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So spät ich auch zu Bette gegangen war, so lag ich doch noch lange wach. Der Tag hatte zu viel Aufregung gebracht, aber ich muß ehrlich gestehen, daß noch ein anderer Grund den Schlaf verscheuchte. Es waren die Gedanken an den schmucken Seemann, der uns am nächsten Tage besuchen sollte, oder richtiger heute schon, denn ich hörte die St. Nikolas-Uhr eins schlagen, als ich noch immer meinen Gedanken nachhing.
Ich glaube, daß viele Mädchen, die ein ruhiges Leben führen und in regelmäßiger Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten unmerklich den Kinderschuhen entwachsen, plötzlich wie durch Offenbarung zu dem Bewußtsein kommen, daß sie nicht mehr Backfische, sondern reife Jungfrauen sind. Oft kommt diese Entdeckung infolge aufkeimender Liebe. Bei mir kam sie zum Teil durch die leicht hingeworfenen Worte meines Vaters, zum Teil durch die jetzt gegebene Möglichkeit, einem Manne zu begegnen, der sich in mich verlieben könnte. Bis dahin war es mir nie voll zum Bewußtsein gekommen, daß ich kein kleines Mädchen mehr sei. Als ich so in meinem dunkeln Schlafzimmer lag und darüber nachdachte, daß ich nun schon zwanzig Jahre alt sei, fand ich diese Zahl sehr bedeutungsvoll. Wie ein Mensch, der in einem Boote einschläft, beim Erwachen merkt, daß ihn der Strom tief in die See hinausgetragen hat, so erwachte ich aus dem ruhigen Traum meines Lebens. Ich erkannte, daß ich unbewußt weitab von den Grenzen der Kindheit getrieben war und sanft auf dem großen Ozean der Zeit schwamm.
Solche Gedanken erfüllten mich mit Freude, was sie, wäre ich älter gewesen, wohl kaum gethan hätten. Nachdem ich mir das Gesicht und die Gestalt des Steuermanns Fowler auf die verschiedenste Art ausgemalt hatte, kam ich zu meiner eigenen Person und fragte mich, ob er mich wohl hübsch finden würde. Ich glaubte es zu sein, obgleich ein Mädchen über diesen Punkt erst Gewißheit erhält, wenn ihm die Männer jeden Zweifel benehmen.
Wenn ich sage, daß ich hübsch war, daß ich rötlichbraunes Haar, graue Augen hatte, daß meine Gestalt gut, etwas über mittelgroß, vielleicht etwas zu derb und meine Haltung so gerade war, daß Fremde glauben konnten, ich hätte eine sehr hohe Meinung von mir, denn Freunde, die mich kannten, hätten mich nie für eingebildet gehalten – wenn ich das und noch viel mehr sage, und wenn es zehnmal mehr zu sagen gäbe, so hätte ich damit doch nichts gesagt. Ein einziges charakteristisches Merkmal, eine eigentümlich geformte Nase, ein Punkt, der mit wenig Worten angedeutet werden kann, kommt oft der Phantasie mehr zu statten als viele Seiten einer genauen Beschreibung, die oft nur leere Worte enthält.
So lag ich fast zwei Stunden wach, eigentümlich froh gestimmt und immer neue Zukunftsbilder entwerfend, bis ich die Turmuhr zwei schlagen hörte und mich ärgerte, zu einer so unvernünftig späten Stunde noch wach zu sein. Ich legte mich auf die Seite und schlief ein.
Eine Hand, die sich auf mich legte, weckte mich leise. Ich öffnete die Augen und sah meinen Vater, nur im Hemd und Beinkleidern, am Bette stehen. Es war schon heller Morgen und die Sonne schien strahlend ins Fenster. Sobald ich bei vollem Bewußtsein war, bemerkte ich einen schrecklichen Ausdruck des Schmerzes auf seinem Gesicht.
»Steh schnell auf, Jessie,« sagte er; »etwas Furchtbares ist geschehen. Wenn du angekleidet bist, komm in unser Schlafzimmer.« Nachdem er diese Worte mit schwacher, kaum vernehmbarer Stimme gesagt hatte, verließ er mich.
Ich konnte mir nicht vorstellen, was ihn so vollständig niederdrückte. Schnell kleidete ich mich an; mein Herz schlug so heftig, daß ich fast ohnmächtig wurde; dann eilte ich durch den Gang nach meiner Mutter Schlafzimmer. Mein Vater stand am Fenster; er wandte sich um, als ich eintrat, zeigte auf das Bett und sagte: »Sie hat uns verlassen, Jessie!« –
Ich trat an das Bett und sah meine Mutter, wie schlafend, mit dem Gesicht nach der Wand gekehrt, liegen. Sie hätte nicht friedlicher aussehen können, wenn sie der Schlaf und nicht der Arm des Todes umfangen gehalten hätte, ein so glücklicher, zufriedener Ausdruck lag auf ihrem Antlitz und verlieh ihm eine wunderbare Lieblichkeit. Obgleich ich nie im Leben einen Toten gesehen hatte, erkannte ich sofort, daß alles aus war. Starr vor Schrecken lehnte ich mich über das Bett; mein Atem schien zu stocken, so herzbrechend war dieser furchtbare, unerwartete Anblick. Als nun der Vater leise zu mir trat und mich in seine Arme nahm, da verbarg ich mein Antlitz an seiner Brust und weinte, wie ich nie zuvor geweint hatte.
Mein Vater hatte, ehe er mich weckte, das Mädchen zu dem Arzt gesandt, der in unserer Nähe wohnte. Er kam einige Minuten später, untersuchte meine Mutter aufmerksam und sagte, daß sie schon seit einigen Stunden tot und daß die Ursache ohne Zweifel ein Herzschlag sei. Dies erwies sich später als richtig, aber ich wünschte, er hätte es nicht gesagt. Mein Vater brach bei seinen Worten völlig zusammen, so furchtbar war ihm der Gedanke, daß er ruhig geschlafen hatte, während sein Weib als Leiche neben ihm lag. Ich kniete neben ihm nieder und bemühte mich, ihn zu beruhigen, während ich ihn immer wieder bat, mich, die ich jetzt keinen Freund außer ihm hätte, in seinem Gram nicht zu vergessen.
Der Arzt sprach ihm auch freundlich zu, und nach einem Weilchen verließen wir das Zimmer und gingen hinunter. Der Anblick der alten Wohnstube mahnte uns mit grausamer Schärfe an unseren Verlust. Jeder Gegenstand erinnerte an die Mutter, und ich wagte kaum, nach dem Stuhl zu blicken, in dem sie gewöhnlich saß und strickte.
Es ist wohl begreiflich, wenn wir Gott bitten, uns unsere Lieben nicht durch einen plötzlichen Tod zu rauben. Eine längere Krankheit bereitet allmählich vor; wir gewöhnen uns daran, die vertraute Gestalt nicht mehr da zu sehen, wo wir sonst ihrer Gegenwart sicher waren. Ihr Stuhl stand leer, ihr Platz bei Tische war frei, als sie noch bei uns weilte. Kommt aber der Tod so plötzlich, so haben wir keine Zeit, uns an den Gedanken zu gewöhnen. Oeffnet sich die Thür, so glauben wir, daß der Entschlafene eintritt, wir hören seine Stimme, wir warten auf ihn, und immer wird die Wunde aufs neue aufgerissen.
Neben dem Wohnzimmer lag ein kleines Stübchen. Dort saßen wir bei heruntergelassenen Vorhängen im düsteren Zwielicht und sprachen von der teuren Entschlafenen.
Gegen Mittag hörte ich leise die Glocke ziehen. Das Mädchen öffnete die Thür, aber ich achtete nicht darauf. Einige Augenblicke später meldete das Mädchen, daß es Herr Fowler gewesen sei. Mein Vater fragte, ob er nichts hinterlassen habe.
»Aber er ist ja im Wohnzimmer,« sagte das Mädchen in ihrer ungeschickten Weise.
»O,« rief mein Vater aufspringend, »ich kann ihn nicht sehen; ich kann jetzt mit keinem Menschen sprechen. Sagtest du ihm nicht, daß die Frau –«, er brachte die Worte nicht heraus.
Das arme, dumme Ding machte große Augen und sah aus, als ob sie weinen wollte, gab aber keine Antwort.
»Bist du stark genug, mit ihm zu sprechen, Jessie?« sagte mein Vater, »Mard würde doch alles falsch bestellen, und es würde mir leid thun, wenn ich ihn verletzte.«
Ich hatte auch nicht den Mut, zu gehen. Wenn ich an die Phantasiegebilde dachte, die mich bis zwei Uhr morgens wachgehalten hatten, so erfüllte mich Scham und Schmerz über meine thörichten Gedanken. Aber ich sah des Vaters Unruhe und wußte, daß die Magd jede Bestellung falsch ausrichten würde, daher sagte ich: »Gut, Vater, ich werde gehen und ihm sagen, daß du heute nicht zu sprechen bist.«
»Und morgen auch nicht – nein, nicht vor der Beerdigung,« rief er unter erneutem, heftigem Schmerzensausbruch aus.
Ich ging ins Wohnzimmer, wo ich Herrn Fowler am Kamin mit seiner Mütze in der Hand stehen sah. Er sah verlegen aus, schien aber nichts von der Trauer in unserem Hause zu wissen. Trotz der verhangenen Fenster war das Zimmer nicht dunkel. Ich konnte ihn deutlich sehen, und obgleich meine Augen vom Weinen getrübt waren, so hatte mich der Gram doch nicht genug geblendet, um nicht zu bemerken, daß mein Vater recht hatte, wenn er ihn einen schmucken Seemann nannte. Er verbeugte sich und fragte nach Kapitän Snowdon.
»Sie können ihn nicht sprechen. Ein schweres Leid hat uns betroffen. Wir haben meine Mutter heute morgen tot im Bette gefunden.«
Ich glaubte stark genug zu sein, diese Worte ohne Weinen zu sagen, aber trotz harten Kampfes unterlag ich und weinte um so heftiger, je mehr ich die Thränen zurückzuhalten suchte.
»Hätte ich das geahnt, so wäre ich dem Mädchen nicht in dieses Zimmer gefolgt,« sagte er mit einer Stimme voll Mitleid und Teilnahme. »Sie sind Fräulein Snowdon?« – Ich bejahte die Frage. »Bitte, sagen Sie Ihrem Vater und glauben Sie es selbst, daß es mir herzlich leid thut, Ihnen in solchem Augenblicke lästig gefallen zu sein.«
»Wenn Sie wieder vorsprechen wollen – etwas später – nächste Woche,« sagte ich weinend, »so wird er sich freuen, Sie bei sich zu sehen.«
»Ja, und ich hoffe, daß Sie beide sich nicht zu tief vom Schmerz niederdrücken lassen,« rief er so freundlich und herzlich aus, daß ich ihn ansehen mußte. »Nur die Zeit vermag solche Wunden zu heilen.« Und mit einer Verbeugung ging er leise aus dem Zimmer.
So traurig ich war, ich mußte doch die Art seines Benehmens und Fortgehens bewundern. Unerwartet ein Sterbehaus zu betreten und ein Mädchen zu treffen, die vor Schluchzen kaum sprechen kann, war eine Lage, der selbst der Takt eines Mannes von feinster Lebensart kaum gewachsen war. Die herzlichsten Beileidsbezeugungen erscheinen wie eine Aufdringlichkeit. Ruhig fortzugehen ist das beste, was man thun kann. Wenn man schnell, aber nicht zu eilig fortgeht, sich bemüht, eine aufrichtige Teilnahme zu zeigen, so ist es der Beweis eines feinen Verständnisses und eines guten Herzens.
Meinem Vater sagte ich, daß ich Herrn Fowler gebeten habe, uns nächste Woche zu besuchen. Weiter wurde nicht über ihn gesprochen.
Am Tage der Beerdigung war mein Vater wunderbar gefaßt. Er trug sein starkes, religiöses Empfinden zwar nie zur Schau, aber seine Frömmigkeit ließ ihn in dieser schweren Zeit nicht im Stiche. Ich erfuhr zwar, daß er am Grabe beim Hinabsenken des Sarges zusammenbrach und daß die Freunde Mühe hatten, ihn später durch sanftes Zureden vom Kirchhof zu entfernen.
Aber auf dem Heimwege faßte mein Vater sich und küßte mich ruhig, als er nach Hause kam, als wolle er mir zeigen, daß er sich demütig dem Willen Gottes beuge.
Beim Leichenbegängnis meiner Mutter folgten nur Seeleute dem Sarge. Da war der alte Salmon, dann Kapitän Tarbit, der mehrere Reisen mit meinem Vater gemacht hatte. Im ganzen waren es sieben Seeleute, die zwei Trauerkutschen füllten. Ich hatte erwartet, daß Herr Fowler dabei sein würde, aber er konnte vielleicht seine Geschäfte in Süd-Shields nicht im Stich lassen.
Im Wohnzimmer versammelten sie sich, bis der Sarg auf den Leichenwagen gehoben wurde. Die herzliche Einfachheit ihres Mitgefühls für meinen Vater machte tiefen Eindruck auf mich. Sie machten nicht viel Worte und sprachen mit gedämpfter Stimme, obgleich einige der rauhen Seetöne nicht leicht zu mildern waren.
»Nein, nein,« sagte Salmon zu Kapitän Tarbit, »Sie können ihn nicht mit dem Schlepptau vergleichen, das, wenn's losgeworfen ist, einen auf das Meer hinaustreiben läßt. Der Tod ist ein Hafen und das Leben ist der Ozean, der uns hin- und herschleudert. Der Tod ist ein stilles Wasser mit gutem Grunde, wo man ruhig die Anker fallen lassen kann.« Dann sah er rings im Zimmer umher, als wolle er den Beifall für sein Gleichnis einheimsen.
Solche Bruchstücke der an jenem Tage unter unseren Freunden leise geführten Unterhaltung leben noch ebenso in meiner Erinnerung wie die feinfühligen Bemühungen dieser Leute, meinen Vater und mich zu trösten, obgleich sie sich selten oder nie an uns wandten, sondern uns im Gegenteil mit jener ehrfurchtsvollen Scheu behandelten, welche die Heiligkeit einer tiefen Trauer immer in kindlichen Gemütern hervorruft.