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Es schlug sechs Uhr abends. Die Stunde, zu der Frau von Mellin ihr großes Ziehkind, den schönen Grenadier, bei sich erwartete. Die junge reizende Frau schritt seit einer halben Stunde aufgeregt in ihrem Boudoir auf und ab, nur von Zeit zu Zeit vor dem großen Trumeauspiegel stehen bleibend, um von Neuem zu sehen, wie anmutig ihr der offene Schlafrock von weißem Mull mit den Rosabändern ließ. Noch ein halbe Stunde verstrich, Iwan kam nicht. Die Ungeduld der schönen Amazone, welche zu befehlen, alles ihrem Winke folgen zu sehen gewohnt war, wuchs von Minute zu Minute. Sie begann Klavier zu spielen. Es schlug sieben Uhr.
Der Oberst-Kommandant sprang zornig auf und schickte in die Kaserne. »Wo bleibt er?« rief sie dem zurückkehrenden Diener entgegen.
»Iwan Nahimoff ist im Arrest.«
»Im Arrest – wer hat gewagt –?«
»Der Herr Kapitän Pauloff hat ihn krummschließen lassen.«
»Krummschließen!« seufzte der weibliche Oberst. »Nun wohl – wir werden sehen!– –«
Als Iwan an dem nächsten Tage pünktlich zur festgesetzten Stunde erschien, fragte Frau von Mellin hastig: »Was hast Du begangen, weshalb hat Dich Dein Kapitän krummschließen lassen?«
»Weil Du – ah! es ist nicht zu glauben, der abscheuliche Tyrann!« rief die schöne Amazone.
»Und bei welcher Gelegenheit bist Du rot geworden?« forschte sie weiter.
»Als Ihre Majestät, die Zarin vorbeifuhr«, berichtete Iwan in aller Unschuld.
»So – dann hast Du es verdient«, stotterte Frau von Mellin; ihre Lippen zuckten unheimlich, ihre dunklen Augen loderten. »Was hast Du rot zu werden, wenn Du die Zarin siehst, gefällt sie Dir so sehr, bist wohl verliebt, was? Weißt Du nicht, daß das ein Verbrechen ist, wenn Du in Deine Kaiserin verliebt bist, ja, wenn Du überhaupt verliebt bist? – Du sollst nur an Deine Flinte denken und an Deine Bücher. O! es giebt indes noch Mittel, Dich zu kurieren, siehst Du hier!« Die eifersüchtige Frau hatte ihren Rohrstock ergriffen und hielt ihn ihrem erschreckten Günstling unter die Nase.
»Verstehst Du mich?«
»Ja, ich verstehe«, sagte Iwan, aber er hatte von der ganzen Sache nichts weiter verstanden, als daß Iwan der Schreckliche und sein Leibwächter, wie sie im Volksliede verkörpert sind, wahre Engel gegen seinen Kapitän und seinen Obersten waren.
»So«, sagte Frau von Mellin, »jetzt wollen wir in Ovid's Kunst zu lieben weiter lesen.« Sie setzte sich auf das kleine Sofa und Iwan auf ein Tabouret zu ihren Füßen. Sie reichte ihm den französischen Ovid. Er schlug das Buch auf, wo das rotseidene Merkzeichen darin lag, und las – aber seine Stimme zitterte.