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Das weggelaufene Haus

Es war Nacht, tiefe, dunkle Nacht, denn der Mond war noch nicht aufgegangen; und in der tiefen, dunkeln Nacht lag eine Stadt, die schlief. In den Straßen wachte der Nachtwächter, und wenn auf dem Kirchturm die Uhr schlug, lief er in der Stadt umher und tutete und sang, und dann wußte der Dieb immer, wo er hingehen durfte. Da ging er in ein Haus, darin schliefen all die Leute, von denen wir uns etwas erzählen wollen: Kora die Puppe, Nora das Baby, Dora die Magd, Lora der Papagei, Hopp der Hund, Bob der Junge und Vater und Mutter. Der Dieb machte also die Tür auf; weil sie aber verschlossen war, brauchte er ein Brecheisen, das konnte sprechen und sagte ganz laut: »Knack!«

Das hörte weder Kora noch Nora, weder Dora noch Lora, auch Bob und Vater und Mutter hörten es nicht, nur Hopp der Hund wachte auf und rief: »Wau, wau!« Als der Dieb das hörte, erschrak er so, daß er das Brecheisen fallen ließ, und dann lief er weg. Die Tür ließ er offen, und der Hund schlief wieder ein. Aber weil die Tür nun offen war, zog es, und da wachte Kora die Puppe auf; die konnte das nicht vertragen, denn die stammte aus einem vornehmen Hause. Da dachte sie: »Wenn es nun doch einmal zieht, will ich lieber spazierengehen. Draußen kommt eben der Mond herauf, und da geh' ich durch Busch und Dorn zum Zauberborn und gucke ins Wasser, woher all die schönen Träume kommen.« Und wie sie dachte, tat sie – wille stille, wachte sachte! – munter die Treppe 'runter, 'raus aus dem Haus.

Auf der Straße begegnete sie dem Nachtwächter, der fragte: »Kleines, wo willst du denn hin?«

»Nach dem Zauberborn.«

»Das ist verboten.«

Aber Kora kehrte sich nicht daran; sie lief dem Nachtwächter zwischen den Beinen durch, 'raus aus der Stadt, durch Busch und Dorn nach dem Zauberborn.

Nun war Kora aber nicht leise genug aus dem Puppenwagen geklettert, und Nora das Baby hatte es gehört und dachte: »Tür auf? Kora weg? Nora nach!« Raus aus dem Bett, 'raus aus dem Haus; aber o weh! nun wußte sie nicht, wo Kora geblieben war.

Da fragte sie den Nachtwächter: »Wo ist liebe Kora?« Und der Nachtwächter sagte:

»Die liebe Kora?
Raus aus dem Haus,
Zur Stadt hinaus.
Durch Busch und Dorn
Zum Zauberborn.

Aber das ist verboten.«

»O Gott,« sagte Nora, »da fällt sie 'rein. Nach!« Und als der Nachtwächter sie halten wollte, wischte sie ihm unter dem linken Arm durch.

Als Nora die Treppe hinuntergestolpert war, wachte Dora die Magd auf, die mußte das Baby eigentlich hüten. Sie fing an zu suchen: »Kora weg, Nora weg? Dora nach!« Munter die Treppe 'runter, 'raus aus dem Haus, und draußen traf sie den Nachtwächter.

»Lieber Nachtwächter, wo ist die kleine Nora?« –

»Die kleine Nora?
Hinter der Kora,
Raus aus dem Haus,
Zur Stadt hinaus.
Durch Busch und Dorn
Zum Zauberborn.

Aber das ist verboten.«

»Macht nichts!« rief Dora, und als der Nachtwächter seine Arme ausbreitete, trat sie ihm auf den linken Fuß, und da mußte er sie vorbeilassen.

Als Dora zum Haus hinausgegangen war, wachte Lora der Papagei auf, der ward immer von ihr gefüttert; aber als er nun kein Futter bekam, fing er an zu suchen: »Kora weg, Nora weg, Dora weg? Lora nach!« breitete seine Flügel aus, brr! und flog auf die Straße, dem Nachtwächter gerade vor die Nase.

»He!« sagte da der Nachtwächter.

»Je!« sagte der Papagei, »bist du das, Nachtwächter? Sag mir mal, wo ist die gute Dora?« –

»Die gute Dora?
Die ruft Nora,
Die sucht Kora,
Raus aus dem Haus,
Zur Stadt hinaus.
Durch Busch und Dorn
Zum Zauberborn.

Aber das ist verboten.«

»Haha!« lachte der Papagei, und als der Nachtwächter Arme und Beine ausbreitete, flog er ihm über den Kopf weg.

Als der Papagei aus dem Haus hinausgeflogen war, hatte er mit dem einen Flügel Hopp den Hund ans Ohr geschlagen; davon wachte er auf, guckte umher und schüttelte den Kopf: »Kora weg, Nora weg, Dora weg, Lora weg? Hopp nach!« Und draußen auf der Straße traf er den Nachtwächter.

»Wau, wau ist die dumme Lora?« –

»Die dumme Lora?
Die schreit Dora,
Die ruft Nora,
Die sucht Kora,
Raus aus dem Haus,
Zur Stadt hinaus.
Durch Busch und Dorn
Zum Zauberborn.

Aber das ist verboten.«

Und weil der Nachtwächter nun schon ganz grimmig geworden war, hielt er Hopp dem Hunde den Spieß entgegen; aber der huppte darüber weg, biß den Nachtwächter ins Bein und lief ihm unter dem rechten Arm durch.

Als Hopp der Hund auf der Straße wau wau! sagte, wachte Bob der Junge auf und rief verwundert: »Kora weg, Nora weg, Dora weg, Lora weg, Hopp weg? Bob nach!« Raus aus dem Haus auf die Straße.

»Nachtwächter, wo ist Hopp?«

»Das Vieh hat mich gebissen,« sagte der Nachtwächter und rieb sich das Bein, »und dann ist er hinter all den andern hergelaufen.

Hopp hinter Lora,
Die schreit Dora,
Die ruft Nora,
Die sucht Kora,
Raus aus dem Haus,
Zur Stadt hinaus.
Durch Busch und Dorn
Zum Zauberborn.

Aber das ist verboten.«

Bob wollte aber durch, und als der Nachtwächter ihn festhielt, trat er ihn auf den rechten Fuß, und so mußte er ihn loslassen.

Als Bob holterdipolter die Treppe hinunterlief, war der Vater aufgewacht. »Na, was ist das?« sagte er, »Kora weg, Nora weg, Dora weg, Lora weg, Hopp fort, Bob fort! Vater nach!« Munter die Treppe hinunter auf die Straße.

»He, Nachtwächter, wo ist Bob?« –

»Bob hinter Hopp,
Hopp hinter Lora,
Die schreit Dora,
Die ruft Nora,
Die sucht Kora,
Raus aus dem Haus,
Zur Stadt hinaus.
Durch Busch und Dorn
Zum Zauberborn.

Aber das ist verboten, und weil du die Leute in deinem Hause nicht besser in der Gewalt hast, muß ich dich jetzt gefangennehmen.«

»Esel,« sagte der Vater, und zu gleicher Zeit gab er ihm einen Stoß vor den Bauch, daß er auf den Rücken fiel, und weil der Nachtwächter von all dem Singen und Sagen ganz schläfrig geworden war, blieb er einfach liegen und schlief.

Nun war niemand mehr im Hause als die Mutter, die war sehr müde. Sie hatte am Abend vorher noch lange gesessen; denn Bob hatte seine Hose zerrissen, und die mußte sie flicken. Aber jetzt wachte sie auch auf. »Wie, ganz allein? Kora weg, Nora weg, Dora weg, Lora weg, Hopp fort, Bob fort? Vater, wo bist du?« Und als der Vater keine Antwort gab, die weiße Nachtmütze fest zugebunden und nach! Und das Haus blieb ganz allein, und das war schlimm.

Niemand konnte der Mutter sagen, wo die andern hingelaufen waren, denn der Nachtwächter lag auf der Straße und schlief; er schlief und schnarchte, daß alle Ratten, die unterwegs waren, weit aus dem Wege liefen. Also ist die liebe Mutter gar nicht hingefunden? O doch, eine gute Mutter weiß ohne weiteres den richtigen Weg, und so lief sie 'raus aus der Stadt, durch Busch und Dorn nach dem Zauberborn, und da standen sie alle herum: Kora und Nora, Dora und Lora, Hopp und Bob und auch der große, große Vater, und alle guckten über den Rand ins Wasser und träumten.

Was tat da die gute Mutter? Guckte sie auch hinein? Sie wollte sich schön hüten! Dreimal klatschte sie in die Hände, dreimal ganz leicht, und da wachten alle auf, guckten sich ganz verwundert um, und dann brachte die Mutter sie alle wieder nach Hause.

Aber als sie da ankamen, ja, wo war das Haus? Das Haus war nicht mehr da. Hatte der Dieb es gestohlen? O nein, als das Haus merkte, daß es ganz allein war, fürchtete es sich, und dann war es auch weggelaufen – wille stille, wachte sachte – weggelaufen aus der Stadt.

»Das ist eine schöne Geschichte!« sagte der Vater; aber da lag noch immer der Nachtwächter und schlief und schnarchte, und der Vater stieß ihn mit dem Fuße an und fragte: »He, Nachtwächter, wo ist unser Haus? Unser Haus ist weggelaufen.«

Der Nachtwächter stand auf und rieb sich die Augen, und als er sah, wen er vor sich hatte, gab er zur Antwort: »Wo dein Haus ist? Raus aus der Welt ist dein Haus!«

»Warum hast du nicht besser aufgepaßt?«

»Ja, warum hast du mich auf die Straße geworfen!«

Da hatte er wirklich recht, und dem Vater blieb nun weiter nichts übrig, wenn sie nicht alle auf der Straße bleiben wollten, so mußte er ein neues Haus kaufen. – Und so kann man aus dieser Geschichte sehen, daß man immer gehorchen muß, wenn der Nachtwächter sagt, daß etwas verboten ist.

*

 


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