bezeichneten Nachmittage zur Villa d'Este hinaufkam, machte ich erst noch einmal dem Park der Villa einen Besuch, weil ich die gewaltigen Zypressen dort so ausserordentlich liebe. Schon war ich mehrere Alleen abgeschritten und wollte mich eben zu den Treppen hinauf wenden, als ich ganz unerwartet Paolo traf. Früher war ich ihm hier unten nie begegnet; er liebte das Treppensteigen nicht. Heute mochte ihn die Melancholie der Zypressen angezogen haben. Er sah auch ausserordentlich ernst aus. Es werde wohl das letzte Mal gewesen sein, dass er hier herauf gekommen sei, sagte er. Alle Vorbereitungen zu seiner Abreise nach Amerika seien getroffen. Er hatte also keine Ahnung, dass etwas in bezug auf ihn im Werke sei – übrigens war ja auch bei mir alles nur Vermutung; ich schwieg also, und wir gingen nun zusammen zur Villa hinauf.
Oben trafen wir bereits einen kleinen Schwärm von Gästen; es ging sehr munter zu, und Liszt war von bestrickender Liebenswürdigkeit. Auch die Kontessa war schon eingetroffen, da sie aber etwas weiter im Hintergrunde des Saales mit einigen alten Herren zusammen stand, so bemerkten wir sie nicht gleich im ersten Augenblick. Als wir zu ihr traten, sie zu begrüssen, erstaunte ich, wie schön sie war. Die Wangen zeigten etwas mehr Blässe als sonst, und über den grossen Augen lag ein Flor von Trauer; aber das machte sie nur noch reizvoller.
Bald wurde es im Saale bekannter, dass Paolo nun in der Tat nach Amerika gehen wolle; man sprach auf ihn ein; man beklagte seinen Weggang; nur die Kontessa sagte nichts, aber ich konnte oft bemerken, wie schwer sie mit ihrer inneren Erregung kämpfte. Auch Liszt schwieg, doch ich sah es wohl, der Schalk sass ihm im Nacken. Wiederholt trat er auf den grossen Balkon des Saales hinaus, und dann ordnete er auch wohl einmal die Portiere an der Balkontür.
Mittlerweile wurde der Kaffee hereingebracht, und bald darauf begann das Musizieren. Vier junge Russen stellten sich zunächst vor, die sich das Wohlwollen Liszts erringen wollten. Sie spielten ein Quartett auf Streichinstrumenten, russische Melodien, schwermütige, melancholische Weisen.
Paolo sass in einem Stuhle ziemlich nahe am Flügel und blickte vor sich hin; die Komtesse hatte drüben auf der anderen Seite in einem grossen Sessel Platz genommen und sah durch die weit geöffnete Balkontüre hinaus in die Landschaft, aber bisweilen richteten sich ihre Augen auf Paolo, und dann sah ich, wie sich das weisse Spitzentuch, das sie um die Schultern geworfen und vorn in einen Knoten zusammengeschlungen hatte, heftig hob und senkte. –
Auf die Russen folgten zwei Italiener, die ein Werk Liszts vierhändig auf dem Flügel vortrugen, dann kam eine kleine Französin – ich weiss nicht, wer sonst noch spielte, bis der Wunsch laut wurde, auch Paolo möchte sich noch einmal hören lassen. Wie es schien, hatte Liszt den Anstoss hierzu gegeben.
Der kleine Bucklige fuhr erschrocken empor, als er die Aufforderung an sich richten hörte. Unwillkürlich blickte er zur Kontessa hinüber, die ihn mit ihren grossen Augen erwartungsvoll ansah. Einen Moment trafen sich ihre Blicke, dann schritt Paolo zum Flügel, setzte sich und schlug laut und heftig einige Akkorde an. Alles Gespräch verstummte. Dann begann er mit einem ernsten, feierlichen Satze; gewaltig rauschten die schweren Tonmassen durch den Saal. Es war, als wenn ein starker, energischer Geist unsichtbar einherschritte, mit mächtigem Können, mit trotzigem Wollen, ein hoher, edler Geist, der sich empört auflehnt gegen das Kleinliche und Niedere, das ihm die Schwingen lähmen wolle, der jubelnd sich erhob in die Freiheit der Kunst. Aber in der Hymne, die jetzt mit gewaltiger Wucht durch den Saal hallte, mischten sich bald weichere Töne, eine leise Trauer begann in die heroischen Sätze hineinzuklingen, sie nahm immer mehr überhand, klagende Akkorde mischten sich in die breite Melodie und gewannen einen immer grösseren Einfluss.
Wohl kann der Künstler, der zum Höchsten emporstrebt, allen Tand und Flitter der Welt verachten, aber ganz seiner Menschlichkeit kann er sich doch nicht entäussern, etwas von der Glückseligkeit des Irdischen muss ihm – soll er sich nicht trotz alledem unglücklich fühlen – zuteil werden: der Besitz eines liebenden Herzens.
Mehr und mehr hatte sich Paolo in sein Spiel vertieft, seine ganze Umgebung schien er vergessen zu haben, nur der eine Gedanke – wir kannten ihn alle –, der Gedanke an sie, die Schöne, die Hoheitsvolle, die Unerreichbare, erfüllte ihn.
Dabei sank die Sonne tiefer und tiefer, und schliesslich sassen wir, ehe wir es uns versahen – der Wechsel vollzieht sich hier im Süden ja so schnell – im Dunkeln, und von Paolo waren nur noch unbestimmte Umrisse zu erkennen.
Die Wirkung der Musik steigerte sich infolge dessen noch, allein Paolo schien jetzt aus seinen Phantasien erwacht zu sein; mit wilder Hast fuhr er noch einmal in die Tasten; wie ein tiefer Schmerzensschrei hallte es durch den Saal.
Gleich darauf sprang er auf.
In demselben Augenblick, während ein Sturm von Beifall losbrach, trat Liszt auf ihn zu, schüttelte ihm die Hand und schritt mit ihm auf den Balkon hinaus, die Portieren der Balkontüre wie zufällig hinter sich zuziehend, so dass es im Saale noch dunkler wurde.
Das Auditorium war einen Moment betroffen, dass Paolo sich so eilig den Huldigungen entzog, und klatschte nun um so lebhafter. Da bewegte sich die Portiere aufs neue und die Gestalt Paolos wurde, wenigstens in ihren allgemeinen Umrissen, wieder sichtbar. Eine neue Beifallssalve, und mit den bekannten hastigen, etwas unbeholfenen Schritten ging die Gestalt auf den Flügel zu und hockte alsbald wieder auf dem Sessel. Ein Augenblick lautloser Stille folgte – wir waren des Höchsten gespannt, was wir zu hören bekommen würden –, da ertönte derselbe Akkord, der vorhin den Schluss gebildet hatte, aber ein hoher Ton hob sich etwas lebhafter hervor, und von diesem ging der Spieler nun aus der schwermütigen Klangfarbe nach und nach in eine freundlichere über, mehr und mehr machte sich ein heiteres Tempo geltend; dazwischen zogen sich die Weisen dieses oder jenes bekannten Liebesliedes, aber kunstvoll in die ganze Phantasie verschlungen; auch lustig-neckische Episoden wurden mit einem gewissen Übermut eingestreut, und dann klang es wieder aus dem Flügel heraus schwärmerisch-sehnsuchtsvoll wie Nachtigallenschlag. Endlich aber brach ein glückliches Jubilieren los, der ganze Flügel schien vor Wonne und Glück ausser sich zu geraten; ich habe mein Lebtag nicht wieder so etwas gehört; wir wurden alle förmlich elektrisiert – noch ein Schlusseffekt, wie der Aufschrei eines Überglücklichen, und der Spieler schnellte von dem Sessel herab, tat zwei mächtige Schritte und lag vor der Kontessa auf den Knien.
So überraschend schnell die Szene sich auch entwickelt hatte, so wurde sie doch allgemein als eine durchaus folgerichtige empfunden: ein allgemeiner Jubel erhob sich, und die Kontessa schlang ihre Arme um den vor ihr Knienden. Alles drängte sich zu ihr heran.
Da entstand ein kleiner Wirrwarr; in der Dunkelheit konnte man nicht recht sehen, was es denn gab; die Portiere des Balkons, welche auf einen Moment ein klein wenig zurückgeschlagen worden war, fiel wieder zu. Plötzlich stand Liszts hohe Gestalt mitten in dem Knäuel.
»Meine Herrschaften!« rief er mit komischer Verzweiflung, »halten Sie den Ausbruch Ihrer Freude einen Augenblick nur zurück, bis Licht kommt!« Er war unterdessen bis zum Klingelzuge gelangt, riss daran und – wie aus der Erde gestampft – standen die Diener mit den brennenden Armleuchtern im Saale.
»Jetzt,« fuhr er lächelnd fort, »steht nichts mehr im Wege, das junge Paar zu beglückwünschen!« Und der Kontessa die Hand drückend, rief er: »Ich freue mich unendlich, dass bei mir es war, wo die beiden Herzen, die schon so lange für einander schlugen, sich schliesslich fanden.«
Die Kontessa errötete in etwas seltsamer Befangenheit, während Paolo so erregt war, dass er ebenfalls kein Wort zu reden vermochte. Die hinreissende Liebenswürdigkeit Liszts half jedoch über alles das hinweg, und es entwickelte sich schliesslich ein Verlobungsfest, wie es mit solchem genialen Humor in der Villa d'Este wohl noch nicht gefeiert worden war.
Der Morgen dämmerte bereits, als wir endlich in unseren Wagen von Tivoli nach Rom hinabrollten.
Schon nach wenigen Wochen fand die Vermählung Paolos mit der Kontessa statt; die Ehe wurde eine überaus glückliche; er trägt seine schöne Frau auf den Händen und vergöttert sie, und sie ist sehr stolz auf ihren berühmten Mann. Wenn aber zufällig einmal die Rede auf die Verlobung in der Villa d'Este kommt, dann spielt ein Lächeln um ihren Mund und sie sucht die Unterhaltung rasch auf ein anderes Thema zu bringen. Wie ich längst vermutete, hat das seinen tiefen Grund, und Liszt hat mir dann die Richtigkeit meiner Vermutung auch einmal freimütig eingestanden.
»Der arme Schelm hätte sich vor Liebe verzehrt,« sagte er, »aber er hätte es bei seinem körperlichen Mangel nie über sich gewinnen können, sich der Kontessa zu erklären; sie wiederum würde nie aus ihrer frauenhaften Zurückhaltung herausgetreten sein. Die beiden wären also wahrscheinlich für immer auseinander gegangen, hätte ihnen nicht eine Freundeshand eine kleine Gefälligkeit erwiesen. Paolo wollte anfangs meinen kecken Plan durchaus nicht billigen und hat, während ich das tolle Liebeswerben auf dem Flügel begann, auf dem Balkon gezittert wie Espenlaub. Der eigentliche kritische Moment war aber der, als ich ihr zu Füssen lag und in aller Geschwindigkeit beibringen musste, dass ich ja nur der Vermittler sei. Ihr Stolz wollte sich gegen den Mummenschanz auflehnen, aber die Liebe siegte schnell.«
Er war eben ein Herzenskenner wie kaum ein zweiter, dieser in jeder Weise geniale Franz Liszt, und darum wusste er auch die ganze Schwere des Missgeschicks zu ermessen, die derjenige Mann zu tragen hat, der liebt – und bucklig ist. Diesem Ärmsten zu helfen, war er sogar mit grauen Haaren noch zu einem Geniestreich bereit, freilich nannte er ihn nur in liebenswürdiger Bescheidenheit eine »kleine Gefälligkeit«.
Man war entzückt über diese »kleine Gefälligkeit« und liess daher jede weitere Opposition fallen; nur einige ältere Damen warfen noch hier und da einen inquisitorischen Blick nach dem Maler hinüber, ob er vielleicht gar selbst – etwas bucklig wäre.