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Bevor Unis und Mirinri den Weg zur Memnonsäule antraten, schlossen sie den Eingang zu ihrer Höhle mit einer Steinplatte, damit kein wildes Tier sich einschleichen konnte. Beide hatten sich mit kurzen Bronzeschwertern bewaffnet.
Die Wüste lag vor ihnen, eine unbebaute, sandige Ebene, in der sich hier und dort Palmen erhoben. In der Ferne heulten Schakale; auch das seltsame Lachen der Hyänen war hörbar.
Weder der Priester noch Mirinri sprachen ein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach. Unis hob von Zeit zu Zeit den Blick zu dem sternenklaren Himmel empor und beobachtete aufmerksam den Kometen.
So waren sie bereits mehrere Meilen gewandert. Manch wildes Tier war pfeilschnell an ihnen vorübergeschossen. Da legte Unis den Arm um die Schultern seines Zöglings und fragte: »An was denkst du, Mirinri?«
Dieser zuckte zusammen, aufgeschreckt aus Träumereien.
»An die Größe und Macht, die dich in Memphis erwarten? An Rache? Nein, weder Ehrgeiz noch Haß erfüllen deine Seele«, sprach der Alte mit Bitterkeit, »denn deine Augen haben noch kein einziges Mal den Stern verfolgt, der dein Schicksal bestimmt!«
Der Jüngling seufzte.
»Du denkst nur an das Mädchen, das du vom Tod errettet hast«, fuhr Unis fort. »Aber ich verstehe nicht, wie sie gerade jetzt, wo du vor einen großen Zukunft stehst, dir Herz und Gedanken einnehmen kann!«
»Möglich, daß ich nicht wie andere Menschen bin«, sagte Mirinri. »Ich habe doch bisher nichts kennengelernt als das Nilufer, als Palmen, Sanddünen und wilde Tiere. Außer deiner Stimme habe ich nur das Plätschern des Wassers und das Rauschen des Windes gehört. Wie konnte ich gefühllos bleiben einem menschlichen Wesen gegenüber, das weder dir noch mir glich und doch dieselbe Sprache hatte? Du hast mich bisher ferngehalten von Orten, die von Menschen bewohnt werden.« »Ich wollte dich in der Einsamkeit zu deiner hohen Aufgabe erziehen. Du solltest die Liebe noch nicht kennenlernen.«
»Was ist das, Liebe? Ich weiß nur, daß ich Tag und Nacht jene großen Augen vor mir sehe und etwas im Herzen empfinde, das ich mir nicht erklären kann.«
»Diese Empfindung kann dir verhängnisvoll werden und deinen Ruhmesweg hemmen; sie nimmt dem Krieger die Stärke und hindert die Tatkraft. Hüte dich!«
Als sie sieh umwandten und den Weg überblickten, den sie soeben durchwandert hatten, bemerkte Unis einen unheimlichen Schatten auf einem der kleinen Sandhügel.
»Ein Löwe!« rief er erschrocken.
»Der späht schon seit einiger Zeit nach uns«, sprach Mirinri mit Seelenruhe.
»Warum hast du mich nicht aufmerksam gemacht?«
»Wenn es wahr ist, daß ich Kriegerblut in mir habe, warum sollte ich besorgt sein? Mein Vater, der, wie du sagtest, einer ganzen Phalanx von Feinden entgegengetreten ist, würde auch nicht geflohen sein.«
Unis sah ihn von der Seite an, Stolz und zugleich eine gewisse Angst im Blick. »Was willst du tun, wenn er uns angreift?« fragte er.
»Mich vergewissern, ob ich wirklich Pharaonenblut habe, und dir beweisen, daß ich nicht feige geworden bin, trotz der Sehnsucht nach jenem Wesen!«
Und als ob der König der Wüste die Herausforderung verstanden hätte, öffnete er den Rachen zu einem fürchterlichen Gebrüll. Es klang wie ein rollender Donner.
Mirinri nahm das Schwert in die Rechte. Der Priester umklammerte seinen Arm, um ihn zurückzuhalten.
»Du sollst dich nicht der Gefahr aussetzen! Ich bin alt und habe keine Aufgabe mehr zu erfüllen. Greift das Untier uns an, so werde ich ihm entgegentreten. Du brauchst mir keine Probe deines Muts zu geben, denn in deinen Augen sehe ich dasselbe Feuer, das deinen Vater zu Taten zwang!«
Mirinri aber riß sich los und schritt dem Löwen entgegen, der von neuem brüllte und die Flanken mit dem Schwanz peitschte. Jetzt hielt ihn der Alte nicht mehr zurück. Der Löwe erhob sich beim Nahen der Beute aus seiner kauernden Stellung und schüttelte seine dichte Mähne. Es war ein herrliches Tier, stark gebaut und mit rötlichem Fell. Ohne sich nach Unis umzuschauen, trat Mirinri ruhig und unerschrocken der Bestie entgegen. Seine Augen hefteten sich fest auf den Gegner und beobachteten ihn.
Heulend sprang der Löwe in mächtigen Sätzen über die Sanddünen. Er umkreiste die beiden Männer in weitem Bogen, dann immer enger und enger, als ob er nur den Augenblick abwarten wollte, sich auf sie zu stürzen.
Mirinri blieb kaltblütig, beobachtend. Seine Schwertspitze blitzte im Mondschein, während Unis kniend, mit der Waffe in der Hand, den Bewegungen des wilden Tieres folgte. Auf seinem Antlitz lag tiefe Erregung.
Des Löwen Sprünge wurden immer ungestümer. Seine Kräfte schienen sich verdoppelt zu haben. Mirinri erwartete, fest wie eine Bronzestatue, den Angriff. Plötzlich schnellte die Bestie los und warf sich auf die Männer. Ihr Geheul klang wie eine Kriegsfanfare. Sie hatte sich aber nicht den Jüngling als ersten Raub auserwählt, sondern den Alten. Augenscheinlich wollte sie ihm das Rückgrat zerfleischen, doch traf ihre Tatze bei dem Sprung nur seine Schulter.
Jetzt drückte sie ihr Opfer auf den Erdboden nieder, um es hin und her zu wälzen; da fiel Mirinri mit blitzartiger Schnelligkeit über sie. Während er mit der Linken in die dichte Mähne griff, stieß er mit der andern Hand das Schwert bis zum Knauf in den Rücken des Tieres.
Doch war es noch kein vollständiger Sieg. Obgleich schwer verwundet und blutend, hatte der Löwe noch Kraft genug, um zurückzuspringen. In kauernder Stellung schien er den Angriff erneuern zu wollen.
»Sei auf der Hut, Mirinri!« schrie Unis mit angsterfüllter Stimme. Er hatte sich vom Boden erhoben.
Der Jüngling hörte ihn kaum. Mit funkelnden Blicken das Tier fixierend, schritt er mit dem blutigen Schwert darauf zu. Es schien, als ob diese Blicke den Löwen in Bann hielten, so daß er den erneuerten Ansturm nicht mehr wagte.
Mirinri stieß zu. Der Greis sah die beiden Kämpfenden wie durch einen Nebel. Dann hörte er einen Triumphschrei. Als der Schleier von des Priesters Augen fiel, erblickte er Mirinri mit erhobener Stirn. Der Jüngling hatte den Fuß auf den zuckenden Körper des Tieres gesetzt.
Unis atmete auf. Es war sein würdiger Schüler, der Sohn Tetis, der dem Lande der Pharaonen zu Ruhm und Macht verhelfen sollte!
Mirinri wandte sich zu ihm. »So werde ich einst den Usurpator töten, der meinem Vater und mir den Thron geraubt hat. Jetzt zweifle ich nicht mehr!«
»Du bist tapfer. Aber laß uns schnell weitergehen, ich will dir noch andere Beweise geben. Die Sterne erbleichen schon. Auch der Kometenschweif scheint zu erlöschen. Komm!«
Der Jüngling warf noch einen letzten Blick auf den Löwen, der keinen Laut mehr von sich gab, beobachtete einige Sekunden den Kometen und folgte dann dem Priester. Und weiter wanderten sie. Tiefes Schweigen herrschte auf dem dürren, unfruchtbaren Gelände. Die Klage des sterbenden Löwen hatte die Hyänen und Schakale verscheucht.
Endlich unterbrach der Alte die Stille: »Siehst du die Pyramide dort unten? Dein Vater hat sie erbauen lassen.«
Pyramide Die erste Sorge jedes Königs einer neuen Dynastie bestand darin, ein Bauwerk herzustellen, das ihm und seinen Nachkommen als Grabkammer dienen sollte. Er begann sofort nach seiner Thronbesteigung mit der Errichtung. Der Bau diente den Untertanen weniger zur Freude, denn sie wurden gezwungen, sich jahrelang mit harter Arbeit daran zu beteiligen. Der König ließ zunächst eine ganze Provinz entvölkern, und alle Bewohner, gleich welchen Berufs, Handwerker, Arbeiter und Ackerbauer kamen unter die Aufsicht der königlichen Baumeister. Auch Greise und Kinder wurden eingeschrieben, wenn sie auch weniger schwierige Arbeiten zu verrichten hatten. Man betraute sie mit der Zubereitung des Kalkes und mit dem Transport von einzelnen Steinen.
War der erste Schub Handwerker erschöpft oder war ihre Zahl durch die Anstrengungen in dem brennend heißen Klima verringert worden, so wurden die Leute nach Hause geschickt und durch die Bewohner einer anderen Provinz ersetzt. Die Regierung gab diesen Zwangsarbeitern nur die Beköstigung, die hauptsächlich in Rüben und andern Gemüsen bestand. Und doch erforderten auch diese enorme Summen, denn man mußte Tausende und Abertausende beköstigen. (Später setzte man für diese Arbeiten Kriegsgefangene ein. Auf diese Weise wurden all die großen Hochbauten sowie auch unterirdische Gewölbe, Kanäle, Staubecken und Dämme ausgeführt. Menschenarme ersetzten Maschinen.)
Solange der König lebte, wurde die Arbeit nicht unterbrochen. Die Pyramide wurde um so größer, je länger das Leben des Herrschers dauerte. Auf diese Weise ist die Cheopspyramide die größte erhaltene ihrer Art geworden, da ihr Erbauer noch 56 Jahre nach seiner Thronbesteigung lebte. Jede ihrer Fassadenseiten mißt 233 Meter, und ihre Höhe beträgt 137 Meter. Man glaubt jedoch, daß sie einst noch viel umfangreicher und höher gewesen ist.
Wie in den Mastabas, die sich die reichen Ägypter erbauen ließen, gab es auch in den Pyramiden gewundene Gänge, »Serdabs« genannt, in deren Mitte sich die Zella befand, der zur Aufnahme der Königsleiche bestimmte Raum. Um einen Einsturz unter dem Druck der darüberliegenden Steinmassen vorzubeugen, bauten die ägyptischen Architekten über die Zella fünf leere, luftige Kammern, eine über die andere. Die oberste wurde von zwei schräg liegenden Blöcken überdacht, welche bereits dort den Druck der massigen Steinreihen verteilten. In den Pyramiden offenbart sich das Genie der ägyptischen Baumeister des Altertums. Leider wurden die meisten Bauten zerstört, da ihr Material zum Bau von Theben und anderen Städten verwandt wurde.
Mirinri schaute nach Norden und gewahrte eine große, schwarze Steinmasse, die sich dort im Dämmerschein des Morgens gigantisch erhob. »Das Grabmal meiner Dynastie«, sprach der Jüngling, wie zu sich selbst, »wo wir die heilige OsirisblumeOsirisblume Diese erstaunliche Pflanze wurde nach Tausenden von Jahren erstmals von einem Beduinen im Sarg einer ägyptischen Prinzessin gefunden. Er schenkte sie 1818 einem Doktor Deck, der sie nach seinem Tod einem Doktor Lames vermachte. Scheinbar verdorrt, öffnen sich ihre Blüten, wenn man sie mit Wasser befeuchtet. Die Botaniker staunten über diese seltsame Erscheinung und nannten sie »Auferstehungsblume«. Bei den alten Ägyptern aber hieß sie »Blume des Osiris«. finden werden!«
Noch zwei andere Steinmonumente zeichneten sich jetzt am Horizont ab. Der erste lichte Schein der Dämmerung tauchte auf.
»Sind das die Memnonsäulen?« fragte Mirinri.
»Ja. Jetzt ist die Stunde da. Beeilen wir uns! Der Stein ertönt nur im Augenblick, wo die Sonne aufgeht!«