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Einundzwanzigstes Kapitel.
Im offenen Boot

Richard saß wie betäubt da und starrte auf das Wasser, wo die verkohlten Ueberreste unseres Seehauses trieben. Dann drehte er sich langsam um und sah mich an. Er schien erst durch den Blick auf mein blasses, verstörtes Gesicht wieder zu sich selbst zu kommen, schüttelte sich, rieb sich die Augen und erhob sich. Dann spähte er lange und aufmerksam ringsumher.

»Es ist nichts zu sehen, Richard,« sagte ich schaudernd. So oft ich über das Dollbord des Bootes blickte, erschreckte mich die Nähe der Wasserfläche. In der That, es genügt keine Einbildungskraft, um sich die Versetzung von dem Deck eines Schiffes, selbst eines so kleinen wie die ›Aurora‹, in das Innere eines kleinen Bootes vorzustellen, wo das Wasser nur ein paar Zoll von der Hand entfernt ist und sich von dort aus nach allen Seiten hin wölbt, unendlich wie der Himmel.

Mein Mann sprach die Absicht aus, auf die Kap Verdeschen Inseln zu steuern, deren Entfernung er auf ungefähr vierhundertundfünfzig Seemeilen schätzte.

»Ach, Richard,« rief ich nach einer flüchtigen Berechnung, »selbst wenn wir regelmäßig in der Stunde fünf Meilen segeln könnten, würden wir vier Tage brauchen, um vierhundertundfünfzig Meilen zurückzulegen.«

»Und was ist denn dabei so Besonderes?« rief er in anscheinend sorglosem Tone. »Denke doch 'mal an den alten Bligh, der nach der Meuterei auf der ›Bounty‹ eine Reise von einigen Tausend Meilen in einem kleinen Boot voller Leute machte und sicherer damit fuhr als auf seinem Schiffe. Aber wir brauchen ja auch gar nicht anzunehmen, daß wir zwischen hier und den Kap Verdeschen Inseln keine Schiffe antreffen werden. Vor Sonnenuntergang, mein Schatz, können wir schon sicher und geborgen auf irgend einem großen Tausendtonner sein, unsere Abenteuer erzählen und Gott für unsere Rettung danken.«

Damit sprang er auf, ergriff den kurzen, auf den Duchten festgezurrten Mast, schor das Fall eines kleinen Luvsegels ein und setzte den Mast ein. Nachdem er das Segel gesetzt hatte, kam er mit der Schoot nach achtern, befestigte das Joch am Ruder und brachte das Boot herum, so daß wir die Sonne achteraus etwas an Steuerbord bekamen. Die leichte Brise wehte nun recht von achtern und schien in der That aus der Sonne selber herauszukommen. Es war etwas Feuriges, sandartig Trockenes in diesem Winde, der uns förmlich dörrte. Jedermann, der schon einmal die dem Aequator zunächst liegenden Breitegrade von Afrika kennen gelernt hat, würde aus diesem Winde sofort erkannt haben, daß jener schmorende, barbarische Erdteil nicht weit ab sein konnte. Die See war außerordentlich glatt, nur eben von der Brise gekräuselt, und nur ab und zu zeigte sich eine kleine Schaumflocke. Augenscheinlich war uns ein zweiter wolkenloser Tag bestimmt.

»In diesem Boot brauchst du dich nicht zu fürchten,« sagte Richard. »Das kann nötigenfalls auch einen Sturm vertragen.«

»Was ist in jenem Bündel?« fragte ich und zeigte auf einen kleinen weißen Segeltuchsack, der vorne im Boot lag.

»Zwieback,« antwortete er. »Wenn ich nur in der Kajüte noch etwas länger hätte atmen können, würden wir noch etwas mehr zum Leben haben als trockenes Schiffsbrot. Es hatte aber keinen Zweck, es noch 'mal zu versuchen. Als ich nach dem Steuermann sah und wieder hinaufkam, war ich schon fast erstickt. Ich glaube, mein Kopf wäre auseinandergeplatzt, wenn das Blut nicht geflossen wäre. Was für eine scheußliche Luft!«

Als die Sonne höher emporstieg, wurde die Hitze furchtbar drückend, obgleich, vormittags wenigstens, das Segel seinen Schatten über das Vorderteil des Bootes warf. Wir setzten uns beide dorthin. Richard knüpfte einige Enden Bändselgut an die Jochleinen und verlängerte sie so, daß er gut vorne sitzen und zugleich steuern konnte. Unsere Unterhaltung drehte sich hauptsächlich um die Bark und die Leute und um das letzte unglückliche Ereignis unserer Reise.

»Dein guter Ruf als Schiffskapitän kann aber doch darunter nicht leiden, Richard, wenn Gott unser Leben erhält und wir wieder nach Hause kommen sollten?«

»Das ist schwer zu sagen, Jeß. Ich werde die Geschichte erzählen müssen, und es ist eine höchst seltsam klingende Geschichte. Dein Zeugnis wird als beeinflußt gelten. Andere Zeugen habe ich nicht, daß Steuerleute und Mannschaft zusammen mir entgegengearbeitet haben, obgleich ich, soviel ich weiß, ihnen keinen Grund dazu gegeben habe.«

»Aber beunruhige dich darüber nicht, Jeß,« fuhr Richard fort. »Die Hauptsache ist jetzt, unser Leben zu retten. Wir wollen hoffen, daß dieses schöne Wetter anhält. Vorläufig haben wir eine ganz nette kleine Brise, die uns bis Sonnenuntergang wohl einige Dutzend Meilen vorwärts bringen wird, wenn sie stehen bleibt.«

Er sah mich lächelnd an und streichelte meine Hand. Das konnte mich aber alles nicht über seinen wahren Gemütszustand täuschen. Der Verlust seines Schiffes und nun die Gefahren und Mühsale, denen ich ausgesetzt war, das war zu viel für ihn gewesen. Kein Lächeln konnte den herzbewegenden Ausdruck in seinen Augen verdecken. Sein Gesicht hatte die alte gesunde Farbe vor Kummer verloren. Es sah grau aus und ließ ihn um zehn Jahre älter erscheinen, als er gestern gewesen war. Auch ich sah blaß und verstört aus; ich wußte, es müsse so sein nach all diesen Schrecken und Aengsten.

Noch vor wenigen Stunden hatte ich an Deck der Bark gestanden. Alles war ruhig und sicher gewesen, die See glatt wie ein Spiegel, der Himmel wolkenlos und mit unzähligen Sternen besät. Nicht die leiseste Ahnung hatte ich gehabt von den Gefahren und Schrecknissen, die da kommen sollten. Jetzt saßen wir hier, zwei einsame Gestalten in einem kleinen Boot, ein bloßer Punkt, nur für das Auge Gottes sichtbar. Allerdings waren wir noch nicht unmittelbar von den Qualen des Durst- oder Hungertodes bedroht, aber wir hatten kaum mehr Hoffnung auf Rettung, als die natürliche Liebe zum Leben im Menschen auch in den verzweifeltsten Fällen erregt.

Ich dachte an meinen Vater, unser altes Haus in Newcastle und an die Träume meiner Kindheit. Da blickte ich auf meinen Mann, der sein blasses, sorgenvolles Antlitz niedergebeugt hatte; ich dachte an seine Liebe und an unser totes Kind, und zärtlich schlang ich meine Arme um seinen Hals und rief schluchzend: »Ach, Richard, Gott sei Dank, daß ich bei dir bin!« als ob er meine vorhergehenden Gedanken kennen müßte. Ich glaube, er kannte sie auch. Ohne ein Wort zu sprechen, legte er seinen Arm um meinen Leib und hielt mich so, bis ich aufgehört hatte zu weinen. Dann küßte er mich zärtlich und sagte:

»Jeß, du bist eines Seemanns Weib und hast auch die Gesinnung eines Seemannes. Dieser alte Ozean, den du von Jugend auf geliebt hast, wird dein Vertrauen auf ihn rechtfertigen. Wir werden den Vater wieder sehen, mein Lieb. Wir werden wieder mit ihm am Kaminfeuer sitzen und unsere Abenteuer erzählen. Denke daran, mein Frauchen, daß Gottes Auge über uns wacht, solange wir noch leben und glauben.«

»Ja,« sagte ich, »Gott wacht über uns. Wir sind einander erhalten geblieben. Meine Thränen haben mich erleichtert. Du wirst sehen, Richard, daß ich von jetzt an den Mut nicht wieder sinken lassen werde.«

Kurz vor der Mittagszeit ersuchte mich mein Mann, das Boot zu steuern und untersuchte den Inhalt unseres Brotsackes.

Er gab mir einen Zwieback und füllte die Plumpe mit Wasser. Das war unser Mittag! Daraus machte ich mir übrigens nichts. Ein Schiffszwieback stillte meinen Hunger ebenso gut wie das feinste Diner, und das Wasser war zwar warm, da es in der Sonne gestanden hatte, aber doch süß und trinkbar. Ich erinnere mich nicht, jemals einen so erfrischenden Trunk gethan zu haben.

Die Sonne wurde jetzt fast unerträglich. Es war das Symbol der erbarmungslosesten Grausamkeit – so kam es mir wenigstens vor, die ich zusammengekauert dasaß, meine gequälten, geblendeten Augen mit der Hand beschattend – dieses flammende, stechende, zum Wahnsinn reizende Gestirn, das da hoch über unsern Köpfen stand und seine versengenden Strahlen gerade auf uns herabschoß, als ob der winzige Punkt, den wir in dem mächtigen Ozean bildeten, dazu ausersehen sei, die ganze konzentrierte Glut des in dem tief saphirfarbenen Firmamente schwebenden Feuerkörpers zu empfangen.

Es ließ sich jedoch nichts ändern. Eine günstige Brise wehte; jede Stunde brachte uns den Inseln und der Route der nach der südlichen Halbkugel gehenden Schiffe näher. Einmal hatte Richard schon die Absicht, das Segel einzuziehen und als Sonnensegel zu benutzen. Dann aber meinte er, daß sich die Hitze doch wohl eher ertragen ließe als das Gefühl, müßig auf der weiten See zu liegen und die günstige Gelegenheit einer schönen Brise ungenützt vorübergehen zu lassen. Ich war durchaus derselben Meinung, ja ich hätte lieber die Hitze noch weitere zwölf Stunden ertragen, als die Fahrt unseres Bootes aufgehalten.

Indessen blieb die Sonne auch nicht immer auf demselben Fleck stehen; als sie sich mehr nach Südwesten wandte, warf das Segel wieder etwas Schatten nach vorne. Dorthin setzten wir uns nun. Richard verlängerte die Jochleinen noch etwas mehr, so daß er nun ganz vorne sitzen und trotzdem das Boot steuern und zwar sehr genau steuern konnte.

Der Nachmittag schwand schnell dahin, wie wir am Laufe der Sonne bemerken konnten. Die Brise frischte etwas auf. Jede kleine Woge war bereits, wenn sie sich überschlug, mit einem schaumigen Kamme gekrönt, und der weiße Schaum brach sich am Vordersteven des Bootes, das unter dem stetigen Druck seines Lugsegels jetzt schnell dahinflog. Wir hatten keinen Kompaß; mein Mann konnte also nur nach der Sonne steuern. Dennoch schien er zuversichtlich anzunehmen, daß er den richtigen Kurs halte, und meinte, nach Sonnenuntergang sich nach den Sternen richten zu wollen.

Den ganzen Tag über hielt er die Ruderleinen und übergab sie mir nur, wenn er an den Brotsack oder das Wasserfaß ging. Er erklärte, nicht müde zu sein.

Gegen Abend wurde die Brise etwas flauer, wehte aber immer noch stetig von Osten und hatte Kraft genug, unser Segel voll zu halten. So glitt das Boot sanft über die Meeresfläche dahin, die dasselbe leuchtende Blau zeigte, wie der sich darin spiegelnde Himmel.

Als die Sonne sich der See näherte, sank sie immer schneller. Auf ein paar Minuten bedeckte sich der westliche Himmel mit einem herrlichen Purpurrot, und wir beide benutzten das scheidende Tageslicht, um noch einmal den Horizont abzusuchen.

»Ein wenig mehr Geduld, Jessie,« sagte Richard, als sich unsere Blicke trafen. »Jedenfalls sind wir in solchem Wetter hier ebenso sicher aufgehoben als an Land. Die Nacht schon kann uns Rettung bringen, und wenn nicht, so wäre es wunderbar, wenn wir morgen nicht ein Schiff in Sicht bekämen.«

Ich hatte geglaubt, der Ozean sähe trostloser und einsamer bei Tageslicht aus als des Nachts. Jetzt, wo die Dunkelheit da war, sehnte ich mich nach dem Tageslicht und konnte nicht begreifen, daß die Sonnenhitze mich noch vor kurzem veranlaßt hatte, die Nacht herbeizuwünschen. Die See war schwarz wie Tinte. Nur hier und dort leuchtete wie ein weißes Feuer das Spiegelbild eines größeren Sternes aus dem Wasser hervor. Der Horizont wurde scheinbar enger und ließ den Anblick des Himmels um so wunderbarer erscheinen. Weit über die Wasserlinie hinaus konnte man die Sterne funkeln sehen. Es giebt eine Art von Einsamkeit, die furchtbarer ist als jede andere. Das ist die der schiffbrüchigen Insassen eines kleinen Bootes, weit draußen auf hoher See in einer dunklen, ruhigen Nacht, durch die das ununterbrochene Seufzen des Windes ertönt wie die Klagen einer langen, unsichtbaren Prozession von Geistern. Es war unmöglich, auf die flüssige pechschwarze Fläche längsseit zu blicken, ohne zurückzuschaudern.

Wie jene Nacht verging, wäre ich ebenso wenig im stande zu beschreiben, wie etwa einen wilden, verworrenen, unzusammenhängenden Traum. Am besten erinnere ich mich noch daran, daß mein Mann mich ersuchte, mich auf den Boden des Bootes niederzulegen. Ich weigerte mich, weil ich mich fürchtete, von seiner Seite zu weichen, und weil ich unmöglich hätte schlafen können, während er allein und totmüde wachen und steuern sollte. Ich weiß, daß wir von der Mannschaft der ›Aurora‹ sprachen und Vermutungen aufstellten, welchen Kurs das große Boot steuern möge. Gegen elf Uhr – nach der Taschenuhr meines Mannes – schlief ich jedoch ein wie ein kleines Baby mit meinem Kopf an seiner Schulter.

Mein Teurer ließ mich schlafen, so lange ich wollte. Drei Stunden lang schlummerte ich so, während er auch nicht die leiseste Bewegung machte, um mich nicht zu stören; als ich erwachte, saß er noch immer unbeweglich wie eine Holzfigur und hielt mich fest. Der Wind wehte noch immer sanft vom Steuerbordquarter her, und das Boot segelte seinen richtigen Kurs nach den Sternen. Der Schlaf hatte mir wohlgethan, und ich bat meinen Mann, sich auch etwas Ruhe zu gönnen und meine Schulter als Kopfkissen zu benutzen, wie ich es mit der seinigen gemacht hatte. Er wollte zuerst nicht; ich bestürmte ihn jedoch, erklärte, daß ich ein Boot ebenso gut steuern könnte wie er und versprach, ihn zu wecken, sobald das geringste Anzeichen einer Witterungsänderung einträte oder irgend ein anderer Umstand es verlangte.

Schließlich fügte er sich, zeigte mir einen hellen Stern und trug mir auf, das Boot so zu steuern, daß dieser Stern stets über dem Mast, lieber etwas nach rechts als nach links stände, da wir so genau als möglich nach Nordwest steuern wollten und der Stern uns mehr nach Westen führen würde, wenn wir seiner Bahn allzu genau folgten. Dann legte er seine Wange an meine Schulter und war gleich darauf fest eingeschlafen. Er atmete tief, aber regelmäßig. Es war nicht besonders schwierig, das Boot auf dem richtigen Kurse zu halten; zuweilen fiel es vor der sanften, langgezogenen Dünung etwas ab. Viel Ruder aber brauchte es nicht, und – abgesehen von einem geringen, in langen Zwischenräumen wiederkehrenden Gieren – hielt ich den hellen Stern am Mast fast so stetig, als ob er eine zwischen der Mastspitze und der kleinen Raa aufgehängte Laterne gewesen wäre.

Ich weiß nicht, ob irgend eine Frau jemals vor mir eine solche Wache gehalten hat. Manchmal erscheint es mir in der Erinnerung wie ein schwerer, böser Traum, und doch war es volle Wirklichkeit. Trotz alledem kann ich zu Zeiten kaum glauben, es wirklich erlebt zu haben. Und dennoch brauche ich auch wieder nur die Augen zu schließen, und die schwarze See, die grauenhafte Stille der Nacht und der schwache, phosphoreszierende Schein auf der geräuschlosen Dünung, alles ist mir wieder gegenwärtig. Mein Mann schlief zwei Stunden lang. Dann erwachte er und weigerte sich auf das Entschiedenste, noch länger zu ruhen.

»Nein, nein,« sagte er, indem er seine Uhr vor das Gesicht hielt und im Sternenschimmer die Zeit ablas, »zwei Stunden Schlaf sind genug. Ich fühle mich wie neugeboren. Es ist halb fünf; bald wird der Tag anbrechen.« Damit rieb er sich die Augen, erhob sich und reckte sich und blickte aufmerksam in die Dunkelheit über dem Luvquarter. Dann spähte er langsam im Halbkreise umher bis an den Luvbug des Bootes und begann von neuem mit der anderen Hälfte des Horizonts achteraus in Lee. Als er bis auf ungefähr einen und einen halben Strich weiter voraus als querab in Lee gekommen war, hielt er plötzlich inne. Mir fiel die Pause auf, und ich rief:

»Was siehst du denn dort im Dunkeln, Richard?«

»Sieh, wohin ich zeige,« erwiderte er atemlos, indem er den Arm ausstreckte, der sich deutlich von den Sternen über dem Horizont abhob; »ist das dort ein Schatten?«

Ich blickte angestrengt hinüber. Zuweilen glaubte ich eine Art von Flecken in der Dunkelheit zu erkennen, der aber sofort wieder zu verschwinden schien.

»Ich weiß nicht,« antwortete ich; »zuweilen glaube ich etwas zu sehen.«

»Aber ich sehe es!« rief er. »Ich kann mich gar nicht irren. Steuerbord das Ruder, Jeß – so, das genügt. Ja, ich kann es jetzt deutlich sehen. Es muß ein Schiff sein.«

Auf die veränderte Ruderstellung hin bekamen wir den Gegenstand, den er zu sehen meinte, recht voraus und den Wind recht von achtern. Richard fierte die Schoot auf und bäumte mit einem Riemen das Segel aus, damit jeder Zoll mit ziehen sollte. Dann ging er nach vorne, indem er mir die Jochleinen überließ, und kauerte sich dort nieder. Dabei blickte er fortwährend voraus.

Eine volle Viertelstunde mochte vergangen sein, ohne daß mein Mann irgend ein Zeichen gab oder seine Stellung veränderte. Jetzt rief er plötzlich mit lauter vor Erregung zitternder Stimme:

»Das ist ein Schiff, Jessie! Und wir kommen ihm näher!«

Dann kam Richard nach achtern und rief: »Sieh, dort bricht der Tag an. Sobald die Sonne aufgeht, müssen sie uns in Sicht bekommen. Ach, mein Lieb! Dank sei dem allmächtigen Gott um deinetwillen, mein Kleinod!«

Ich ergriff seine Hand und küßte dieselbe, und während ich sie fest in der meinigen hielt, brach hinter uns die Dämmerung an. Als ich zum Himmel über unserer Mastspitze emporblickte, sah ich das grünliche Tageslicht sich ausbreiten wie einen vom Winde westwärts gewehten Dunstschleier. Das Wasser blieb schwarz, selbst als auch bereits der westliche Himmel von dem im Osten anbrechenden Lichte erhellt war. Als ich mich niederbeugte, erblickte ich unter dem Unterliek des Segels hindurch an dem bleichen Himmel, gegen den sich die kohlschwarze Wasserlinie scharf abzeichnete, den Umriß eines kleinen Schiffes in ungefähr drei bis vier Meilen Entfernung. Noch war es in die Schatten der Dämmerung gehüllt, stand aber doch scharf und klar da.

»Siehst du es jetzt, Jeß?« rief mein Mann.

Ich antwortete flüsternd: »Ja.« Kaum war ich im stande, das Wort auszusprechen bei dem wilden Aufruhr aller meiner Gefühle, den der Anblick des Schiffes in mir erregt hatte.

Jetzt stieg die Sonne gerade hinter uns empor. Jedermann, der an das allmähliche Heranbrechen des Tages gewöhnt ist, würde die Schnelligkeit zauberisch vorgekommen sein, mit welcher das Tagesgestirn der Dämmerung folgte. In dem Scheine der Sonne bemerkte ich, daß das voraus befindliche Schiff eine kleine Brigg sei. Sie lag ziemlich tief im Wasser und war mit einem weißen, von schwarzen Stückpforten unterbrochenen breiten Streifen an den Seiten bemalt.

»Sicherlich sieht sie uns, Richard! Hat sie nicht beigedreht, um auf uns zu warten?« rief ich aus und sprach vor lauter Herzklopfen, als ob ich außer Atem wäre.

Er antwortete nicht, sondern beobachtete fast unausgesetzt das Schiff.

»Da ist etwas nicht in Ordnung,« sagte er wie zu sich selber. »Sieh ihre Raaen! Vorne sind sie Vierkant gebraßt, und das Großmarssegel liegt back. Wenn sie sich überhaupt bewegt, treibt sie über Steuer. Siehst du den Außenklüver vom Baum ins Wasser herabhängen? Was kann der Mannschaft fehlen? Es sieht aus, als ob die Brigg schon längere Zeit sich in diesem Zustande befindet und nicht erst seit Tagesanbruch.«

Das Schiff wuchs immer schneller, als wir direkt darauf lossteuerten und von der sanften Brise, die, seit wir uns in dem Boote befanden, fast ununterbrochen und stetig von Osten her geweht hatte, dahin getrieben wurden. Das helle Licht eines wolkenlosen Tages lag jetzt über dem ganzen Gesichtskreise, und wir konnten jede Einzelheit an der Brigg deutlich erkennen. Es war oben offenbar nichts in Unordnung. Keine Spiere, keine Raa fehlte, und doch verlieh die seltsame, ungeschlachte Art, mit der die Raaen gebraßt waren, dem Fahrzeuge ein trübseliges, selbst wrackähnliches Aussehen. Die meisten Brassen waren lose und hingen in Buchten herab. Das Pikfall war gleichfalls losgeworfen, und die Gaffel hing auf den Falten des Segels. Von der Klüverbaumnock hing der Außenklüver bis in das Wasser hinab. Es machte den Eindruck, als ob das Schiff von einer Anzahl von Nichtseeleuten bemannt sei, die alles mögliche versucht und schließlich aus purer Verzweiflung darüber, daß sie den richtigen Gebrauch aller dieser Taue nicht kannten, es aufgegeben hätten, das Schiff noch länger zu bedienen. So genau und aufmerksam wir die Brigg beobachteten, wir konnten nicht das geringste Zeichen von irgend einem lebenden Wesen an Bord wahrnehmen.

»Kann sie etwa verlassen sein?« rief Richard. »Aber weshalb? Ihr Rumpf scheint gut und stark. Es ist nichts als die merkwürdige Art, wie die Raaen stehen, wodurch sie dieses unglückliche Aussehen erhält. Auch sehe ich kein Notsignal.«

Als wir näher herankamen, wurde es immer klarer, daß, soweit das Schiff selber in Betracht kam, kein Anzeichen von Havarie zu erblicken sei. Die Brigg schwamm leicht auf dem Wasser, und nichts in ihrem ganzen Aeußeren deutete auf etwaige Ursachen, derentwegen sie verlassen sein könnte.

Jetzt zog mein Mann den Riemen ein, mit dem er das Segel ausgebreitet hatte, und als wir fast längsseit waren, fierte er das Segel herunter und stellte sich vorne in den Bug, indem er mir zurief, so zu steuern, daß das Boot mit der Breitseite neben die Großrüsten der Brigg liefe. Das that ich, und nachdem er die Fangleine an den Rüsten festgemacht hatte, sprang er hinauf, half auch mir aus dem Boot, und wir beide stiegen an Deck.


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