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Unsere Flitterwochen brachten wir in London zu. Mein Mann hatte sich verpflichtet, an einem bestimmten Termin das Kommando eines Schiffes zu übernehmen, daher standen uns nur zehn Tage zur Verfügung. Wir hatten zweimal in einer Woche Londoner Nebel, dazu kam unser Mangel an Lokalkenntnis, so daß ich herzlich wenig von London zu sehen bekam. Oft brauchten wir Stunden, um irgend einen Ort ausfindig zu machen, und wenn wir ihn gefunden hatten, stellte es sich zuweilen heraus, daß es gar nicht der Mühe wert war.
Natürlich besuchten wir die Westminsterabtei, den Tower, die Kathedrale von St. Paul, das britische Museum, lauter Orte, von denen die Leute aus der Provinz gewöhnlich mehr wissen als die Londoner. Bei einer Unterhaltung, die Richard eines Tages mit einem Londoner Herrn hatte, stellte sich heraus, daß der Betreffende alle Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt, die mein Mann erwähnte, nur vom Hörensagen kannte.
Unsere zehn Tage waren um, und wir kehrten nach Newcastle zurück. Ich verließ London durchaus nicht ungern – wahrscheinlich würde ich mich irgendwo anders mit meinem Manne ebenso gut oder vielleicht noch besser unterhalten haben – aber ich freute mich auch nicht gerade besonders darauf, nach Newcastle zurückzukommen. Der Blick auf die Außenwelt hatte mich nicht befriedigt, sondern nur begierig gemacht, mehr davon zu sehen, und wenn ich Newcastle in Gedanken mit London verglich, schien die alte hübsche Stadt zusammenzuschrumpfen. Nach den meilenlangen Häuserreihen der Hauptstadt kam sie mir nur noch wie ein anständiges Dorf vor.
Der Vater empfing uns sehr herzlich. Wir kamen des Abends an. Ein gutes Abendbrot stand für uns bereit, im Schlafzimmer brannte ein helles Feuer, kurz, alles war mit echt hausfrauenartiger Voraussicht angeordnet.
Jedesmal, wenn ich das Zimmer verließ und wieder hereinkam, herzte und küßte mich Vater wie bei meiner Ankunft. Seine Herzlichkeit und gute Laune war in der That ansteckend. Während der ganzen Heimreise war ich niedergeschlagen gewesen; denn jetzt, wo unsere kurzen Flitterwochen vorbei waren, fiel mir der Gedanke schwer aufs Herz, daß in wenigen Tagen mein Mann Abschied nehmen mußte. Der frohe und freudige Empfang meines Vaters übte indessen auch seinen Einfluß auf meine Stimmung aus und machte mich wieder hoffnungsfreudiger. Schon sein Anblick, das rote, strahlende Gesicht, die guten Augen, das gewinnende Lächeln war so gut wie Medizin für mein trauriges Gemüt.
Wir saßen noch spät beisammen und entwarfen Pläne für die Zukunft. Vorläufig sollte ich jedenfalls noch bei meinem Vater wohnen bleiben.
»Du brauchst weder jetzt noch künftig,« erklärte der Vater meinem Manne, »davon reden, für deine Frau eine Wohnung zu mieten. Alles, was ich besitze, gehört Jessie, und was Jessie hat, euch beiden. Ueber kurz oder lang werde ich wohl ausziehen müssen; denn man spricht davon, daß die Stadtverwaltung sich mit neuen Bauplänen beschäftigt. Solange ich jedoch keine Kündigung erhalte, betrachten wir dieses alte Dach als unsere Heimat und bleiben darunter. Wenn die Zeit kommt, wo ich hier vertrieben werde, dann werde ich sehen, ob mir die Idee, nach Shields zu ziehen, mit der ich mich schon lange herumgetragen habe, noch gefällt.«
»Wenn es nicht ihretwegen wäre, Kapitän, könnte Jeß mit mir zur See gehen,« meinte Richard. »Aber so schwer auch der Abschied ist, ich lasse sie doch mit leichterem Herzen zurück, als ich sie mit auf See nehmen würde. Die See ist doch keine passende Heimat für eine Frau.«
»Nun, das will ich nicht sagen,« antwortete Vater kopfschüttelnd. »Die See paßt wohl auch für Frauen, aber sehr wenig Frauen passen für die See. Jeß ist eine Ausnahme. Sie ist eine kleine Teerpütze in Unterröcken. Ziehe ihr ein paar Hosen an, und ich stehe dafür, daß sie ein Großroyal mit jedem Leichtmatrosen um die Wette fest macht und ordentlich hafenmäßig dazu. Das ist also nicht der Grund. Ich kann sie aber nicht auf einmal so ganz weggeben. Allmählich, nach und nach muß ich mich erst daran gewöhnen. Wenn du nach Hause kommst, mußt du öfters Ausflüge mit ihr unternehmen. Ihr geht dann auf einen Tag hierhin, auf eine Woche dorthin, und so werde ich allmählich lernen, mich ohne sie zu behelfen. Dann kannst du sie auch mit auf See nehmen.«
»Jessie, mein Lieb,« sagte Richard, »sobald ich das Kommando über ein richtiges Schiff erhalte, kommst du mit. Aber so eine Art von Kahnschifferfrau will ich nicht aus dir machen, und viel was anderes würde die Sache nicht sein, wenn ich dich auf irgend einem alten Geordie unterbringen wollte, dessen Ruderpinne bis in die Kajütskapp hineinreicht und der bis auf einen Zoll vom Schandeckel im Wasser liegt.«
»Gut, Richard; der Vater weiß, daß ich ihn liebe, und du weißt, daß ich dich liebe. Ich will euch beiden gehorchen; aber dann müssen auch meine Wünsche berücksichtigt werden. Ich bleibe vorläufig zu Hause, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß ich später mit dir zur See gehe und zwar solange, bis du aufhörst, zu fahren.«
Er küßte mich und fragte mich flüsternd, ob ich denn nicht glaube, daß es ihm tausendmal lieber sei, wenn ich ihn jetzt gleich begleiten könnte. Dann erinnerte er mich daran, daß wir beide dem Vater versprochen hätten, ich würde ihn vorläufig nicht verlassen. Außerdem erklärte er: »Selbst wenn Vater damit einverstanden wäre, daß du mich begleitetest, auf der ›Phantasie‹ – das war der Name seines Schiffes – befindet sich doch kein einigermaßen für dich geeignetes Logis, wenn sie auch in ihrer Art ganz gut ist.«
Ich konnte natürlich durch seine Weigerung, mich mitzunehmen, nicht enttäuscht sein, da ich ja, wenigstens für das erste Jahr unserer Verheiratung, nicht darauf gerechnet hatte, ihn auf See zu begleiten. Und doch hätte ich nicht geglaubt, wie unendlich viel schwerer mir der Abschied von meinem Manne fallen würde, als einstmals der von meinem Bräutigam. Ich lag die ganze Nacht hindurch wach und weinte bis zum frühen Morgen, während er friedlich an meiner Seite schlummerte. Als ich im Lichte des anbrechenden Tages sein Gesicht betrachtete, beherrschte mich der bittere Gedanke an die nahe Trennung in solchem Grade, daß ich mir wie ein treuloses Weib vorkam. Ich hätte taub für des Vaters und Richards Wünsche in betreff meines Zurückbleibens sein müssen; wo mein Mann auch hinging, ich hätte ihn begleiten sollen. Das schien mir die einzig richtige Art zu sein, wie man die bei der Trauung abgelegten Gelübde aufzufassen habe.
Der Tag kam heran, wo Richard mich umarmte und mir Lebewohl sagte. Den Abschied will ich übergehen. Richard segelte nach dem Golf von Mexiko und viele Wochen mußten vorübergehen, ehe wir uns wiedersehen konnten.
So manche Frau wird verstehen, was ich fühlte, als die Thür sich hinter ihm geschlossen hatte und ich nun dastand und seinen verhallenden Schritten lauschte, als er mit dem Vater die Straße hinabging. Selten nur kommen andere Frauen in eine solche Lage wie die von Seeleuten oder Soldaten. Am häufigsten trifft es die Seemannsfrauen; das gilt für die Kajüte wie fürs Volkslogis; denn nur noch selten hört man jetzt, daß ein Kapitän seine Frau mit zur See nimmt. Hunderte von Schiffern und Steuerleuten würden es nur zu gerne thun, aber die Reeder sind gegen diese Sitte, die einst fast allgemein war. Die Gründe, die sie dafür haben mögen, scheinen etwas unklar; denn sicherlich wird doch dem Führer durch die Anwesenheit seines Weibes die Sicherheit des Schiffes ans Herz gelegt, und er erfüllt infolgedessen um so umsichtiger seine Dienstpflichten.
Als mein Mann fort war, begann mein altes Leben wieder; ich half dem Mädchen, besorgte das Haus und that so viel ich konnte für des Vaters Bequemlichkeit. Meine Heirat kam mir wie ein Traum vor. Manchmal, wenn ich allein in dem alten Wohnzimmer saß und an die Vergangenheit dachte, konnte ich kaum glauben, daß die Hochzeit in der St. Nikolauskirche und das Frühstück in den ›Drei indischen Königen‹ wirklich stattgefunden habe, daß die Reden dort wirklich gehalten worden wären, und daß auch unser Ausflug nach London nicht bloß auf Einbildung beruhe. Selbst mein Trauring kam mir zuweilen märchenhaft vor.
Die Zeit vergeht indes, ob fröhlich oder traurig, schnell genug, und dem Himmel sei Dank, daß es so ist. Monate vergingen und fast genau zu der Zeit, die er vorherbestimmt hatte, kehrte Richard zurück.
Diesmal blieb er sechs Wochen bei mir. Ich werde meine Geschichte nicht durch die Beschreibung unseres Wiedersehens oder der Art, wie wir diese sechs Wochen verlebten, unterbrechen. Der nächste Abschied war erträglicher, da Richard nur eine kurze Reise nach dem Mittelmeer unternahm, von der er bald zurückkehrte. Er machte noch zwei kurze Reisen und ging dann wieder auf einige Monate aus.
Während seiner Abwesenheit auf dieser Reise wurde uns ein kleiner Sohn geboren. Hätte eben mein Gesundheitszustand mich nicht daran verhindert, so würde ich ihn diesmal begleitet haben. Seine erste lange Abwesenheit hatte meinen Widerwillen gegen eine zweite derartige Trennung vermehrt; doch sowohl er wie der Vater erklärten sich in Anbetracht meines Zustandes dagegen, und so ergab ich mich schließlich darein.
Mein Baby kam ungefähr sechs Wochen, nachdem sein Vater abgesegelt war, zur Welt. Es war ein tüchtiger Junge mit großen Augen und dem süßesten Gesichtchen, das sich ein Mutterherz vorstellen kann. Ich glaube kaum, daß es jemals eine Mutter gegeben hat, die stolzer auf ihr Kind gewesen ist, als ich auf das meinige. Und mein Vater erst! Seine Freude und sein Stolz waren wirklich rührend. Fortwährend schlich er sich an die Wiege heran, um hineinzuschauen oder er stand vor mir, wenn ich meinen Liebling auf dem Schoße hatte und bat mich, ihn auf den Arm nehmen zu dürfen.
Die Zeit verging; in vierzehn Tagen sollte Richard zurückkehren. Von Tag zu Tag wurde mein Kleiner größer und klüger. Schon schaute er mich mit seinen großen schönen Augen ganz vernünftig an, und fast täglich wußte er mich durch irgend einen neuen Beweis von Babyfröhlichkeit zu erfreuen. Kurz, er wuchs mir, wenn das möglich gewesen wäre, noch immer mehr ans Herz.
Doch im Umsehen, möchte ich sagen, war dieser Stern meines Lebens verschwunden, vierzehn Tage vor der Ankunft meines Gatten.
Ich hatte das Baby, welches fest in der Wiege schlief, verlassen und saß mit meinem Vater beim Thee, als plötzlich die Wärterin totenbleich ins Zimmer stürzte und mir zurief, daß der Kleine ersticke. Ich rannte die Treppe hinauf, der Vater hinter mir her. Da lag mein Kleiner in Krämpfen. Ich schickte das Mädchen zum Arzt, ergriff mein Kind und drückte es, halb betäubt vor Kummer und Schrecken, an meine Brust. Mein Vater stand hilflos und gebrochen daneben. Keines von uns wußte, was zu thun sei. Es schien eine Ewigkeit, ehe der Arzt kam. Er bemühte sich sofort, mein armes Kind ins Leben zurückzurufen. Es war zu spät. Noch jetzt ist es mir unmöglich, ohne Thränen daran zu denken. Kaum vor einer Stunde hatte ich mein Baby noch fest und gesund schlafend verlassen; jetzt lag es tot in demselben kleinen Bett, und ich saß daneben – zerschmettert, thränenlos, betäubt durch diesen plötzlichen, furchtbaren Schlag.
Meines Vaters Kummer war groß, doch war er schon zu alt, um lange zu trauern. Die Todesfälle derer, die er liebte, bedeuteten für ihn nur Meilensteine, die ihn daran erinnerten, daß auch sein Weg bald vollendet sein würde. Es war, als ob Gottes Stimme zu ihm gesprochen habe, und diese Auffassung milderte seinen Schmerz um die Toten.
Am Tage vor dem Begräbnis stand ich, mehr einer Bildsäule von Stein als einem lebenden Weibe ähnlich, neben dem Sarge meines kleinen schönen Lieblings. Ich hatte versucht, zu beten. Es gelang mir nicht. Ich konnte nur dastehen und das friedliche Gesichtchen betrachten, das dort auf weichen Kissen gebettet ruhte und ohne eine Thräne in den Augen auf das kleine Köpfchen mit dem goldig schimmernden Haar starren.
Der Vater trat zu mir heran und ergriff meine Hand. Ich bewegte mich nicht.
»Jessie, teures Kind,« begann er mit sanfter Stimme. »Mein Leben hätte ich darum gegeben, wenn ich unser Baby hätte erhalten können. Das weiß der barmherzige Gott. Jetzt aber, wo es dahin ist, würde ich es nicht zurückrufen wollen. Es ist gut aufgehoben. Wir wissen ja, wo es ist, Jessie; bedenke, was ihm alles dadurch erspart bleibt, daß es diese Welt schon als Kind verlassen hat. Es ist frei von Sünde; Kummer, wie du ihn jetzt fühlst, kann es nimmermehr erreichen.«
Er küßte mich, und dieser Kuß und seine sanfte Teilnahme riefen einen Thränenstrom bei mir hervor, als ob mein Herz brechen wollte. Er führte mich hinweg. Seine Worte gereichten mir damals nicht zum Trost; sie berührten mich, die ich mich nach meinem verlorenen Liebling sehnte, mit Eiseskälte. Jetzt weiß ich, daß er die Wahrheit sprach, und wenn ich auch heute noch, nach zwanzig Jahren, nicht ohne nasse Augen an meinen Kleinen denken kann, so würde ich doch, wenn ich nur zu sprechen brauchte, um ihn aus seinem Grabe hervorzurufen, das Wort nicht sprechen, sondern würde Gott dafür danken, daß er ihn in jenen unschuldigen ersten Stunden seines Lebens zu sich genommen hat.