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Sechstes Kapitel.
Dhundia offenbart sich.

Das indische Volk teilt sich in vier wohlunterschiedene Kasten, die nie ineinander verschmelzen können, denn ihre Religion gibt nicht, wie die christliche, jedem Menschen denselben Ursprung.

Man unterscheidet Brahmanen, hervorgegangen aus dem Munde Brahmas; Krieger, aus seinem Arme; Ackerbauer und Kaufleute aus seinem Schenkel und »Sudri« oder Diener, aus den Füßen des Gottes.

Die indische Religion basiert, im Gegensatz zur christlichen, auf völliger Ungleichheit.

Der Indier hat keinen anderen Ursprung, keinen anderen Stamm, als seine Kaste.

Die Teilung zwischen diesen Kasten ist so scharf, so ausgesprochen, daß keine in eine andere aufrücken kann, weder aus Verdiensten, noch Reichtümern, noch sonst einem Grunde.

So könnte ein Sudra, auch wenn er durch Glück reich würde, nie ein Kaufmann werden, denn diese Kaste würde ihn nicht aufnehmen; weder ein Ackerbauer ein Krieger, und dieser nicht, auch wenn er berühmt würde, ein Brahmane, der die hohe indische Aristokratie vertritt, denn sie ist göttlichen Ursprungs.

Alle die, die diesen Kasten nicht angehören, und das sind nicht wenige, sind »Paria«, Menschen, die weder Stamm, noch Vaterland haben, verachtet und verflucht sind, denen sich niemand nähern darf, niemand helfen oder bitten kann, bei Strafe, selbst ein »Paria« zu werden.

Ein Mann, wie mächtig und hochgestellt er sein mag, sei er auch ein Brahmane, der unüberlegt oder aus Mitleid irgendwie mit ihnen in Berührung kommt und ohne es zu wissen, sich eines beliebigen Gegenstandes bedient, der einem jener Unglücklichen angehört, wäre unwiderruflich verloren.

Seine Kaste würde sofort den Bann über ihn verhängen und ihn ausstoßen, eine furchtbare Strafe, denn der Betroffene darf keinen Verkehr mehr mit seinesgleichen pflegen und an der menschlichen Gesellschaft nicht mehr teilnehmen.

Er verliert die Eltern, Freunde, zuweilen auch Frau und Kinder, die ihn eher verlassen, als seine Schande teilen.

Niemand wagt mehr mit ihm zu essen, noch ihm einen Tropfen Wasser anzubieten, eine Heirat seiner Söhne und Töchter ist nicht mehr möglich. Er ist ein wahrhaft Verfluchter, denn alle meiden ihn wie einen Pestkranken, auf den sie in tiefster Verachtung mit Fingern zeigen.

Nicht einmal die letzte Kaste, jene der Diener, würde es wagen, ein so herabgewürdigtes Wesen aufzunehmen, und wäre es früher auch ein Brahmane gewesen. Er ist gezwungen, zu den anderen Paria zu fliehen oder zu den europäischen Stadtvierteln seine Zuflucht zu nehmen, die einzigen Orte, wo er etwas Frieden hat.

Um euch eine Idee von dem Schrecken zu geben, den die »Paria« den verschiedenen Kasten einflößen und von der Härte der auferlegten Strafen derer, die sich ihnen nähern, genügt folgende Tatsache.

Eines Tages kamen fünf Brahmanen durch ein vom Kriege verwüstetes Land. Da sie vor Hunger kaum noch weiter konnten, traten sie in eine Hütte und kochten sich den wenigen Reis, den sie noch hatten in einem Topf, der einem armen »Paria« gehören sollte.

Sie schworen, das Geheimnis zu bewahren. Als sie aber nach Hause kamen, wurden sie von einem ihrer Gefährten angezeigt, der an der Mahlzeit nicht hatte teilnehmen wollen.

Die Angeklagten, die nicht auf den Kopf gefallen waren, drehten die Klage um und schuldigten den Verräter an, daß er allein sich des Topfes bedient habe und schlossen ihn aus ihrer Kaste aus.

Nicht einmal die Frauen entgehen der furchtbaren Strafe, wenn sie mit einem »Paria« irgendwie in Berührung kommen.

Unter den Radschaputen tötet der Vater unerbittlich seine eigene Tochter, die anderen hingegen stoßen sie aus der Kaste, nachdem sie ihr den Kopf geschoren haben.

Man muß jedoch erwähnen, daß dieser Ausschluß nicht immer lebenslänglich ist, zumal, wenn es sich um große Persönlichkeiten handelt. Zuweilen können sie durch schmerzhafte und demütigende Proben Begnadigung erlangen. Dann brennt man dem Betreffenden mit einer glühenden Goldkette die Zunge ab, oder zeichnet ihn mit heißen Eisenzangen, oder läßt ihn über glühende Kohlen, oder einige Mal unter dem Leibe einer jungen Kuh weglaufen, denn diese Tiere sind bei ihnen heilig. Zuletzt gibt man ihnen eine Flüssigkeit zu trinken, die aus fünf Substanzen des Kuhkörpers besteht, nämlich aus dünner und dicker Milch, aus Butter und zwei anderen, weniger sauberen.

So kann man verstehen, in welch furchtbarer Lage sich Indri befand, der Favorit des »Guicowar« von Baroda, der angeschuldigt war, jenen armen »Paria«, der ihn gerettet und sich statt seiner von dem gewaltigen Rhinozeroshorn hatte aufschlitzen lassen, berührt und nach Hause getragen zu haben.

Nach jenem gerechten Zornesausbruch war Toby schweigsam geworden und schaute so verstört drein, daß dies der Aufmerksamkeit des Indiers nicht entgehen konnte.

»Die Sache ist ernst, nicht wahr?« fragte ihn dieser mit einer gewissen Besorgnis.

»Ja, Indri,« antwortete der Ex-Sergeant der Schutztruppe. »Parvati konnte dem ›Guicowar‹ keine gefährlichere Idee eingeben, als diese.

Der Radscha von Pannah hält zuviel auf seinen ›Lichtberg‹ und wird ihn dir um keinen Preis abtreten, da er ja schon die Millionen abgeschlagen hat, die ihm vom Groß-Mogul dafür geboten wurden.«

»Ich weiß, Toby, mir bleibt nur ein Weg offen: ihm den Diamanten rauben und später bezahlen, wenn er beim ›Guicowar‹ in Sicherheit gebracht ist.«

»Und glaubst du, daß das so einfach sein wird?« fragte Toby.

»Im Gegenteil, sehr schwierig, denn ich fürchte, daß meine Feinde den Radscha von meinen Absichten in Kenntnis gesetzt haben, damit mein Unternehmen von vornherein unmöglich wird.«

»Ich dachte es mir, bevor du es aussprachst,« antwortete Toby.

»Ich glaube, Indri, daß dir der Radscha nicht einmal erlauben wird, Fuß auf sein Land zu setzen.«

»Ich bin davon überzeugt und gerade um das zu vermeiden, will ich mir den Anschein eines einfachen Tigerjägers geben und so kam ich zu dir.

Du bist in der ganzen Hochebene bekannt und niemand wird unter der Tracht eines Dieners den Favorit des ›Guicowar‹ vermuten.«

»Dein Gedanke war gut, Indri, du tatest recht daran, auf mich zu zählen.

Das Unternehmen wird tausend Gefahren bergen, vielleicht erwartet uns auch der Tod, aber mein Leben gehört dir, denn ohne dich würde sich heute niemand mehr des Tigerjägers Toby erinnern.«

»Danke, ich war sicher, auf deine Freundschaft rechnen zu dürfen,« sagte Indri, indem er die schwielige Hand des alten ehemaligen Unteroffiziers kräftig drückte.

»Wir werden handeln, ohne Zeit zu verlieren,« antwortete der Engländer nach einem Augenblick des Schweigens, »damit der Verdacht des Radscha nicht wächst.

Heute noch werde ich einige meiner Diener nach Pannah senden, die dort verkünden sollen, daß ich kommen werde, um den ›Menschenfresser‹ zu erlegen.

Wenn wir die Minen erreicht haben, werden wir sehen, was zu tun ist, um den ›Lichtberg‹ in unseren Besitz zu bringen.

Nein, diesen Gauner Parvati werden wir nicht triumphieren lassen und später werden wir ihm den Krieg erklären. Doch eine Sache beunruhigt mich dabei.«

»Welche?«

»Jener Dhundia ist mir im höchsten Grade verdächtig. Ich kann sein Gesicht nicht ausstehen.«

»Hast du ihn dir ausgewählt?«

»Nein, der ›Guicowar‹ teilte ihn mir zu.«

»Und der ›Guicowar‹ wird es auf Parvatis Rat getan haben.«

»Das ist möglich,« antwortete Indri.

»Hattest du bisher Ursache, mit ihm unzufrieden zu sein?«

»Nein, doch habe ich keinerlei Vertrauen zu ihm.«

»Er wird mit Parvati unter einer Decke stecken,« murmelte Toby, der nachdenklich geworden war. »Wir werden ihn aufmerksam überwachen und nie allein lassen.«

»Das wollte ich dir sagen.«

»Kehren wir zum ›Bengalow‹ zurück, um ihn nicht mißtrauisch zu machen, und bereiten wir uns auf die Reise vor.«

»Ist dein Elefant etwas wert?«

»Es ist einer der besten, den der ›Guicowar‹ besitzt.«

»Auf die Jagd dressiert?«

»Ja, Toby.«

»Gehen wir also.«

Er steckte seinen rechten Arm unter den linken Indris und sie gingen zum Zimmer zurück, indem sie ruhig von Jagd und Elefanten sprachen.

Als sie dort ankamen, war Dhundia nicht mehr da, sondern sie fanden ihn unter dem Schatten einer gewaltigen Tamarinde, die vor dem »Bengalow« stand, bequem in einer Hängematte liegen.

»Ich fürchte, daß er nach uns spioniert hat,« murmelte Toby in Indris Ohren.

»Schon möglich; trotzdem glaube ich nicht, daß er es gewagt hat, uns zu belauschen.«

»Wenn er es getan hat, um so schlimmer für ihn. So wird er wenigstens gehört haben, was wir von ihm halten und wird Furcht bekommen, wenn er sich bewacht weiß.«

Sie ließen ihn weiter schlafen und traten in den Stall, wo zwei prächtige Pferde standen, die Indri dem Jäger im vergangenen Jahre geschenkt hatte, sowie zwei Zebu, mit starkem Höcker versehene, kleine Ochsen, die man vor Wagen spannt, da sie die Gangart wie die Esel haben.

Bangawady hatte den Ehrenplatz in der weiten Stallung eingenommen und ruhte auf einem weichen, grünen Blätterlager.

»Es ist wirklich ein schönes Tier,« sagte Toby, der sich darauf verstand. »Kräftig und massig. Wenn den der ›Menschenfresser‹ von Pannah angreifen will, so wird er es mit einem furchtbaren Gegner zu tun haben.«

»Werden wir ihn mit Bangawady jagen?« fragte Indri.

»Nein, der Elefant wird uns nur bei Fährtensuchen dienlich sein. Jene Tiger sind zu verschlagen, um sich am hellen Tage zu zeigen und wir werden gezwungen sein, ihn im Hinterhalte zu erwarten.«

»Wird uns die Jagd gelingen?«

»Der Tod des Tigers ist nötig, um die Aufmerksamkeit des Radscha auf uns zu ziehen. Jener Fürst ist ein prächtiger Mann und man sagt auch, daß er die Mutigen liebt und sie zu sehen wünscht. Ich habe meinen Plan schon gemacht; wir werden sehen, ob er einer Abänderung bedarf. Weißt du, wo man den ›Lichtberg‹ aufbewahrt?«

»Man sagte mir, daß er Wischnu als Auge dient, in einer der größten Pagoden Pannahs; Genaues weiß ich nicht.«

»Das wird schwierig sein,« sagte Indri nachdenklich.

»Jetzt können wir nicht urteilen; wenn wir in Pannah sind, werden wir es erfahren. Laß mich inzwischen zwei meiner Diener in die Minen senden, die meine Ankunft dort ankündigen. Das wird eine gewisse Wirkung hervorbringen, denn ich bin in der ganzen Hochebene nicht unbekannt.«

»Werden sie dich nicht verraten?«

»Sie kennen ja den wahren Zweck unserer Reise nicht; was hast du also zu befürchten? Außerdem sind sie mir treu.«

Er ließ die beiden Pferde satteln, suchte aus seinen fünf Dienern die beiden ergebensten aus, unterrichtete sie über sein Vorhaben und befahl ihnen, in Pannah auf ihn zu warten.

Am Abend führte der Jäger Indri wieder in den Garten, wo er neben der gewaltigen Tamarinde das Abendessen hatte auftragen lassen.

Dhundia hatte erst jetzt die Hängematte verlassen, wo er geschlafen oder wenigstens so getan hatte. Jener lange Schlaf schien ihn schlecht gelaunt zu haben.

»Der Müßiggang bringt mich um,« sagte er zu Indri. »Diese Ruhe macht mich nervös. Ich wäre lieber auf Bangawadys Rücken, als in dieser ruhigen Behausung.«

»Morgen brechen wir auf,« sagte Toby zu ihm, indem er ihn aufmerksam anschaute.

»So schnell?« fragte Dhundia, etwas überrascht.

»So brauchst du wenigstens nicht über Müßiggang zu klagen,« versetzte Indri.

»Dann werden wir morgen Abend in Pannah sein.«

»Ich hoffe es,« antwortete Toby. »Paßt euch das nicht?«

»Doch, Herr. Im Gegenteil, ich kann es kaum erwarten, zu sehen, wie Ihr Euch mit dem ›Menschenfresser‹ messen werdet.«

»Eine Ungeduld, die Euch teuer zu stehen kommen kann, wenn Ihr nicht vorziehen solltet, in Pannah zu bleiben.«

»Nein, liebe ich doch die großen Aufregungen, wie Indri. Außerdem muß ich über seine Sicherheit wachen und gesetzten Falles mein Leben opfern, damit er lebend zum ›Giucoowar‹ zurückkehrt.«

»Danke, Dhundia,« sagte Indri etwas ironisch, »ich hoffe, daß du nicht nötig haben wirst, deine Haut zwischen den Krallen des Raubtiers zu lassen, um mich zu retten.«

»Hier ist Toby und dieser bewährte Jäger wird dem Tiger keine Zeit lassen, bis zu mir zu kommen; nicht wahr, Freund?«

»Im günstigen Augenblick wird mein Schuß nicht fehlgehen,« antwortete der Ex-Sergeant lächelnd.

»Freunde, es ist spät und morgen müssen wir vor Sonnenaufgang aufbrechen. Gehen wir schlafen.«

Er rief einen seiner Diener und ließ die Gäste in die für sie bestimmten Kammern führen, die Türen schließen und verriegeln und die Jagdhunde loskoppeln, um Diebe fernzuhalten, deren es damals auf der Hochebene viele gab.

Als Dhundia sich in seinem Zimmer, was am äußeren Flügel des »Bengalow« lag, allein befand, rieb er sich leise die Hände, wie einer, der mit sich zufrieden ist.

»Sie mißtrauen mir,« sagte er, indem er boshaft lächelte. »Dhundia ist nicht so dumm, um das nicht zu merken.

Ah! Sie wollten nicht, daß ich ihrem Zwiegespräch beiwohnen sollte? Gut, ich sage euch nur, daß ich über euch triumphiere.

Sehen wir vor allen Dingen nach, ob die Leute des Dakoiten auch hier wachen.«

Er öffnete geräuschlos das Fenster, zog die Strohmatte in die Höhe, die als Jalousie diente und spähte nach der dunkeln Ebene, die sich vor dem »Bengalow« ausdehnte.

Er lauschte einige Minuten, dann nahm er die Lampe, trat ans Fenster und hob und senkte sie dreimal.

Nach einer halben Minute sah er zwischen den Ästen eines etwa 300 Meter entfernten Baumes einen hellen Punkt leuchten, der sofort erlosch, um dann noch zweimal aufzublitzen.

»Ich hatte mich nicht getäuscht,« murmelte Dhundia. »Der Dakoit hat einen seiner Gauner hiergelassen.

Es ist gut, daß ich das weiß. So kann ich, bei Gelegenheit, dem Parvati gute Nachrichten zukommen lassen.

Wohlan, das Geschäft geht gut: Tausende von Rupien und Ehren! – – – Wer hätte geglaubt, daß der arme Brahmane Ramghar soviel Glück haben würde?«

Er schloß vorsichtig das Fenster, löschte das Licht aus, warf sich, ohne sich zu entkleiden, aufs Bett und schlief ruhig ein.


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