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Sechstes Kapitel.
Herrn Fowlers zweiter Besuch

Obgleich mein Vater seinen Verlust anfangs mit leidenschaftlichem Schmerze empfand, so faßte er sich doch schnell. Jeder konnte sehen, daß ein kostbarer Teil seines Lebens von ihm gegangen war; aber man hörte kein Jammern und Klagen. Er fügte sich dem göttlichen Willen, wie es einem braven Seemann zukam. Oft führte er einen Lieblingsausspruch seines Vaters an: »Wenn der Kapitän des Weltalls Befehle giebt, dürfen wir nie an ihrer Weisheit zweifeln, sondern müssen auf dieselben hören und sie freudigen Herzens ausführen, überzeugt, daß uns keine Arbeit zugemutet wird, die nicht zu unserem Besten ist.«

Obgleich Herr Fowler nach der Beerdigung bei uns vorsprach, sah ich ihn nicht. Er kam einmal, als ich oben war, hatte eine lange Unterredung mit dem Vater, ging dann wieder und war schon eine halbe Stunde fort, als ich hörte, er sei dagewesen.

»Wird er wiederkommen?« fragte ich.

»Nicht vor drei Monaten,« antwortete mein Vater. »Er segelt nächste Woche als erster Steuermann des ›African Chief‹.«

Ich war etwas betroffen, denn meine Eitelkeit verlangte nach einer früheren Gelegenheit, um den dummen Eindruck zu verwischen, den ich bei unserer Begegnung am Todestage meiner Mutter auf ihn gemacht hatte. Aber sonst dachte ich kaum noch an ihn, und da er auf drei Monate fortging, so war anzunehmen, daß er meinem Gedächtnis völlig entschwinden würde.

Nach dem Tode meiner Mutter verstrichen die Tage in öder Einförmigkeit; aber die Zeit war die beste Arznei für mich und jede Woche fühlte ich unseren Verlust mit weniger Schärfe. Ich gewöhnte mich an ihren leeren Sitz in der St. Nikolaskirche, die wir regelmäßig zum Gottesdienst besuchten, an ihre Abwesenheit in der Küche, wo wir jeden Morgen die Haushaltungsangelegenheiten des Tages besprachen, an ihren leeren Platz neben dem Kaminfeuer, wo ihr Armstuhl stand, als ob sie jeden Augenblick mit ihrem Strickzeug sich dort niedersetzen könnte.

Das Christfest folgte bald nach ihrem Tode und erschien uns um so düsterer, als das helle Glockenläuten und der Gedanke an die fröhlich versammelten Familien so glückliche Erinnerungen in uns wachrief.

Am Abend kam Kapitän Tarbit, seine Frau und ein Seemaschinist Finlay, ein biederer Schotte, der viel zu erzählen wußte und so ziemlich alle Seeunfälle, die es geben kann, erlebt hatte, von Shields herüber, um uns ein wenig aufzuheitern.

Hätte man uns vorher darüber gefragt, so würden wir wohl gesagt haben, daß wir lieber allein bleiben wollten, nun aber war es uns doch nicht unlieb, ein wenig herausgerissen und in das Tageslicht lebendiger Interessen gedrängt zu werden.

Frau Tarbit war aus Northumberland und sprach den reinsten Nordländer-Accent, den man sich denken kann.

Als Tarbit sich um sie bewarb, hielt sie ein Speisehaus für Seeleute in Nord-Shields. Aeußerlich war sie keine Göttin und der Kapitän hatte sie wohl nur ihres warmen Herzens wegen lieb gewonnen. In ihrer großen, gelb garnierten Haube, einem grünseidenen Kleide und einer losen Tuchjacke sah sie mit ihrem kleinen Bart von ein Achtel Zoll Länge wie ein verkleideter Scherenschleifer aus. Aber nie hat in eines Weibes Brust ein zartfühlenderes, menschenfreundlicheres Herz als das ihre geschlagen. Kein Seemann war in ihrer Pflege, der nicht sein Leben gewagt hätte, um ihr einen Dienst zu leisten. Keine schiffbrüchige, todesmatte Mannschaft wurde ans Land gebracht, ohne daß sie die erste war, die den Armen Geld beschaffte, ihnen Kleidungsstücke schickte und die, welche starben, mit allen Ehren auf eigene Kosten bestatten ließ.

Wenn sie zu uns von meiner Mutter sprach, so lag in ihren schlichten, treugemeinten Worten ein so herzlicher Ton warmer Teilnahme, daß ich ihr rauhes Gesicht hätte küssen mögen.

Solche Menschen sind göttliche Erläuterungen der menschlichen Natur. Sie sollen uns den Wert zeigen, den der Himmel auf die leibliche Schönheit legt. Denn weshalb sollte sich sonst zuweilen ein erhabener Charakter in einer Gestalt zeigen, die geeignet ist, jede Zuneigung im Keime zu ersticken?

Herr Finlay erzählte Wunderdinge, wie man sie in ›Tausend und eine Nacht‹ liest. Noch sehe ich ihn vor mir mit seinem dichten, schwarzen Haar, dem etwas zerzausten Vollbart, der den Ausdruck rauhen Mutes in seinem Gesicht noch verschärfte, während er seine wunderbaren Abenteuer von Schiffbruch, Gefangenschaft, von Todesqualen und Hunger im offenen Boote erzählte, während wir seinen Worten lauschten.

Draußen ließen die strahlenden Sterne am dunkeln Winterhimmel die schneebedeckte Straße hell erglänzen und der Nordost fachte das Feuer in dem großen Kamin wie ein Blasebalg an, so daß es laut knisterte.

Mein Vater sprach nie davon, wieder zur See zu gehen, so sehr ihm auch sein altes Leben fehlte. Er hatte oft Geschäfte in Shields, und obgleich er mich manchmal auf Spaziergängen mitnahm und auch oft Tage lang nur auf wenige Stunden ausging, so war er doch nicht so viel wie früher die Mutter mit mir zusammen.

Ich fühlte mich einsam und verlassen. Wir hatten wenig Bekannte in Newcastle, und ihre Zahl schmolz mit jedem Jahre mehr zusammen, da sie aus der Nachbarschaft fortzogen, weil die Männer Anstellung auf Schiffen fanden, die von anderen Häfen aus fuhren.

Die Schwermut, die mich nach der Mutter Tode ergriff, das Gefühl der Verlassenheit war durch Theetrinken und die Zerstreuungen, welche mein geselliger Kreis mir bieten konnte, nicht zu heilen. So sehr ich das traute Newcastle auch liebte, ich war seiner müde. Oft erfüllte die Sehnsucht nach einem freieren Leben mein Herz und ich dachte mir, wenn das Leben mir nie etwas Interessanteres bieten könnte als die altbekannten Straßen, so wäre es besser, ich ginge aus dem Leben wie meine Mutter und genösse den Frieden des Grabes.

Eines Tages im März, etwa ein halbes Jahr nach der Mutter Tode, war Vater schon früh nach Shields gegangen. Ich benützte diese Gelegenheit zu einem schon längst geplanten Besuch bei einer Freundin, bei der ich bis gegen sieben Uhr abends blieb.

Es war schon dunkel, als ich mich unserem Hause näherte. Im Wohnzimmer brannte Licht. Vater war also unterdessen nach Hause gekommen. Beim Eintreten strömte mir Tabakrauch entgegen, auch hörte ich Stimmen. Das öffnende Mädchen sagte mir, es wäre ein junger Herr da, aber sie wisse seinen Namen nicht. Ich dachte sofort an Herrn Fowler und hatte mich nicht getäuscht. Wir schüttelten uns die Hände, und nachdem ich meinen Vater begrüßt, setzte ich mich zu ihnen ans Feuer.

»Wo warst du, Jessie?« fragte mein Vater.

»Zum Thee bei Frau Barnett in Gateshead,« antwortete ich.

»Ach, bei deiner Mutter Freundin,« rief er bewegt aus. »Ich wollte, du gingest öfter aus. Es ist eine förmliche Arbeit, Herr Fowler, sie zu bewegen, über die Straße zu gehen, wenn ich nicht mitgehe. Aber ich kann sie doch nicht immer begleiten.«

»Sie sollten wirklich mehr ausgehen, Fräulein Snowdon,« sagte Herr Fowler. »Der Mensch wird nicht geboren, um nur für sich allein zu leben, und das gilt noch mehr für junge Mädchen als für Männer.«

»Ich möchte ja recht gern ausgehen,« sagte ich lachend, »wenn es hier nur etwas zu sehen gäbe. Aber ich habe mein ganzes Leben hier zugebracht und habe es satt, dieselben Läden, denselben Strom und dieselben Laternenpfähle anzusehen.«

»Das Fräulein hat recht, Kapitän,« sagte Herr Fowler und sah mich mit seinen strahlenden, dunkeln Augen an, »man kann einen Ort herzlich lieben und seiner doch zeitweise recht überdrüssig werden.«

In dem Ausdruck, mit dem er mich ansah, lag förmlich eine Aufforderung, mein Herz einmal gründlich auszuschütten.

»Sollte man nicht meinen,« sagte ich, indem ich mich an ihn wandte, »daß mein Vater mich verstehen müßte, der die Abwechslung und das Reisen so sehr liebte, daß erst ein schwerer Sturm kommen und ihn beinahe schiffbrüchig machen mußte, um ihn von dieser Leidenschaft zu heilen? Er müßte doch meine Ungeduld nachempfinden können, daß ich immerfort dieselben Dinge sehen muß, die ich seit zwanzig Jahren gesehen habe.«

»Das ist brav,« sagte lächelnd der Vater, »sie verrät ihr Alter wie ein ehrliches Mädchen. Aber habe ich dich nicht schon auf drei Reisen mitgenommen?«

»Welche Länder möchten Sie denn gern sehen?« fragte Herr Fowler.

»Gar keine Länder, Fowler,« antwortete der Vater, »sie will zur See gehen. Sie war noch ein ganz kleines Ding, da wollte sie schon Matrosenkleider anziehen.«

»Haben Sie die Seeleute gern?« fragte Herr Fowler.

»Ja,« erwiderte ich, »ich habe alle Seeleute und die See immer gern gehabt.«

Mein Vater stopfte sich langsam seine Pfeife und fuhr fort: »Aber ist es nicht hart, Fowler, daß sie sagt, ich alter Mann hätte kein Verständnis für ihre Sehnsucht?«

»Fräulein Snowdon findet Newcastle langweilig, sie wünscht Abwechslung. Darin ist doch nichts Unvernünftiges, Kapitän,« sagte Fowler.

»Das sage ich auch nicht,« versicherte mein Vater, »aber welche Abwechslung kann ich dir bieten? Allein kannst du nicht reisen, Jessie, und einen gebrechlichen alten Mann wie mich möchtest du doch nicht mit dir herumschleppen?«

»Sprechen wir von etwas anderem,« sagte ich. »Herr Fowler, ich hoffe, Sie bleiben zum Abendessen bei uns –?«

»Gewiß, Jessie,« unterbrach mich der Vater, »was kannst du uns vorsetzen?«

Ich sagte, ich wollte nachsehen, und ging in die Küche, war aber so in Gedanken versunken, daß ich alles ganz mechanisch that. Was mochte ich mit meinem Geständnis wohl angerichtet haben? Ich kannte noch keinen Mann, der mir besser gefiel als Herr Fowler. Er sah wie ein echter Seemann aus, hatte schöne, dunkle Augen, eine wettergebräunte Haut, eine hübsche Nase, blendend weiße Zähne und einen ebenmäßigen Wuchs. In seiner Stimme, seinem Lächeln, seinen Bewegungen lag ein besonderer Reiz. Der edle Kern seines Wesens – das Erbe seiner Eltern – hatte die harte, an Versuchungen reiche Lehrzeit im Volkslogis und in der Kajüte gut überstanden und verlieh seinem Wesen eine ganz unbewußte Anmut, die eine gewisse Salzwasserfrische besaß, wie man sie nur bei Seefahrern findet, die zugleich wohlerzogene Herren sind.

Ich beeilte mich in der Küche, um ins Wohnzimmer zurückkehren zu können.

»Ah, da kommt sie,« – empfing mich der Vater, »mit roten Ohren ohne Zweifel. Thu' nur nicht, als ob du nicht wüßtest, daß wir von dir gesprochen haben, Jessie. Fowler ist auf deiner Seite und hat mich nach allen Regeln der Kunst herunter gemacht, daß ich dich so viel dir selbst überlasse.«

»Aber warum dreht sich die ganze Unterhaltung nur um mich,« sagte ich lachend. »Wovon sprachen Sie mit meinem Vater, Herr Fowler, als ich herein kam!«

»Ei, von Frachten, Registern, Zollverhältnissen, Seemannsheuern und andern romantischen Einzelheiten des Berufes, den Sie so sehr lieben, Fräulein Snowdon,« erwiderte er.

»Jetzt ist Herr Fowler Kapitän, ich habe ihm ein Schiff besorgt,« erzählte mein Vater, »jetzt ist er Herrscher zur See; die Luvseite des Quarterdecks gehört ihm ganz allein; er hat keine Wache zu beziehn und kann kommen und gehen, wie ihm gut dünkt.«

»Ich gratuliere, Herr – Verzeihung – Kapitän Fowler,« sagte ich mit leichter Verbeugung. »Wann segeln Sie?«

»Ich kann noch vier bis fünf Wochen an Land bleiben,« antwortete er. »Aber warum nennen Sie mich Kapitän? Das ist ein militärischer Titel. Wir Kauffahrer heißen ›Schiffer‹.«

»Ich kann Sie doch nicht Schiffer nennen,« sagte ich lachend.

»Nein,« rief mein Vater, »leider nicht. Wir Schiffsführer werden nun einmal Kapitän genannt. Ich, für meine Person, habe es stets vermieden, mich so zu nennen. Ich bin auf meinen Beruf genau so stolz, wie die Herren Marine-Offiziere auf den ihrigen und möchte auch nicht den Anschein erwecken, als wünschte ich, mit ihnen verwechselt zu werden.«

Ich will mich nicht länger bei diesem Abend aufhalten, obgleich ich mich seiner freudig und deutlich erinnere; denn er bildete für mich die Schwelle zum Eingang in ein ganz neues Leben.

Ueber meine Schwermut wurde nicht mehr gesprochen; ich hörte überhaupt mehr zu, als ich sprach. Es war ein kalter, rauher Abend, ich saß neben meinem Vater am Feuer, Herr Fowler, uns gegenüber, erzählte von seinem Seeleben und von seinen Eltern. Er sprach mit so mannhafter Zärtlichkeit von den heimgegangenen Lieben, daß man ihn von Herzen lieb gewann. Ich lauschte seinen Worten und wünschte, dieser Abend möge nie enden.

Mein Vater beschränkte sich ebenfalls auf das Zuhören, was mir fast auffallend erschien, da es sonst nicht seine Art war. Herr Fowler bemühte sich wiederholt, ihn in die Unterhaltung zu ziehen, aber es gelang ihm nicht. Er war so zerstreut, daß es mir wohl noch mehr aufgefallen wäre, wenn ich nicht so sehr beschäftigt gewesen wäre, in Herrn Fowlers hübsche Augen zu blicken.

Als unser Gast sich um elf Uhr erhob, schüttelte mein Vater ihm zum Abschied die Hand und sagte: »Nun, Fowler, kennen Sie hoffentlich den Weg zu uns. Wir haben's nötig, daß man uns aufheitert und Sie sind der Mann, der das versteht. Sie bleiben doch noch einige Zeit an Land und thun ein gutes Werk, wenn sie einem alten Manne Gesellschaft leisten, der sich um so einsamer fühlen muß, da sein Mädel sich überall herumtreibt.«

»Nur in Gedanken, Vater,« sagte ich lachend.

Herr Fowler dankte herzlich für die Einladung. »Ich nehme Sie beim Wort und werde sehr oft kommen,« sagte er, indem er mich dabei ansah, – vielleicht, um sich zu überzeugen, wie ich diese Absicht aufnähme.

Ich schwieg und glaube, daß er in meinem Gefühl keine Veranlassung zum Fernbleiben finden konnte. Dann reichte er mir die Hand und verließ das Haus. Mein Vater trat ans Feuer und folgte mir aufmerksam mit den Augen, als ich den Tisch abdeckte.

»Also, Jessie,« sagte er ein wenig traurig, »du findest unser Leben langweilig? Nun, ich glaub's.«

»Ich kam niedergeschlagen nach Hause,« antwortete ich, »und sagte mehr, als ich wollte. Ich fühle mich nur einsam, wenn du fort bist; denn das Haus ist so düster ohne die Mutter.«

»Ich muß mich aufraffen,« sagte er, »und Freunde zu uns einladen. Viele würden gern kommen – meistens Seeleute; die hast du doch gern, Jessie?«

Ich lächelte.

»Wie denkst du über Fowler?« fragte er, gleichfalls lächelnd.

»Er ist ein schmucker Bursche, Vater,« sagte ich, »ein schneidiger Seemann.«

Unwillkürlich sprach ich mit einem Anhauch von Wärme und der Ausdruck in meines Vaters Gesicht zeigte mir, daß dieser warme Ton Eindruck auf ihn gemacht hatte.

»Ich sagte dir ja, daß er ein netter Mensch ist. Ich glaube, der bringt es noch einmal weit. Der würde dir schon die Schwermut austreiben, Jessie, was meinst du?«

Es wurde mir schwer, eine Antwort darauf zu geben, und so fuhr mein Vater fort, mir von seinem jungen Freunde zu erzählen und in zarter Weise anzudeuten, daß derselbe an mir Gefallen fände.


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