Emilio Salgari
Pharaonentöchter
Emilio Salgari

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Im unterirdischen Verlies

Als Mirinri die Augen wieder öffnete, starrte er in tiefe Finsternis. War es schon Nacht? Das Pharaonenschloß war wie ein herrliches Traumbild verschwunden. Verschwunden auch die goldene Sänfte mit dem schönen Mädchen, das Bild, das ihn geblendet und aller Vorsicht beraubt hatte.

Als er nichts als trostlose Dunkelheit sah, glaubte er zuerst, blind zu sein; er meinte, daß die ihm feindlich gesinnte Umgebung seine Ohnmacht dazu benutzt habe, ihm die Augen auszubrennen. Unis hatte ihm öfters von solchen Strafen erzählt, es wäre also nichts Außergewöhnliches gewesen.

Bei diesem Gedanken erbebte er. Dann aber wurde er ruhiger, da er keinen Schmerz fühlte und die Lider mühelos bewegen konnte. Wo mochte er sich befinden? In einem Grabgewölbe oder im Gefängnis? Wo war Unis, wo war Nefer? Was für ein Schicksal mochten diese treuen Gefährten haben?

Die düstere Prophezeiung des Mädchens hatte sich also erfüllt! Er bewegte sich auf Händen und Füßen vorwärts, um zu erkunden, wo er sich befand. Aber er fühlte nichts – sah nichts als dichte Finsternis.

»Wo bin ich?« schrie er verzweifelt. »In einer Mastaba? Sollen meine Träume von Macht und Ruhm, soll mein Leben so jämmerlich zerstört werden?«

Seine Stimme tönte laut und schrill durch den Raum: »Ich will noch nicht sterben! Befreit mich! Rettet König Tetis Sohn!«

Ein dumpfer Klagelaut antwortete ihm.

Mirinri stutzte. Er glaubte sich verhört zu haben, dann rief er: »Nefer!«

»Ja, Mirinri ...«

»Wo bist du, armes Kind?«

»Ich irre im Raum umher und suche dich in der Dunkelheit! Nun habe ich dich gehört und gehe dem Ton nach ...«

»Hier bin ich! Bei dir!« Mirinri hatte seine Arme ausgestreckt und Nefer an sich gezogen.

»Jetzt würde mir der Tod nicht mehr so schlimm erscheinen«, sagte er. »Aber ich habe dich mit in den Abgrund gezogen, Nefer!«

»Was tut es? Was ist mir der Tod! Wir warten doch von der Geburt an bis zum letzten Schritt darauf, die leuchtende Barke Ras zu besteigen.«

»Sprich nicht vom Sterben! Weißt du, wo wir sind?«

»Ich vermute, im unterirdischen Verlies des Königspalastes.«

»Ist es Tag oder Nacht?«

»Die Sonne ist seit einigen Stunden untergegangen. Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, sah ich noch einen leisen Dämmerschein.«

»Auch dir waren die Sinne geschwunden?«

»Sicher hat man auch mir durch den Knebel ein Betäubungsmittel verabreicht.«

Nach einer Weile, während der sie still nebeneinandersaßen, fing Mirinri wieder an: »Hast du eine Ahnung, ob dieses Verlies groß ist?«

»Ich glaube, sehr groß.«

»Wird sich denn niemand hier unten blicken lassen? Sollen wir Hungers sterben?«

Nefer blieb stumm. Er fühlte, daß sie heftig zu zittern begann. »Was denkst du? Sag, warum bebst du?«

»Ich habe Angst vor jenem Greis, der uns hier eingesperrt hat! Er ist fast mächtiger als der König ... Meine Hand war doch so sicher, als ich den Dolch führte ... Und doch war der Stich nicht tief genug! Er ist nicht daran gestorben.«

»Meinst du den Oberpriester im Tempel der Schatten?«

»Ja, er muß leben! Im Augenblick deiner Verhaftung habe ich deutlich seine Stimme gehört!«

»Vielleicht hast du dich doch getäuscht. Im Alter heilt ein Dolchstich nicht so leicht. Ich fürchte mehr den Usurpator.«

Wieder schwiegen sie.

»Was mögen Unis und Ata und ihre Anhänger machen?« nahm Nefer nach einer Pause den Gesprächsfaden wieder auf. »Sicher wird ihnen die Nachricht von unserer Gefangennahme zu Ohren gekommen sein.«

»In meiner schlimmen Lage hatte ich wirklich für einen Augenblick die treuen Freunde meines Vaters vergessen. Werden sie einen Staatsstreich versuchen und das Volk für mich aufwiegeln? ...Gerade jetzt, wo ich nach dem Königssymbol greifen wollte, mußte ich in den Abgrund versinken ... All die Vorzeichen haben gelogen!« rief er bitter.

»Verzweifeln wir noch nicht, warten wir den Morgen ab! Du weißt nicht, was König Pepi beschließen wird. Vielleicht hast du eine mächtige Beschützerin am Hof.«

Mirinri antwortete nicht. Er legte sich auf eine große Strohmatte, die er beim Umhertasten gefunden hatte. Nefer folgte seinem Beispiel, indem sie sich neben ihn kauerte.

Die Stunden vergingen ihnen langsam ...

Kein anderes Geräusch drang an ihr Ohr als der gleichmäßige Ton von leise sickernden Wassertropfen. Man hörte nicht einmal den Ruf der sich draußen ablösenden Wachen.

Endlich schien die Nacht ein Ende zu nehmen. Ein blasser Lichtschimmer, der immer weiter in den unterirdischen Raum drang, verkündete den Sonnenaufgang.

Bei diesem Anblick war Mirinri aufgesprungen. Er schaute sich erregt um: Durch zwei kleine, vergitterte Fenster oben unter der Decke kam der matte Schein. Die Wände des weiten Raumes waren noch nicht zu erkennen. Nur der Fußboden glänzte, als ob er aus Marmor wäre.

»Ob wir uns wirklich im Pharaonenschloß befinden?« fragte Mirinri seine Leidensgefährtin, die sich ebenfalls erhoben hatte.

»Kein Zweifel!« antwortete diese. »Ich erinnere mich, einmal als Kind hier mit andern fürstlichen Kindern Versteck gespielt zu haben. Aber horch! Was ist das? War das nicht der Ruf einer Wache?«

»Suchen wir den Ausgang, Nefer ... Sieh! Ist dort nicht eine Tür?«

»Und wenn du all deine Kraft zusammennähmest, du würdest sie nicht öffnen können.«

»Aber vielleicht steht ein Wächter dahinter, der unsere Fragen beantworten kann.«

»Versuch es!«

Er näherte sich der schweren Bronzetür und schlug mit den Fäusten dagegen.

Als er zum fünften Mal geschlagen hatte, hörte man Kettengerassel. Die schweren Riegel wurden zurückgeschoben, Licht drang ein, und ein alter, einarmiger Soldat erschien auf der Schwelle. An seiner Hüfte hing eine jener schrecklichen, sichelförmigen Waffen, die mit einem Hieb dem Gegner den Kopf vom Rumpf trennen konnten.

»Was soll das Pochen bedeuten?« fragte er energisch. »Du bist ein Gefangener!«

»Ich möchte nur wissen, wo ich mich befinde.«

»In den unterirdischen Räumen des Königspalastes«, antwortete der andere schon milder.

»Sag, was will man von mir und dieser jungen Pharaonin hier?« Erstaunt blickte der Alte auf Nefer, die sich schweigend genähert hatte. »Das sollte eine Prinzessin sein?«

»Sieh hier!«

Mit diesen Worten lüftete Mirinri den Schleier, der auf Nefers Schulter lag, und zeigte die Tätowierung.

Der Soldat stutzte.

»Du bist bejahrt und wirst an manchen Schlachten teilgenommen haben«, fuhr Mirinri fort. »Vielleicht auch an jenem Entscheidungskampf, der die Chaldäerhorden für immer aus unserem Land vertrieb?«

»Gerade dabei habe ich meinen linken Arm verloren!« sagte der Soldat, der an der empfindlichsten Stelle berührt war. »Damals hat uns Teti der Große zum Sieg geführt.«

»Du hast ihn also gekannt?« fragte Mirinri erregt. »Schau mich an! Ich bin sein Sohn!«

Der Krieger stand wie vom Donner gerührt. »Du... des großen Königs Sohn?«

Dann trat er näher und sah Mirinri prüfend an. »Ja, es sind seine Züge, seine Haare, seine blitzenden Augen ... sogar das Grübchen am Kinn. Er hatte ein Kind hinterlassen, das dann verschwand. Man sagte, es sei tot...«

»Treue Freunde meines Vaters hatten mich entführt, da man fürchtete, daß ich durch List aus dem Weg geschafft werden sollte!«

»Auch davon habe ich gehört«, murmelte der Veteran, der sich noch immer nicht von seinem Erstaunen erholen konnte. »Im Heer lief das Gerücht um ... Herr«, fuhr er mit bewegter Stimme fort, »wenn ich dem Sohn des großen Königs, der Ägypten gerettet hat, helfen kann, so will ich es tun. Für Teti lasse ich noch heute mein Leben!«

»Du kannst mir im Leben nützlicher sein als im Tod. Weißt du, zu welchem Zweck mich der König hier gefangen hält?«

»Ich weiß es nicht, Herr. Als ihr beide gestern abend kurz vor Sonnenuntergang hergeschafft wurdet, übergab man mir die Wache mit dem Auftrag, euch zu töten, falls ihr die Flucht versuchen wolltet. Ich bin aber nicht allein. Andere Wächter stehen oben am Ende der Treppe, hinter der zweiten Bronzetür.«

»Sind sie unbestechlich?«

»Es sind junge Soldaten, Herr, die den Sieger über die Chaldäer nie gekannt haben.«

»Vergiß nicht, daß du im Palast vielleicht doch eine Beschützerin hast«, wandte sich Nefer jetzt an Mirinri. »Dieser Krieger könnte sie heimlich verständigen.«

»Wer ist es?« fragte der Alte.

»Die Königstochter Nitokris. Sie ahnt sicher nicht, wo man uns hingebracht hat! – Darfst du deinen Posten hier verlassen?«

»Ich habe ja das Kommando über die Wächter.«

Nach einigem Überlegen fügte der Veteran hinzu: »Gut, geht jetzt ruhig in euer Verlies zurück und versucht nicht, wieder Lärm zu schlagen! So rate ich euch. Alles weitere werde ich veranlassen.«

»Können wir dir gänzlich vertrauen?«

»Ich schwöre bei Ra, der Königstochter Nachrichten zukommen zu lassen! Meine Enkelin ist im Schloß angestellt.«

Daraufhin ließen sich die beiden Gefangenen wieder einschließen.

Die Sonne mußte inzwischen aufgegangen sein. Ihr Schein erhellte nun mehr und mehr den Raum, aber er war trotzdem fahl und kalt. Die Entfernung der Wände war ungeheuer.

Nach einer langen Weile, während der die beiden Gefangenen still nebeneinandersaßen, ließ sich wieder das Klirren der Ketten und der Lärm der eisernen Türriegel vernehmen. Mirinri schreckte aus seinen Gedanken empor. Sollte es der alte Krieger oder ein anderer Wächter sein? »Wenn ich nur eine Waffe hätte«, flüsterte er.

Die Bronzetür öffnete sich, und der einarmige Veteran erschien, begleitet von zwei jungen Wächtern. Letztere setzten zwei Körbe aus Palmblättern auf den Steinboden.

»Es sind Lebensmittel«, sagte der Alte, indem er einen bedeutsamen Blick erst auf Mirinri, dann auf den rechts stehenden Korb warf.

Ohne etwas hinzuzufügen, ging er mit den beiden jungen Männern hinaus.

Als die schwere Tür wieder ins Schloß gefallen war, hob Mirinri rasch das Tuch, das den bezeichneten Korb verdeckte. Da lagen Maisbrötchen, gebackene Fische, Pasteten und Früchte. Nichts anderes.

»Ich hoffte, etwas Wichtiges unter den Vorräten zu finden«, sagte er entmutigt. »Aber der Alte scheint uns angeführt zu haben. Hast du nicht auch seinen Blick bemerkt?«

Nefer packte stumm die Speisen aus dem anderen Korb aus. Und richtig, da lag ein kleines Stück Papyrus! Mit feinem Pinsel gezogene Schriftzüge standen in blauer Tinte darauf.

Beide liefen zum Fenster und entzifferten mühsam die kleinen Zeichen. »Fürchtet euch nicht – Nitokris wacht über euch.«

Mirinri stieß einen Freudenruf aus. »Sie verläßt uns nicht! Wenn Nitokris uns beschützt, wird es ihr sicher gelingen, uns aus der Gefangenschaft zu befreien«, fuhr er hoffnungsvoll fort. »Ich glaube es auch«, bestätigte Nefer leise.

Der Sonnensohn machte sich nun an die Speisen, die wirklich delikat waren, und aß mit dem Appetit seiner Jugend.

Plötzlich aber hielt er inne. Draußen erhob sich ein immer stärkerer Lärm. Es war, als ob Schlachtwagen rasselten. »Sollten die Verschwörer endlich angelangt sein?« fragte Mirinri atemlos.

Auch Nefer lauschte gespannt. Irgend etwas Besonderes mußte sich ereignet haben ...

Jetzt war es, als ob Hunderte von Personen den Königspalast verließen. Das Stampfen der Schritte wollte kein Ende nehmen. »Horch!« Wieder vernahm man das Rasseln von Ketten. Die Tür wurde geöffnet, und der Veteran trat ein.

Mirinri stürzte ihm entgegen: »Was bedeutet das Wagengerassel?«

»Nur eine Laune des Herrschers! Er befahl einen Kampf zwischen den Wächtern, um sich zu amüsieren und die Stärke ihrer Pferde zu erproben.«

»Bringst du Nachricht von der Prinzessin?«

»Ja, Herr, sie wird bald hier sein.«

Mirinri starrte den Wächter an. Er glaubte sich verhört zu haben.

Der Alte wandte sich jetzt an Nefer: »Ich habe den Auftrag, dich in ein Haus zu führen, das dem König gehört. Du wirst dort Diener und Sklavinnen haben.«

Das Mädchen zuckte zusammen. »Von wem kam dieser Befehl?«

»Von einem Palastoffizier.«

Nefer zögerte.

»Ich muß bei Todesstrafe gehorchen!«

Sie warf einen langen, traurigen Blick auf Mirinri. Dieser verstand sie, und tiefes Mitleid ergriff ihn. »Sei guten Muts, Nefer«, sagte er. »Du kannst mir in der Freiheit mehr helfen, als wenn du hier bliebest. Suche Unis, meinen treuen Unis!«

»Wo werde ich den finden?« seufzte sie.

»Nun, in der Rhodopis-Pyramide!«

»Die Zusammenkunft sollte doch gestern abend schon stattgefunden haben.«

»Vielleicht sind sie heute wieder dort versammelt. Dieser brave Soldat wird dich sicherlich hinführen, so kann dir nichts geschehen.«

»Ja, Herr, ich nehme sie unter meinen Schutz.«

»Ich hoffe, wir werden uns bald wiedersehen, Nefer!«

»Lebe wohl! Vergiß mich nicht so schnell, Mirinri!« Mit diesen Worten verließ sie den Sonnensohn, dem sie schon so viele Opfer gebracht hatte. In ihren Augen glänzten Tränen.


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